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Schon wieder Chagall

Beim Kunstsammeln setzt der Verleger-Sohn Frieder Burda auch mal nicht auf große Namen. Solche Risiken federt er dann mit populären Ausstellungen ab. Diesmal präsentiert er einen besonderen Favoriten der Kuratoren: den Maler-Poeten Marc Chagall. Schon zu Lebzeiten des Künstlers waren seine schwebenden Liebespaare und fliegenden Kühe außerordentlich beliebt. Der Ausstellungstitel verspricht aber noch mehr. Er lautet nämlich "Chagall. In neuem Licht".

Von Christian Gampert |
    Einmal den ganzen Chagall zeigen, alle Werkphasen: Das ist natürlich ein Traum, den man nur mit guten Beziehungen und Gegengaben verwirklichen kann. Frieder Burda hat beides. Der Ausstellungskurator Jean-Louis Prat verwaltet Chagalls Nachlass, das öffnet die Türen, sogar in Russland.

    Und so ist die eigentliche Überraschung der Ausstellung ein fast acht Meter langes Bild aus der Moskauer Tretjakow-Galerie: 1920 hat Chagall das Werk offenbar sehr schnell als Wandgemälde für das jüdische Theater in Moskau gemalt - und dort sind bereits viele Elemente versammelt, die auch im späterem Werk auftauchen werden, die Geige, der Bock, die Artisten, Figuren aus der bäuerlich-jüdischen Welt gekoppelt mit städtischen westlichen Gestalten. In vier Seitengemälden sind allegorisch die Künste dargestellt, eine tanzende Heiratsvermittlerin fürs Ballett, ein Hochzeits-Spaßmacher für das Theater, ein Thora-Kopist für die Literatur und ein Klezmer-Geiger für die Musik.

    Stilistisch allerdings ist das völlig anders als jene Bilder, für die Chagall bekannt ist. Seine Theater-Illustration der frühen Jahre ist helltonig, flächige Figuren in fast neusachlicher, manchmal konstruktivistischer Strenge, zwar schon schwebend und durcheinanderpurzelnd, aber in einem relativ leeren Raum angeordnet, der ganz leicht kubistisch aufgebrochen ist. Hier ist also zu sehen, was aus Chagall auch hätte werden können: ein Vorreiter der Moderne.

    Wir wissen, dass es anders kam, dass das Bedürfnis nach Versöhnung die Oberhand gewann – aber es ist gut zu sehen, dass dieser mehrfach exilierte Melancholiker, der später immer mit der verlorenen Heimat, dem jüdischen Stetl Witebsk beschäftigt war, dass der große Poet, der später diese in tiefes Blau getauchten Aquarien der Träume malte, dass der auch eine andere, eine avantgardistischere Seite hatte.

    Aus dieser Frühphase werden diverse Bilder aus der Tretjakow-Galerie gezeigt, die man sonst nie zu sehen bekommt, der "rote Jude", "der Zeitungsverkäufer", "der Spaziergang" – und hier wird klar, dass Chagall schon immer ein Einzelgänger war, aber dass Expressionismus, Kubismus, Surrealismus ihn durchaus gestreift haben. Er hat sich dann nur in sein magisches Traumkabinett zurückgezogen, in dem die bäuerliche Welt immer wieder nostalgisch auftaucht, Gestalten der Bibel und der jüdischen Tradition, Tiere in symbolischer Funktion, Künstler als Spaßmacher und Selbsterkunder, eine Welt voller Naivität, ohne Kalkül, ohne Mehrwert, ohne Intrige, das alte dunkle Russland, das alte sentimentale Europa. Und die Kunst als Rettung.

    Natürlich balanciert das Spätwerk, balancieren die Traumbilder bislang nah am Kitsch. Andererseits: Hier werden Geschichte und Religion und Halluzination zusammengedacht, und die Bitternisse der Politik bleiben. Schon 1937 malte Chagall die russische Revolution: eine Horde wildgewordener Soldaten, die in die rückständige Dorfwelt einbricht, ein Bild frenetischer Hoffnung und Bedrohung zugleich. Und fast gleichzeitig malte er eben auch die "Dorfmadonna". Im Spätwerk dann die fliegenden Hochzeitspaare, die schwangeren Frauen, die guten, gutmütigen, symbolisch besetzten Tiere, das jüdische Passah-Fest und Figuren der Bibel, Werden und Vergehen, kleine, aber hoffnungsvolle Menschen im großen Weltenraum.

    In den kathedralenhohen, von Tageslicht erfüllten Räumen des Richard-Meier-Baus kommen nicht nur die ans Märchen gemahnenden malerischen Erzähltechniken Chagalls, sondern vor allem die suggestiven Farben in aller Leuchtkraft zur Geltung. Man sieht durch die weiten Fensterscheiben hinaus in den Park, aber man sieht auch durch Chagalls gerötete Dächer und angeblaute Nachthimmel in eine mythische Welt. Unter Glas, als Zugabe, die literarischen Radierzyklen zu Gogols "Toten Seelen" und La Fontaines Fabeln.

    So wird diese Ausstellung für Spezialisten wie für das große Publikum eine Freude sein. Sie entlässt uns in der hohen Halle mit jenem großformatigen Zirkusbild, in dem Artisten, ein Cello-spielendes Pferd mit Frauenkörper, Clowns und Balletteusen um ein im Mondschein liegendes jüdisches Dorf herumtanzen und man sehen kann, mit wie vielen verschiedenen Blaus Chagall die Stimmung dieser Szene erzeugt.