Sonntag, 12. Mai 2024

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Schönhauser Allee

Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Das zerklüftete Gesicht eines wettergegerbten Bauarbeiters kann attraktiver sein als das makellose Antlitz eines Fernsehmoderators. In schönen Städten lebt es sich meistens ziemlich furchtbar; man gehört gewissermaßen zum denkmalgeschützten Mobiliar dazu und muss freundlich in jede Touristenkamera lächeln. Mittelalterliche Stadtviertel sind die schlimmsten, während Wohnen im jungfräulich ruinösen Mauerwerk - Alter achtzig bis hundert Jahre - durchaus Spaß machen kann. Durch undichte Fenster pfeift der Wind, im Bad schimmelt es, aus der Dusche rinnt rostbraunes Wasser, im Winter schmeckt die Atemluft nach Ofenasche, aber die Zimmerdecken sind vier Meter hoch, und die Nachbarschaft ersetzt jeden Kinobesuch. Im Osten Berlins gibt es diese Areale überreichlich, und einst war die Schönhauser Allee, die vom Alexanderplatz hinaus ins villenreiche Pankow führt, eine prächtige Magistrale. Auf eisernen Stelzen fährt die Hochbahn durch die Wohnzimmer, und Hamburger Gäste fühlen sich an ihren noblen Stadtteil Eppendorf erinnert. Von dessen Prosperität fehlt freilich jede Spur.

Florian Felix Weyh | 18.02.2002
    Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung ist die einstmals wichtige Einkaufsstraße für DDR-Bürger verödet, selbst Läden wie "Rudis Resterampe" sind für die hier lebende Klientel zu teuer. Unterhalb des Ramschladens, der seinerseits eine Marke darstellt, scheint noch viel Luft für No-Name-Ramschläden. Für Bessergestellte gibt es dagegen die "Schönhauser Arkaden", eines jener grauenvoll gesichtslosen Einkaufszentren, wie sie zu Hunderten den Osten Deutschlands überziehen. All das zusammengenommen ist schön - sagt Wladimir Kaminer, russisch-deutscher Autor mit verliebtem Blick auf sein Gastland. Gemessen an den russischen Vorstadtverhältnissen, unter denen er aufwuchs, gelten Einwände verwöhnter Westler gegen die - gelinde gesagt - tendenzielle Verwahrlosung der nun zu literarischen Ehren gekommenen Schönhauser Allee als purer Luxus. Warum klagen über Hundedreck und Abfallberge, über Elendsgestalten und grölende Betrunkene, wenn man doch nur ein paar Schritte in die Arkaden hinein zu setzen braucht, um - ja wirklich - im Paradies angekommen zu sein?

    Schön an der Schönhauser Allee ist das, was Wladimir Kaminer über sie schreibt. Herrliche Miniaturen, selten mehr als zwei, drei Seiten lang, über den verzweifelten Lebensmut vietnamesischer Großfamilien und den Maler, dem selbst die Verbildlichung des Internets als Wandschmuck für einen Schnellimbiß gelingt. Da ist Kaminers Tante, die kein Wort Deutsch kann und den Fernsehmonteur mit einem Kardiologen verwechselt, der - sehr russische Idee! - angeblich mit einem transportablen EKG unterwegs sei. Des Autors Freundeskreis bewegt sich an der Grenze zum Panoptikum, und wehe, Kaminer entdeckt jemanden mit pittoresken Zügen auf der Straße. Er kann ganz sicher sein, im nächsten Buch Erwähnung zu finden. Das Ganze ist hochkomisch, unterhaltsam und von liebevoller Hinwendung zu den Benachteiligten dieser Welt geprägt. Es hat nur einen Makel: Man darf es nicht mit der Wirklichkeit verwechseln, obschon Markennamen, Örtlichkeiten und vermutlich auch Personen der realen Welt entlehnt sind. Kaminers "Schönhauser Allee" ist die Hommage an ein Soziotop, das sich in der Literatur anheimelnd warm und menschlich ausnimmt, in der Realität aber von Resignation geprägt sein dürfte. Wer wählen kann, zieht die Lektüre dem Leben vor und passiert die Schönhauser Allee in der U-2 vom Bahnhof Zoo nach Pankow hinter schützendem Fensterglas.