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Schönheit aus Beton

Kein Backstein, kein normannisches Fachwerk und keine Giebeldächer, stattdessen Beton, wohin man schaut. Das nach dem Krieg wiederaufgebaute Le Havre war für viele gewöhnungsbedürftig. Doch mit den Jahren kam auch der Stolz auf die "neue Stadt" mit der außergewöhnlichen Architektur zurück.

Von Bettina Kaps | 01.08.2010
    Jacqueline gähnt beim Sprechen. Die 60-jährige Kneipenbesitzerin steht übernächtigt hinter dem Tresen. Aki Kaurismäki hat ihr den Schlaf geraubt. Der finnische Filmemacher hat bis in den frühen Morgen in ihrer Bar gedreht. Jacqueline durfte mitspielen und Kaffee servieren. Sechsmal wurde die Szene wiederholt.

    "Ich dachte, die würden drei Stunden filmen, aber sie haben die ganze Kneipe ausgeräumt, alle Tische und Stühle, sämtliche Gläser. Der Titel des Films lautet "Le Havre", und die Geschichte spielt in den 60er-Jahren ."

    Damals lag hier im Quartier de l´Eure noch der Hafen und das Viertel kam nicht zur Ruhe. Eine schöne Zeit, sagt Jacqueline. Das Wasserbecken vor der Kneipe glänzt jetzt still in der Sonne.

    "Früher reihte sich ein Restaurant an das andere, weil hier die Docker angeheuert wurden. Das ist vorbei, heute bin ich die Einzige, die die Stellung hält ."

    Der Hafen wurde verlegt und das Viertel steckt mitten im Umbau: in die ehemaligen Lagerhallen ist ein riesiges Einkaufszentrum eingezogen, rund um die Hafenbecken entstehen Gärten, an einem neuen Wohnviertel und einer Containersiedlung für Studenten wird noch gebaut.

    Einen Magneten gibt es hier schon jetzt: Das neue Schwimmbad, Les Bains des Docks, Jean Nouvel hat es entworfen, Frankreichs Stararchitekt. Von außen ist es nur ein grauer, metallisch glänzender Kasten. Aber innen empfängt den Besucher strahlendes Weiß: Wände und Boden sind mit Millionen von weißen Mosaiksteinchen ausgekleidet. Durch Schneisen in der Decke fällt Tageslicht ein. Zwischen Becken, in denen es sprudelt und blubbert, zieht ein Regenvorhang luftige Trennlinien.
    Knallig bunt ist die Planschecke für Kinder: grellrote, gelbe und grüne Plastikkissen polstern Becken, Wände und die Decke aus. Außer der poppigen Spielhöhle ist das Schwimmbad ein Universum in Weiß, in dem es nur eine Farbe gibt: das Wasser schimmert bläulich. Die Besucher, sagt der Direktor des Schwimmbads, Laurent Couvert, irren sich oft:

    "Viele Leute glauben, der Beckenboden sei blau, dabei sind die Mosaiksteine auch unter Wasser ganz weiß. Es ist allein die Wassertiefe, die diesen hellblauen, lagunenfarbigen Ton erzeugt."

    Der Prestigebau hat die Stadt 22 Millionen Euro gekostet. Umso mehr überrascht, dass die Mosaiksteine an allen Ecken und Enden abplatzen. Ein Bauskandal! Aber die Mängel sollen bald repariert werden, versichert der Direktor.

    "Von außen wirkt das Gebäude imposant, aber es ist kein geschlossener Raum, kein Bunker. Viele Besucher sind überrascht, wenn sie innen die vielen Fenster entdecken, lauter Verbindungen zur Stadt."

    Zur Badeanstalt gehört ein ebenfalls weiß gekacheltes Freibad mit 50-Meter-Bahn. Bei Sonne fühlt man sich hier wie in Griechenland. Wer auf dem Rücken schwimmt, sieht den Himmel durch die hohen Außenwände und ihre Luken gleich mehrfach eingerahmt wie ein wertvolles Bild.

    Der Himmel über Le Havre ist tatsächlich berühmt. Claude Monet malte 1872 ein Bild vom Hafen, auf dem der Himmel wie in Flammen erscheint. Er nannte es "Impressionen. Sonnenaufgang" – und von da an hieß diese Art von Malerei Impressionismus. Eugène Boudin, ein Vorläufer der Impressionisten, der in Le Havre lebte, hielt hier das Wechselspiel der Wolken in vielen Gemälden fest. Auch Raoul Dufy malte Hafen und Strand der Stadt.

    Die Werke der berühmten Künstler sind im Musée Malraux zu sehen, einem eleganten Gebäude aus Glas und Metall mit Blick auf die Hafeneinfahrt. Bei seiner Eröffnung im Jahr 1961 war es das modernste Museum in Europa, sagt der Konservator Jean-Pierre Mélot.

    "Die Architekten haben eine gigantische Schachtel aus Licht geschaffen. Sie wollten eine Verbindung herstellen zwischen den Kunstwerken und der Außenwelt von Le Havre. Unser Museum besitzt die größte impressionistische Sammlung außerhalb von Paris. Viele der Gemälde sind hier in der Umgebung entstanden."

    Le Havre hat sich immer für zeitgenössische Kunst interessiert. Schon vor hundert Jahren kaufte das städtische Museum Impressionisten, als deren Bilder kaum getrocknet waren. Heute vergibt es Aufträge an Künstler. Auf diese Weise sind Fotos und Videos entstanden, die jetzt neben den Klassikern zu sehen sind: riesige Aufnahmen der Innenstadt. Das Museum verfolgt damit einen Zweck, der über die eigentliche Fotoarbeit hinausgeht, sagt die Museumsleiterin Annette Haudiquet.

    "Thema ist die neu aufgebaute Stadt von Auguste Perret. Im Mittelpunkt steht also das, was uns noch immer als offene Wunde erscheint. Um dieses Trauma zu überwinden, müssen wir es betrachten. Der Blick der Künstler kann uns dabei helfen."

    Die Wunde der Stadt: Marguerite-Marie Delahalle weiß, wovon die Rede ist. Die grauhaarige Frau kommt häufig ins Museum. Jetzt betrachtet sie eine Videoarbeit, die in einer Nachkriegswohnung aufgenommen wurde.

    "Ich bin 1941 geboren, daher habe ich noch Kindheitserinnerungen an eine Stadt aus rotem Backstein. Nach dem Krieg lag Le Havre in Schutt und Asche. Meine Eltern wohnten in einem Vorort. Weil alles am Boden lag, konnten wir von dort aus plötzlich das Meer sehen. Dann kam der Wiederaufbau ... Und jetzt enthüllen mir diese Fotos einen ganz neuen Blick auf die Stadt."

    Die britische Luftwaffe zerbombte Le Havre am 5. und 6. September 1944; die Verbündeten wollten die Wehrmacht vertreiben. 5000 Einwohner starben, 80.000 wurden obdachlos. Unmittelbar nach dem Krieg beauftragte die französische Regierung den bekannten Architekten Auguste Perret, die Stadt wieder aufzubauen. Der damals 70-Jährige, ein Lehrmeister von Le Corbusier, war als Modernisierer und Pionier des Stahlbetons bekannt. Rekonstruktion nach altem Muster - das war mit ihm nicht zu machen.

    Stattdessen machte er sich daran, in Le Havre die Utopie einer "neuen Stadt" zu verwirklichen: Würdige Lebensbedingungen für eine klassenlose Gesellschaft, mit viel Licht und Luft in breiten Straßen und komfortablen Wohnungen. Mit einem Team von 60 Architekten baute Perret Rathaus, Schulen, Kirchen, Hafenanlagen und Wohnungen für 60.000 Menschen. Jetzt gab es keinen Backstein mehr, kein normannisches Fachwerk und keine schiefergedeckten Giebeldächer, stattdessen wuchs überall Beton, und die neuen Dächer waren flach. Die meisten Bewohner empfanden wie die Familie Delahalle.

    "Meine Eltern haben bei mir das Gefühl eines Verlustes genährt. Sie fanden den Wiederaufbau schrecklich. Diese neue Stadt, das war nicht mehr ihr Le Havre. In dieser Atmosphäre bin ich aufgewachsen. Es hat lange gedauert, bis ich mit meiner Stadt im Einklang war. Aber jetzt fühle ich mich hier sehr wohl. Vor allem, wenn ich Le Havre mit anderen Städten vergleiche. Wir haben hier so viel Platz."

    Wenige Schritte vom Museum entfernt führt die von Kolonnaden gesäumte Rue de Paris in die Innenstadt. Schon von Weitem ist auf einem riesigen Platz das neoklassizistische Rathaus zu sehen: ein lang gezogener grauer Bau mit schlanken Säulen zwischen den großen Fenstern. Rund um den Platz stehen vierstöckige Häuserblöcke mit rhythmisch gegliederten Fassaden. Die Betonplatten sind nicht verputzt, die Skelettbauweise der Gebäude ist sichtbar. Der strenge, rechtwinklige Stil erinnert ein wenig an die Ostberliner Karl-Marx-Allee. Durch die breiten Straßen pfeift der Meereswind.

    In einem Hauseingang steht der Lokalhistoriker Pierre Jencey und streicht sanft über die Wand: die Steinplatten schimmern rosa.

    "Das ist schlichter Beton. In den 50er-Jahren haben die Architekten überlegt, wie man ein derart gewöhnliches Material verschönern kann. Sie haben gelben Sand untergemischt oder wie hier Backstein, so entstehen die leichten Pastelltöne. Außerdem haben sie ihn mit dem Stockhammer bearbeitet, damit eine körnige Oberfläche entsteht, in der sich das Licht bricht. Sie haben den Stahlbeton so sorgsam behandelt wie edelsten Marmor."

    Im Gegensatz zu vielen grauen Betonsiedlungen der Pariser Vorstädte bröckeln die pastellfarbenen Mauern in Le Havre nicht. Jencey führt eine kleine Gruppe von Touristen in eine Musterwohnung aus den 50er-Jahren: Die Räume sind groß und hell, die Fenster reichen bis zum Boden, dieser ist mit Eichenparkett ausgelegt. Eine Säule dient als tragende Struktur. Somit können alle Innenwände versetzt oder herausgenommen werden. Perret wollte den Bewohnern möglichst viel Gestaltungsfreiheit geben.

    Aus einem Fenster ist die Kirche Saint-Joseph zu sehen: Der achteckige Turm ragt 107 Meter in die Höhe, die Spitze verjüngt sich, gleicht einer Rakete, die in den Himmel schießt. Die Kirche ist das Wahrzeichen der Stadt, nachts wird sie beleuchtet, dann ist sie, wie ein Leuchtturm, auch für die Schiffe im Meer zu sehen.

    Der Urbanist Dominique Dhervillez stammt aus Lyon, er hat lange in Paris gelebt, aber Le Havre gefällt ihm inzwischen so gut, dass er sich jetzt hier ein Haus gekauft hat. Dhervillez ist die rechte Hand des Bürgermeisters, er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Le Havre vor fünf Jahren zum Weltkulturerbe ernannt wurde.

    "Ich betrachte unablässig die Kirche Saint-Joseph, das Rathaus, und die anderen Gebäude, auch die einfacheren Bauten, und je länger ich hinschaue, umso mehr entdecke ich die außerordentliche Qualität. Ich bin überzeugt: In 10 oder 20 Jahren werden die Besucher von weither anreisen, um diese ausgefeilte Architektur zu sehen, die so hervorragend altert. Man muss den Dingen einfach Zeit lassen."

    Ein ungewöhnlicher Gebäudekomplex trägt eine andere Handschrift: auf einem abgesenkten Platz erheben sich zwei weiß glänzende Kegel: sie erinnern an den Schornstein eines Dampfers. Oder aber an einen Vulkan – so jedenfalls hat der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer seinen Bau genannt. Es die einzige rundliche Form in einer sonst geradlinigen Umgebung. Im Vulkan sind Säle für Tanz und Theater untergebracht, außerdem ein Konzertsaal für aktuelle Musik. An diesem Abend wird Rock gespielt. Auch dieses Gebäude gehört zum Weltkulturerbe. Die Anerkennung durch die UNESCO hat das Lebensgefühl der Menschen verändert, sagt Dominique Dhervillez.

    "Das war ein Einschnitt. Vorher mochten die Einwohner ihre Stadt nicht, sie erkannten ihre Schönheit nicht. Das ändert sich jetzt. Außerdem entwickeln sie jetzt Ehrgeiz."

    Ehrgeizig sind vor allem Dhervillez und der Bürgermeister: Sie wollen Frankreichs Staatspräsidenten beim Wort nehmen, der sich letztes Jahr begeistert für die Ausdehnung des Großraums Paris an der Seine entlang bis in die knapp 200 Kilometer weit entfernte Hafenstadt ausgesprochen hat. Sie wollen jetzt erreichen, dass Le Havre auch wirklich ans Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen wird und sich der Hafen zu einer internationalen Handelsplattform mausert, die mit Hamburg und Rotterdam mithalten kann.

    Rund um den Vulkan liegen Kneipen und Restaurants. Die Bar "L ´Eau tarie" ist Treffpunkt der jungen Leute. Dort steht Christophe mit seinen Freunden. Der 29-Jährige hat in Paris und Nantes gelebt. Aber dann hat es ihn in seine Heimatstadt zurückgezogen, wo er jetzt in einer Firma für Schiffshandel arbeitet. Er will das Lebensgefühl der Stadt nicht missen.

    "Klar sind wir stolz auf unsere Stadt! Sie sollte bekannter sein. Denn Le Havre wächst und entwickelt sich rapide. Außerdem ist sie Badeort und Weltkulturerbe. Hier herrscht ein ungeheurer Optimismus. Für junge Leute gibt es eine Menge Abwechslung, durch das Meer, den Strand, die Umgebung."