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Schottlands Ringen um Unabhängigkeit

Am 1. Mai 1707 - vor 300 Jahren - wird Schottland staatenlos: England vereinnahmt die stolze Nation von, die durch eine Parlamentsunion angeschlossen wird, sozusagen per Federstrich. Nach den fehlgeschlagenen Aufständen der Jakobiten 1715 und 1745 fügen sich die Schotten in ihr Schicksal. Doch soziale Missstände, Unmut über die Regierenden im fernen London und die Entdeckung von Öl vor Schottlands Küsten entfachen heute das Feuer des vermeintlich erloschenen Nationalismus erneut.

Von Henning von Löwis | 01.05.2007
    " Hallo! Grüße aus Edinburgh bzw. Willkommen in Edinburgh! Fast 300 Jahre nachdem die Parlamentsunion unsere Unabhängigkeit beseitigte, verfügen wir jetzt wieder über unser eigenes Schottisches Parlament... Und wir haben unser eigenes, sehr teures schottisches Parlamentsgebäude. "

    Es gehört schon zu den Wahrzeichen Edinburghs, dabei ist es nagelneu: Schottlands Parlament am Ende der Royal Mile - nur einen Steinwurf vom Holyrood-Palast entfernt, der offiziellen Residenz der britischen Königin in Schottland.

    Was der katalanische Architekt Enric Miralles da für Schottlands 129 Parlamentarier auf die Wiese gezaubert hat, zu Füßen von Arthur's Seat, Edinburghs erloschenem Vulkan, das ist spektakulär und gewöhnungsbedürftig - ein Ensemble aus Glas, Stahl und Beton mit einer Dachkonstruktion in Form von Kiel oben treibenden Boote. Ein Parlament des 21. Jahrhunderts, das auch einem Südsee-Staat zur Zierde gereichen würde. Tag der feierlichen Eröffnung: 9. Oktober 2004.

    " Um dieses Parlamentsgebäude, werden die Schotten viele in der Welt beneiden. Aber vor allem: Wir haben ein Parlament, das mündig geworden ist - in einem Land, dessen Zeit gekommen ist. "

    So Jack McConnell, First Minister, Schottlands Regierungschef, am 9. Oktober 2004.

    In einer Glasvitrine die Insignien der Macht: Schwert, Zepter und Krone, die die Königin bei der Eröffnung des Parlaments im Oktober 2004 überreichte.

    Gary Shields ist ein Bilderbuch-Schotte: hoch gewachsen, blaue Augen, rothaarig, rotbärtig. Der Edinburgher, der Besucher durch das Parlament führt, weiß, was die 1999 wiedererstandene Volksvertretung für Schottland bedeutet:

    " Das Parlament arbeitet jetzt seit acht Jahren und hat dem schottischen Volk die Möglichkeit gegeben, sich in einem ziemlich komplizierten politischen Prozess zu artikulieren. Als Teil des Vereinigten Königreiches hat Schottland eine eigene Kultur, eine eigene Identität. Viele fühlen sich in erster Linie als Schotten und nicht als Briten. Wir haben unsere eigene Sprache, unsere eigene Geschichte, unser eigenes Rechtssystem, unser eigenes Bildungswesen. Und das Schottische Parlament erlaubt uns, das alles voll zur Geltung zu bringen. "

    Und was ist mit Unabhängigkeit? Alle reden von Unabhängigkeit.

    " Das ist eine schwierige Frage ... "

    Gary Shields zögert, überlegt einen Augenblick.

    " Ja, ich bin für Unabhängigkeit. Ja. Wir haben heute eine Stimme im Vereinigten Königreich - und das Schottische Parlament ist eine gewichtige Stimme, aber es hat uns auch gezeigt, dass wir mehr tun können. Wir können mehr unternehmen auf der Weltbühne. Ich sage "ja" zur Unabhängigkeit, aber ich habe auch meine Zweifel. "

    Gary Shields ist unsicher, hin- und hergerissen zwischen Großbritannien und Schottland - ein schottischer Brite, ein britischer Schotte. Und so wie ihm geht es vielen "North of the Border", zwischen Lowlands und Shetland. Die Schotten schwanken: Sollen oder sollen sie nicht: Britannien ade sagen.

    Für Alex Salmond ist die Sache klar. Der Führer der SNP, der Scottish National Party, will los von London, aussteigen aus dem Vereinigten Königreich. Und das so schnell wie möglich.

    " "Wenn ich durch unser Land reise und die Meinung der Leute höre, so wird mir klar: Schottland befindet sich an einem Wendepunkt. Die Menschen sagen mir, dass es an der Zeit ist, einen neuen Kurs einzuschlagen, Zeit für Schottland, voranzuschreiten. Nach acht Jahren Devolution wollen die Schotten mehr. Die Schotten sehen die Erfolge unserer Nachbarländer - unabhängiger Nationen wie Irland und Norwegen. Die Leute wissen, dass mit der richtigen Politik und einer guten Führung, wir über die Fähigkeit und die Ressourcen verfügen, es diesen Erfolgsstorys gleichzutun. Dieser Ansicht bin ich auch. Unsere Wirtschaft muss sich befreien von der Kontrolle durch London, wir müssen eine eigene Stimme haben in der Welt... Schottland hat genug von Labour. Sie hatten ihre Chance. Jetzt tickt die Uhr. Es ist Zeit für die SNP. "

    Zeit für die SNP - Zeit für Schottlands Wiedergeburt?

    Das ist die Frage, die die Gemüter bewegt im Lande der Schotten. Schottland begreift sich als "The First Nation in Europe" - "Europas erste Nation", verweist auf eine Grenze, die sich in tausend Jahren nicht verändert habe, auf ruhmreiche Schlachten gegen den "Erzfeind" England wie die Schlacht von Bannockburn vom 24. Juni 1314 und die "Deklaration von Arbroath", datiert vom 6. April 1320, die die Unabhängigkeit der schottischen Nation in eindrucksvollen Worten untermauert.

    " Solange auch nur noch hundert von uns am Leben sind, werden wir nicht einwilligen, uns der Herrschaft der Engländer zu unterwerfen. Denn wir kämpfen und streiten nicht für Ruhm, nicht für Reichtümer, nicht um der Ehre willen, sondern nur um unsere Freiheit, die ein ehrlicher Mann nur mit seinem Leben verliert. "

    Am 1. Mai 1707 - heute vor 300 Jahren - wird die stolze Nation Schottland staatenlos - von England vereinnahmt, durch eine Parlamentsunion an England angeschlossen.

    Sozusagen per Federstrich. Durch den "Act of Union" entsteht das Königreich Großbritannien. Die Glocken von St. Giles intonieren eine traurige Weise: "Why am I so sad on this my wedding day." Jene Politiker, die - wie der Marqis of Queensberry - die Verantwortung tragen für den "Act of Union" - und damit für das Ende des Schottischen Parlaments - werden von aufgebrachten Edinburghern mit Steinen beworfen, können sich nur noch mit Begleitschutz auf die Straße trauen. Der englische Agent Daniel Defoe berichtet aus der schottischen Hauptstadt:

    " Ich habe niemals eine Nation gesehen, die so wütend ist. "

    Aus der Sicht der schottischen Nationalisten wurde Schottland im Jahre 1707 regelrecht verkauft. Der SNP-Politiker Kenny MacAskill, von 1999 bis 2007 Abgeordneter im Schottischen Parlament:

    " Hätte es 1707 ein Plebiszit oder ein Referendum gegeben, dann wäre die Union nördlich der Grenze und wahrscheinlich auch südlich der Grenze abgelehnt worden. Die Zahl der Leute, die 1707 mitbestimmen konnten, lag so um die 10.000. In Edinburgh und Glasgow kam es zu Unruhen, als die Menschen von der Union erfuhren. Die Union wurde uns ohne jedes demokratische Mandat aufgezwungen. Von den Lords und Ladies, die als einzige damals ein Wahlrecht besaßen, wurden wir "bought and sold for English gold" - für englisches Gold gekauft und verkauft, wie es Robert Burns in Versen verewigte. "

    Die "verkaufte Nation" wehrt sich zunächst erbittert gegen das Los, das ihr durch die Parlamentsunion von 1707 beschieden ist.

    1745 kommt es zum letzten Aufbäumen der geballten Macht der Highland-Clans.

    Vergeblich. Auf dem Schlachtfeld von Culloden Moor vor den Toren von Inverness wird die Armee der Highland-Clans unter Führung von Charles Edward Stuart - "Bonnie Prince Charlie" - am 16. April 1746 entscheidend geschlagen. Was bleibt ist die Erinnerung an eines der blutigsten Kapitel schottischer Geschichte - und der bis heute lebendige Mythos von "Bonnie Prince Charlie".

    Nach den fehlgeschlagenen Aufständen der Jakobiten 1715 und 1745 regt sich für mehr als ein Jahrhundert in Schottland politisch so gut wie nichts mehr. Die Schotten fügen sich in ihr Schicksal - und bauen gemeinsam mit den Engländern das größte Empire auf, das die Welt je gesehen hat. Dabei agieren sie nicht selten in vorderster Front - und setzen schottische Akzente fern ihrer - arg geschundenen und zunehmend entvölkerten - Heimat.

    Kilt und Dudelsack künden auf allen Kontinenten von einer Nation in Europa, die zwar keinen Staat mehr besitzt, aber dennoch ihre Sitten und Bräuche zu bewahren versteht - auch "under British rule".

    Schottland lebt - von Rhodesien bis Singapur. Und der Anschluss an England zahlt sich zeitweise in wirtschaftlicher Hinsicht sogar aus. Schottland kann Handel treiben mit Amerika. Am Clyde wächst ein Industriezentrum aus dem Boden. Schiffbau wird zum Motor der schottischen Wirtschaft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden in schottischen Industrieunternehmen nicht selten höhere Löhne gezahlt als in England. Mit Schottland geht es aufwärts unter dem "Union Jack" - der gemeinsamen Flagge, geschaffen durch Verbindung der beiden Kreuze - Andreas-Kreuz und Georgs-Kreuz.

    Kein Grund also sich aufzulehnen gegen Fremdherrschaft - zumal zentrale Bereiche wie Kirche, Justiz und Bildungswesen ohnehin unter schottischer Kontrolle verblieben sind. Für Nationalismus gibt es praktisch keinen Nährboden in Schottland.

    Erst das 20. Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen und dem Ende des Empire wird die Situation grundlegend verändern. Im November 1926 schlägt die Geburtsstunde einer Monatszeitung mit dem programmatischen Titel "The Scots Independent".

    Acht Jahre nach Gründung von "The Scots Independent" erblickt 1934 die SNP das Licht der britischen Parteien-Welt - die Scottish National Party -, eine Fusion der "National Party of Scotland" und der "Scottish Party".

    Doch über Jahrzehnte fristet sie ein Schattendasein, spielt praktisch keine Rolle in der britischen Politik. Eine Splitterpartei.

    Bei den Unterhauswahlen in den fünfziger Jahren erzielt sie Ergebnisse von maximal 0,5 Prozent.

    Doch die Schotten haben keinesfalls vergessen, dass sie Schotten sind. Als eine schottische Bürgerrechtsbewegung in den Jahren 1949/50 eine Unterschriftensammlung durchführt, sprechen sich über zwei Millionen Schotten für mehr Selbstbestimmung aus. Und als in Schottland die roten Briefkastensäulen mit den Insignien ER II aufgestellt werden, kommt es zum "Pillarbox War". Überall im Lande werden Briefkästen in die Luft gejagt - ist doch Elisabeth II. für Schottland Elisabeth I.

    Die britische Hymne "God save the Queen" kommt vielen nur schwer über die Lippen.

    In Fußballstadien, wo Schottland längst als unabhängige Nation aufspielen kann, wird sie durch lautstarke Pfeifkonzerte buchstäblich abgewählt, ersetzt durch "Scotland the Brave".

    Die populäre Musikgruppe "The Corries" bricht ganz bewusst mit der Tradition, Veranstaltungen mit der britischen Hymne zu beenden, ersetzt das Lied für die Queen kurzerhand durch "Flower of Scotland" - "Blume Schottlands".

    Sie sind unüberhörbar in Schottland in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts - die Signale des Wandels.

    Soziale Missstände, Unmut über die Regierenden im fernen London und die Entdeckung von Öl vor Schottlands Küsten entfachen das Feuer des vermeintlich erloschenen Nationalismus "North of the Border".

    Die SNP geht auf Stimmenfang mit der Parole: "It's Scotland's oil!"

    Und gewinnt. Bei den Unterhauswahlen im Oktober 1974 wählt fast jeder dritte Schotte SNP: 30,4 Prozent der Stimmen, das sind elf Sitze im Parlament von Westminster.

    Hauptforderung der SNP: Wiederherstellung des Schottischen Parlaments - und, nicht mehr und nicht weniger als "Independence" - Unabhängigkeit für Schottland.

    In London läuten die Alarmglocken. Durch "Devolution" - politische Regionalisierung - hofft man den aufbegehrenden Schotten den Wind aus den Segeln zu nehmen, verspricht ihnen mehr Mitsprache im Vereinigten Königreich, erfüllt 1999 die Forderung nach einem eigenen Parlament, baut für 400 Millionen Pfund in Edinburgh das modernste Parlament der Welt ... und wird die Geister, die man rief, nicht mehr los.

    " Die Trennungslinie verläuft mehr und mehr zwischen jenen von uns, die bereit sind die Union zu unterstützen, und jenen, die die Zukunft der Union aufs Spiel setzen. "

    Der Schotte Gordon Brown, designierter Nachfolger des Halb-Schotten Tony Blair, ist sich im klaren darüber, dass es die Schotten in der Hand haben, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen.

    Wenn der Schotte Alex Salmond, lange Jahre Fachmann für Öl- und Energiewirtschaft in der Royal Bank of Scotland, die Parlamentswahl am 3. Mai gewinnt, dann könnte das "Kapitel 1707" - die gemeinsame Geschichte von England und Schottland über kurz oder lang zu Ende gehen.

    Scheint doch die SNP fest entschlossen zu sein, einen Schlussstrich unter das Kapitel "Great Britain" zu ziehen und die Schotten 2010 in einem Referendum entscheiden zu lassen, ob sie wieder unabhängig werden wollen oder nicht.

    Motto der SNP:

    " Small is beautiful. "

    Von Groß-Britannien nach Klein-Britannien? Bye bye UK?

    Für den SNP-Politiker Kenny MacAskill ist das keine Frage:

    " 300 Jahre nach der Union von 1707 benötigt England keine Sicherheit nördlich der Grenze mehr, und Schottland benötigt England nicht mehr für seinen Handel. Wir sind Mitglied in der WTO, in der Europäischen Union, der Westeuropäischen Union, der NATO. Um Sicherheit für England und Schottlands Handel kümmern sich heute globale Organisationen. Und darum meinen wir, dass es an der Zeit ist, uns friedlich zu trennen und als eigenständige Akteure Mitglied der EU zu sein und der Völkerfamilie anzugehören, den Vereinten Nationen. "

    Eine große Mehrheit im Lande spricht sich zumindest für ein Referendum über Unabhängigkeit aus - 82 Prozent der Schotten.

    Im Manor-Tal in den Lowlands, wo die Schafe das Leben bestimmen und im Moment Lämmer-Zeit ist, hat man mit Unabhängigkeit nichts im Sinne.

    " Nein, unter keinen Umständen. Ich gehöre vielleicht zu einer immer mehr in die Minderheit geratenden Gruppe der Bevölkerung - die anti-englische Haltung ist ja ziemlich ausgeprägt, aus unerfindlichen Gründen. Nein, ich unterstütze das Konzept eines unabhängigen Schottlands nicht, nein. "

    Robert Barr, Besitzer der Woodhouse Farm und Herr über mehr als tausend Schafe, begreift sich als Brite, möchte lieber weiter von London regiert werden. Von den schottischen Politikern hält er nicht eben viel. Wird also alles beim alten bleiben in Schottland?

    " Nein, ich glaube, ein Wandel zeichnet sich ab. Wenn ich mich als Brite bezeichne, so ist das meine persönliche Einstellung. Wandel heißt, dass Schottland mehr Unabhängigkeit erlangen wird. Aber vielleicht erst in 20 Jahren. Westminster wird an Einfluss verlieren. Das mag 20 Jahre dauern - oder mehr. Vielleicht aber auch nur zehn Jahre. Das ist meine Meinung. "

    Die Meinungen sind geteilt in Schottland. Das Land ist gespalten in punkto "Independence". Aber die meisten Beobachter sind sich einig, dass es für die Zwangsehe von 1707 im Jahre 2007 keine Daseinsberechtigung mehr gibt.

    Man schreibt das Jahr 1296, als Englands Herrscher Eduard I. den legendären "Stone of Scone" - Krönungsstein der schottischen Könige - als Kriegsbeute nach London bringen lässt.

    700 Jahre später - im Jahre 1996 - sieht sich Premierminister John Major genötigt, den Schotten ihr Nationalheiligtum zurückzugeben.

    1707 büßt Schottland sein Parlament ein.

    292 Jahre später - im Jahre 1999 - kann es seine Sitzungen wieder aufnehmen.

    Schottlands Zug in Richtung Unabhängigkeit ist abgefahren. Und er dürfte kaum mehr aufzuhalten sein. Wann er ankommen wird, das steht in den Sternen über den Highlands, Islands und des Manor-Tals in den Lowlands.