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Schreiben als Überlebensstrategie

Abraham Sutzkever galt als der große Bewahrer der jiddischen Sprache. Er war ein Chronist der Gräueltaten im Wilnaer Ghetto, verübt von den deutschen Besatzern. Am vergangen Mittwoch ist er im Alter von 96 Jahren in Tel Aviv gestorben.

Von Christoph Haacker | 25.01.2010
    Der jiddische Dichter Abraham Sutzkever entkam im September 1943 aus dem Wilnaer Ghetto und ging zu den Partisanen. Der sowjetische Autor Ilja Ehrenburg bekommt Wind von Sutzkevers Ghetto-Gedichten und lässt ihn im März 1944 zur Mitarbeit an einem Schwarzbuch über die Judenvernichtung von der Front nach Moskau ausfliegen. Doch das Projekt ist plötzlich unerwünscht, Sutzkevers Bericht darf 1946 nur stark zensiert erscheinen. Denn ein jüdischer, nicht-kommunistischer Widerstand macht der Roten Armee die Heldenrolle streitig. Heikel sind zudem die Verstrickung litauischer Sonderkommandos und die Kollaboration. Der sowjetische Umgang mit den Überlebenden gehört zu den ersten Symptomen eines schließlich ebenfalls mörderischen Antisemitismus. Ihm fallen 1952 die namhaftesten jiddischen Dichter zum Opfer. Sutzkever ist 1946 weitblickend ausgewandert.

    Tatort Wilna, Vilnius, Wilno, Wilne. Das "Litauische Jerusalem" war ein Zentrum jüdischer Aufklärung. In diesem Klima wuchs Abraham Sutzkever auf. Als er hier als junger Lyriker noch nicht ernst genommen wurde, erkannte der einflussreichste amerikanische jiddische Dichterkreis sein Talent. Und wer in New York gedruckt wird, ist auch in Wilna jemand. Diese Laufbahn fand ein jähes Ende, als am 24. Juni 1941 die deutsche Wehrmacht die sowjetischen Besatzer vertrieb. Es folgte der Vernichtungsfeldzug gegen die einheimische Judenheit. Zu deren Grab wird der Wilnaer Vorort Ponar – hier werden mehr als 70.000 Juden erschossen. Sie stammen größtenteils aus dem neuen Ghetto, das bis zum 23. September 1943 besteht.

    Ein Jahr später also legt Abraham Sutzkever in seinem Bericht über dieses Ghetto retrospektiv Zeugnis ab. Er überliefert die Etappen der systematischen Ermordung seines Volks aus eigener Perspektive und als Wiedergabe von Augenzeugenstimmen. Darüber hinaus beschreibt er die jüdische Untergrundorganisation und seine Beteiligung an ihr: wie er Waffen ins Ghetto schmuggelt und jüdische Kulturgegenstände rettet. Dabei macht er sich zunutze, dass die Deutschen ihn zur Bestandsaufnahme von geraubten Kulturgütern zwingen. Wie riskant Sutzkevers Doppelrolle ist, wird deutlich, als einmal überraschend Besucher aus Deutschland auftauchen:

    Die Gäste gingen zu der speziellen antijüdischen Ausstellung. Ich höre durch die dünne Wand, wie er über den hohen Wert der Bilder predigt. "Dieses Bild stellt jüdische Flüchtlinge dar." (Er) nimmt das Bild von Minkowski, unter dem der Lauf des Maschinengewehrs liegt, und zeigt es seinen Berliner Leuten. Bald muss es zur Katastrophe kommen. Und außer den 30 Juden, die [hier] arbeiten, wird man das ganze Ghetto umbringen!" Ich laufe ins Bilderzimmer, schreie "Verzeihen Sie ..." Mein Hereinlaufen hat sie verwirrt. "Wer ist der verrückte Jude?" Die Deutschen verstehen nicht, was da vor sich geht. "Schnell weg aus diesem Irrenhaus." Und die Deutschen marschieren wütend aus dem Zimmer.
    Sutzkevers Aufzeichnungen vermitteln erschütternde Bilder von Tätern und Opfern. Die Täter waren Deutsche, litauische Faschisten und Zivilisten, die als Kopfgeldjäger Juden aufspürten. Zu Schuldigen wurden manchmal auch Juden – im Irrglauben, durch Kollaboration ihr Leben zu retten. Viele Opfer dagegen fügten sich nicht in eine Opferrolle. Der bedenkliche Vorwurf, die Juden hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen, wird in Wilna widerlegt. Zwar scheiterte der geplante Aufstand. Der Überlebenswille setzte jedoch unvorstellbare Kräfte frei. So wuchs unterm Ghetto eine "unterirdische Stadt" von Tunneln und Verstecken. Wilner Juden verübten Sabotageakte und gaben Anstöße für die Ghettoaufstände in Warschau und Białystok. Daneben setzten einzelne Nicht-Juden ihr Leben aufs Spiel, um Juden zu retten.

    Angesichts der Gräuel erschüttert ausgerechnet der oft nüchterne Ton des Autors, der erahnen lässt, wie alltäglich die Schrecknisse geworden sind oder wie viel Beherrschung nötig war, um dem Schmerz ein Aufschreiben des Grauens abzuringen. Einer der Hauptverantwortlichen für diese Verbrechen war Franz Murer, der sogenannte "Schlächter von Wilna":

    Ich ging zu meiner Mutter. Sie verkündete mir eine Freudenbotschaft: Meine Frau hat im Ghettospital ein Kind geboren. Meine Mutter hat Murers Gesetze vergessen, dass die im Ghetto geborenen Kinder getötet werden müssen. Am nächsten Tag, als ich zu meinem Kind gehe, lebt es schon nicht mehr. Murers Befehl war ausgeführt worden.
    Nach dem Unglück mit dem Kind war ich noch nicht ganz zu mir gekommen, da überfiel mich ein neues Unglück: Ich geh zu meiner Mutter, und meine Mutter ist verschwunden.

    Sutzkever erweist sich als ein politisch scharfsichtiger, sachlicher Chronist. Seine Gedichte wirken dagegen emotionaler. Sie sind oft wie Steine auf das Grab der Ermordeten. So zeigt das Schicksal des Untergrundkommandeurs Izik Witenberg die perfiden Strategien seiner deutschen Widersacher. Es gelingt ihnen, die jüdische Gemeinschaft zu spalten. Für die Auslieferung des Anführers geben sie ihr vage Verschonungsgarantien, die sich später als Hohn erweisen. Witenberg stellt sich und wird zu Tode gefoltert. Sutzkevers Gedicht vergegenwärtigt die Abschiedsszene:

    Zwanzigtausend / für einen Kopf, / und der Eine bist du. [ ... ] Lippen und Hände / wärmen und liebkosen Dich zum letzten Mal: /Du wirst nicht vergehen / denn du bist der Gerechte.
    Du drängst dich durch die zwanzigtausend, / und eine Taube begleitet Dich wie ein Licht
    zum Schlächter.

    Sutzkevers "Wilner Getto", in Standardwerken bisher unberücksichtigt, ist eine der bedeutendsten Quellen über die Shoah. Es gibt außer dem dank Sutzkever geretteten Tagebuch des 1943 ermordeten Hermann Kruk kein vergleichbares Zeugnis aus diesem Ghetto. Dem tragen die Begleittexte zu wenig Rechnung; ein Personenverzeichnis fehlt. Unerwähnt bleibt auch der Skandal um Franz Murer, der 1946 im Nürnberger Prozess vom Zeugen Sutzkever als sadistischer Mörder schwer belastet worden war. Ungeachtet dessen wurde Murer 1963 von einem österreichischen Geschworenengericht freigesprochen.

    Dass Abraham Sutzkevers Bericht nun als Doppelausgabe mit ausgewählten Gedichten vorliegt, ist dem Übersetzer Hubert Witt zu danken. Leider wurden nicht alle Gedichte, auf die der Bericht verweist, aufgenommen. Angesichts von Sutzkevers waghalsiger Unternehmung, seine Kultur zu bewahren, ist es unverständlich, dass nicht ein Gedicht auf Jiddisch abgedruckt wurde. Eine parallel im Campus Verlag erschienene Auswahl von Sutzkevers Lyrik und Prosa setzt hier wie in der gesamten Edierung Maßstäbe.

    Abraham Sutzkevers "Wilner Ghetto 1941–1944" ist ein Zeugnis, das jeden Gedanken an Abstumpfung oder Überdruss angesichts der Holocaust-Thematik kraft des Wortes zerstreut; Sutzkevers Gedichte machen deutlich, wie sehr Schreiben zum Überlebensrüstzeug, zum Antrieb und Trost taugen kann, und dass es manchmal möglich ist, die Sprachlosigkeit des Entsetzens zu überwinden.

    Abraham Sutzkever: "Wilner Diptychon: Wilner Ghetto 1941 - 1944 / Gesänge vom Meer des Todes". Ammann Verlag, 2 Bände, 272 und 193 Seiten, Euro 34,95 (ISBN: 978-3-250105329)
    und:
    Abraham Sutzkever: "Geh´über Wörter wie über ein Minenfeld". Lyrik und Prosa. Campus Verlag, 389 Seiten, Euro 34,90 (EAN: 978-3-593389066)