Gegen die Heuchelei des Westens und die Machtpolitik der amerikanischen Großmacht
Wer schreibt, weiß, dass der Zweifel dem Glauben Stolperdrähte spannen muss, auf dass uns keine Hoffnung beflügelt, der nichts außer Absturz gewiss wäre. Also sei anfangs vorwarnend gesagt: Das Motto des nunmehr in Berlin tagenden PEN-Kongresses, "Schreiben in friedloser Welt", könnte vermuten lassen oder gar die fromme Mär bestätigen wollen, es habe jemals friedliche Zeiten gegeben. Nein! Immer herrschte nahebei oder weitweg Krieg. Oft tarnte er sich als "Befriedung" oder "Normalisierung", todbringend war er allemal. Auch fehlte es nicht an Heldengesängen oder nüchternen Beschreibungen gallischer oder sonstiger Kriege. Zu unserer Zeit unterhielten uns mit trickreich gesteigerter Spannung Filme auf Leinwänden und auf der Mattscheibe, die ihren Stoff aus unablässigem Kriegsgeschehen bezogen: abermals Heldenrollen zuhauf.
Europa, das sich im Verlauf der Jahrhunderte als ausdauernde Triebkraft des Krieges bewiesen hat, gönnte sich zwar, was allerdings nur den Kontinent betraf, gelegentlich Pausen, führte aber, sei es, um nicht aus der Übung zu kommen, sei es, um die Interessen seiner einzelnen und in der Regel verfeindeten Staaten zu wahren, weltweit Eroberungs- und Kolonialkriege. Mehr noch: während der Kampfpausen haben eine Vielzahl bahnbrechender Erfindungen, selbst, wenn deren Erfinder durchaus friedfertig dem uralten Menschentraum, gleich Ikarus fliegen zu können, nur die notwendige Technik lieferten, mit Vorrang dem Krieg, dem modernen Krieg gedient. Wie denn auch ein Deutscher und oft zitierter Militärwissenschaftler von Rang kurzgebunden den Krieg zum Vater aller Dinge ernannte.
Immer war Krieg. Und selbst die Friedensschlüsse bargen, gewollt wie ungewollt, die Keimzellen künftiger Kriege, gleich, ob Verträge im westfälischen Münster oder in Versailles ausgehandelt wurden.
Zudem waren und sind die Vorbereitungen für das Führen von Kriegen nicht nur auf schnell veraltende Waffensysteme angewiesen; ein altes Mittel, durch steuerbaren Mangel Völker abhängig und gefügig zu machen, ist seit biblischen Zeiten bis in die globalisierte Gegenwart wirksam. Anlässlich seiner Antrittsrede bei den vereinten Nationen wurde dieses Mittel von Willy Brandt beim Namen genannt. "Auch Hunger ist Krieg!" rief er vor über drei Jahrzehnten zur Zeit des Kalten Krieges. Die Mortalitätsmuster und Hungerstatistiken bestätigen bis heute seinen Befund. Wer den Markt für Grundnahrungsmittel beherrscht und also mit den Preisen steuernd über Mangel und Überfluss verfügt, muss keinen herkömmlichen Krieg führen.
Wie aber verhielt es sich mit dem Schreiben während anhaltend friedloser Zeit? Die Literaten, das heißt, all die Silbenstecher, Lautverschieber, Wörtermacher und Nachredner unterdrückter Schreie, die zwanghaft reimenden wie nicht reimenden Dichter, sie alle, die Männer und Frauen des bloßen Wortgeschehens, waren und blieben dabei, von Troja bis Bagdad: metrisch klagend, nüchtern berichtend, hier den Frieden beschwörend, dort süchtig nach Heldentum. Der wohlfeile Satz: "Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen", ist leicht zu widerlegen.
Um im Lande zu bleiben: die Deutschen, die sich, in Ermanglung überseeischer Eroberungen, über dreißig Jahre hinweg einen Glaubensstreit als Bürgerkrieg leisteten und zu diesem Gemetzel ihre europäischen Nachbarn einluden, haben während mörderischer Zeit zwar das noch unsicher tastende Aufleben einer jungen Literatur kaum wahrgenommen, doch überliefert sind ihnen dennoch die im Jahr 1636 geschriebenen Gedichte des damals grad zwanzigjährigen Andreas Gryphius, so das Sonett
Threnen des Vatterlandes
Wjr sindt doch I?-uhmer gantz I ja mehr den gantz verheret! Der frechen völcker schaar I die rasende Posaun
Das vom blutt fette schwerdt I die donnernde Charthaun Hatt aller schweis vnd fleis I vnd vorraht auff gezehret. Die türme stehn in glutt I die Kirch ist vmbgekehret.
Das Rathaus ligt im graus / die starcken sind zerhavn.
Die Jungfrawn sindt geschändt / vnd wo wir hin nur schawn Ist fewer / pest / vnd todt der hertz vndt geist durchfehret. Hier durch die Schantz vnd Stadt / rint allzeit frisches blutt. Dreymall sindt schon sechs jahr als unser ströme flutt Von so viel Leichen schwer / sich langsam fortgedrungen. Doch schweig ich noch von dem was ärger als der todt. Was grimmer denn die pest / vndt glutt vndt hungers noth Das nun der Selen schatz / so vielen abgezwungen.
Und Martin Opitz, der die jungen Poeten lehrte, mit Jamben und Trochäen umzugehen, also kunstfertig die Versfüße zu setzen, schrieb mit so ausführlich wie geballt barocker Wortgewalt sein schier endloses "TrostGedichte In Widerwertigkeit Deß Krieges."
"Die grosse Sonne hat mit jhren schönen Pferden Gemessen dreymal nun den weiten Kreiß der Erden Seit daß der strenge Mars in vnser Deutschland kam Und dieser schwere Krieg den ersten Anfang nahm ..."
Ja, selbst weit weg von dem immerwährenden Schlachten und Plündern, im fernen Königsberg, wo sich die benachbarten Polen und Russen eine Kriegspause gönnten, vergaß Simon Dach nicht, in seiner Klage "über den endlichen V ntergang und ruinirung der Musicalischen Kürbs-Hütte" der Vernichtung der Stadt Magdeburg zu gedenken:
"W 0 laß ich, Deutschland, dich? Du bist durch Beut vnd morden Die dreissig Jahr her nun dein Hencker selbst geworden ..."
Und ist es nicht so, dass Simon Dach mit den hier zitierten zwei Verszeilen seinem Land ein bis ins zwanzigsten Jahrhundert, bis hin zu zwei Weltkriegen, gültiges Zeugnis ausgestellt hat?
Die von mir genannten Barockdichter suchten in "friedloser Zeit" nach Wörtern und Metaphern, geeignet, das unübersehbare Leid und die Verwüstung von Städten, Ländereien und Seelen zu benennen oder in Gleichnisse zu zwingen. Die Erde galt ihnen als Jammertal, denn was der Krieg verschonte, nahm die Pest.
Ein weiterer Autor, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, fand erst nach zeitlichem Abstand die Kraft, in Romanen wie "Der abenteuerliche Simplicissimus" und "Die Landstörzerin Courasche" das nachwirkende Entsetzen über das "Monstrum Krieg" als Erzählbares zu Papier zu bringen, wobei seine Helden nicht etwa als Zeugen von Schlacht zu Schlacht auftreten, sondern dem alltäglichen Gräuel verwoben sind.
So haben auch die Kriege späterer Zeit erst im Nachhinein, also in den kurzen und längeren Pausen zwischen den Kriegen, ihren literarischen Niederschlag gefunden. Ob Tolstois "Krieg und Frieden", Remarques "Im Westen nichts Neues", Celines "Reise ans Ende der Nacht", Kluges "Stalingrad" oder Kurt Vonneguts "Slaughterhouse Five" - um nur wenige Autoren zu nennen, in deren Köpfen der Krieg nicht aufhören wollte -, jeweils musste Zeit vergehen bis zum Wagnis des ersten Satzes.
Um im militärischen Sprachgebrauch zu bleiben: Wir Autoren sind Spätzünder. Selbst wenn wir meinen der literarischen Avantgarde anzugehören, hinken wir dennoch dem Geschehen hinterdrein, freilich unermüdlich, denn was geschah und geschieht, sich mörderisch auslebt, entkommt uns nicht. Was die Historiker abzubuchen gewillt sind, bleibt uns gegenwärtig.
Wir Schriftsteller sind Leichenfledderer. Wir leben von Fundsachen, so auch von den rostigen Hinterlassenschaften des Krieges. Längst überbaute Schlachtfelder und Trümmerhalden suchen wir heim und finden den hinterlassenen Uniformknopf, die wundersam heil gebliebene Puppe aus Zelluloid. Reste wie diese erzählen uns vom zerfetzten Soldaten, vom verschütteten Kind.
So gern wir die Handlung in friedliche Gefilde, in hügelreich blauende Landschaften, in tief innerste Befindlichkeiten verlagern, dennoch kann uns der Krieg nicht aufhören. Selbst den meiner Generation nachgeborenen Autoren, denen während Zeiten der Aufrüstung und Erprobung von atomaren Erstschlägen Frieden durch wechselseitige Abschreckung verheißen wurde, blicken, sobald sie in geretteten Familienalben blättern, ernst und jungverheiratet das Foto des Urgroßvaters oder des Großvaters an: Der eine verblutete während der Materialschlacht um Verdun, der andere krepierte im Verlauf der Panzerschlacht von Kursk, und schon wollen sie erinnert, das heißt, belebt werden, und sei es auch nur auf Papier.
Auch jenen Autoren, denen der altbewährte Liebesschmerz zu Wörtern verhilft und denen das ewige Dreiecksspiel in Variationen erzählenswert bleibt - denn Leidenschaft, Hörigkeit, Bettgeflüster und Eifersucht, mit wie ohne Mord, geben allzeit was her -, sehen sich plötzlich während der Suche nach der entschwundenen Geliebten vor Löcher gestellt, die dieser oder jener Krieg hinterlassen hat, so dass sie nun stammeln müssen, weil der Vater der Geliebten bei Tisch nicht aufhören kann, längst verlorene Schlachten zu gewinnen. Und schon verläuft sich die Liebe nebensächlich, wird niedlich im Vergleich mit so viel gereihtem Verlust.
Lässt sich Kriegsgeschehen erzählen? Lauert nicht, sobald die Gefahr überstanden ist, die Anekdote und macht ihr Angebot? Wie liest sich eine Kampfhandlung, wenn sie dem Erzählstrang eines Überlebenden eingefädelt ist, der, weil notgedrungen auf sich bedacht, ständig "Ich" sagen muss und dabei seine löchrige Erinnerung bemüht? Ist das organisierte Chaos eines Krieges auch nur annähernd mit den Mitteln der Literatur zu spiegeln? Oder ist der erzählende Autor allenfalls in der Lage, jene Lücken aufzufüllen, die ihm der aufs Dokument abonnierte Historiker hinterließ? Was geschah zwischen den datierten Schlachten? Wie verlief Alltag hinter der Front? Wer ist mehr zu fürchten: der Feind oder die eigenen Feldgendarmen? Was findet sich in keiner Statistik?
Als vor zwanzig Jahren der 49. Kongress des Internationalen PEN in Hamburg stattfand, tagte diese Versammlung unter dem Thema, "Zeitgeschichte im Spiegel internationaler Literatur". Auch damals kam mir die Ehre zu, das Eröffnungsreferat zu halten. Es stand unter dem Titel "Der Schriftsteller als Zeitgenosse". Im Verlauf meiner Rede führte ich als Beispiel literarisch zeitgenössischer Teilnahme den Spanischen Bürgerkrieg an. Denn wie kein anderes Ereignis schlug sich diese Einübung in den bald danach beginnenden Zweiten Weltkrieg in literarischen Zeugnissen wieder, teils während des Kampfes, teils danach.
Um nur einige Namen zu nennen: Neruda und Hemingway, Orwell und Malraux, Bernanos und Koestler, Kisch und Regler waren als Augenzeugen dabei. Ich zitierte aus Gustav Reglers Roman "Das Ohr des Malchus" und aus George Orwells "Mein Katalonien". Denn beide Autoren machten in ihren Büchern den Verrat der Kommunisten an der spanischen Republik und den Terror der sowjetischen Geheimpolizei GPU zur Zeit Stalins offenkundig. Beide Autoren galten daraufhin im kommunistischen Lager als verfemt. Und da jahrzehntelang. Denn als vor zwanzig Jahren auf dem Hamburger PEN-Kongress von den Büchern dieser Autoren die Rede war, zog sich die Mauer noch hin, war Europa in Folge des Kalten Krieges noch immer in Ost und West geteilt und standen die genannten Bücher im Osten noch immer unter Verbot.
Entsprechend heftig verlief die an meine Rede anschließende Diskussion. Immer noch verursachten die zeitgenössischen Zeugnisse aus Zeiten des Spanischen Bürgerkrieges jene die Ideologen verstörende Wirkung, die Orwell und Regler dazumal bezweckt hatten: Zugunsten der Wahrheit wollten sie aufklären um jeden Preis!
Warum dieser Rückblick? Das Motto jenes mittlerweile historisch anmutenden PEN-Kongresses ist dem von heute benachbart. Auch in der gegenwärtig friedlosen Zeit schreibt sich die Zeitgenossenschaft der Autoren fort. Machtpolitik und der Zynismus der Macht waren damals, sind heute bestimmend. Der einzige Unterschied ist der, das dazumal zwei Weltmächte atomar hochgerüstet gegeneinander standen und jeweils aus imperialem Selbstverständnis, das heißt skrupellos, ihre Kriege, sei es in Vietnam, sei es in Afghanistan führten. Gegenwärtig sind wir - was sich nicht als Gewinn erwiesen hat - nur noch der Hybris einer einzigen Großmacht ausgeliefert, die auf der Suche nach einem neuen Feind fündig geworden ist. Den von ihr mitverschuldeten, weil - siehe Bin Laden - gezüchteten Terrorismus will sie mit Waffengewalt besiegen. Doch der von ihr gewollte und die Gesetze der zivilisierten Welt missachtende Krieg fördert den Terror und kann nicht enden.
Damit ist nicht nur der gegenwärtig und seit drei Jahren andauernde Irak-Krieg gemeint. Abwechselnd und zugleich werden Diktaturen und an Auswahl fehlt es nicht - Schurkenstaaten genannt, was in der Regel das fundamentalistische Machtgefüge in den großmäulig mit Militärschlägen bedrohten Ländern festigt. Gleich, ob der Iran, Nordkorea oder Syrien zu Mächten des Bösen ernannt werden, dümmer und deshalb gefährlicher kann Politik nicht sein. Sogar die Wiederholung eines Kriegsverbrechens, der Einsatz von Nuklearwaffen, wird angedroht. Doch alle Welt hört weg und gibt sich ohnmächtig. Allenfalls wird die Teilnahme an voraussehbar weiteren Kriegen verweigert. Beispielhaft sagten vor drei Jahren die französische, die deutsche Regierung Nein - und später schloss sich die spanische an, indem sie die Komplizenschaft mit der wie zwangsläufig kriminell handelnden Großmacht USA aufkündigte-, doch selbst angesichts aufgedeckter Lügen und der Schande offenkundiger Folterpraxis gibt sich weiterhin Englands Regierung taub und tut so, als könne und müsse des Britischen Empire Tradition, die gnadenlose Kolonialherrschaft fortgeschrieben werden und das unter Federführung der Labour Party.
Solch unterwürfige Bündnistreue provozierte Widerworte: im Dezember des letzten Jahres wurde in Stockholm die Nobelpreisrede Harold Pinters veröffentlicht. In seinem beispielhaft schnörkellosen Text sprach sich der Dramatiker zuerst als Schriftsteller, dann als englischer Staatsbürger aus. Als seine bittere, niemanden schonende, also unser aller Versagen und rücksichtsvolles Bemänteln offenlegende Rede vorlag, löste sie hierzulande bis ins Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung blindwütige Attacken aus. Ein Theaterkritiker namens Stadelmaier versuchte Pinter als Altlinken, dessen Bühnenstücke längst passe seien, lächerlich zu machen und abzutun. An der Offenlegung von Wahrheiten, die hinter Beschwichtigungen und einem Gespinst von Lügen versteckt waren, wurde Anstoß genommen. Jemand, ein Schriftsteller, einer von uns, hatte in friedloser Zeit vom Recht der Anklage Gebrauch gemacht.
Ich zitiere aus Harold Pinters Rede:
"Nach dem Ende des 2. Weltkrieges unterstützten die Vereinigten Staaten von Amerika jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen" Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, EI Salvador und natürlich Chile. Die Schrecken, die Amerika Chile 1973 zufügte, können nie gesühnt und nie verziehen werden.
In diesen Ländern hat es hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts.
Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, umbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt."
Im Verlauf seiner Rede stellte Harold Pinter die Frage: "Wie viele Menschen muss man töten, bis man die Bezeichnung verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein?"
Diese Frage ist nicht leichthin als bloß rhetorisch abzutun, denn sie betrifft das lang erprobte und heuchlerische Zählverhalten des Westens, den Bodycount. Zwar sind wir buchhalterisch bemüht, die Opfer von Terroranschlägen aufzulisten - und deren Zahl ist schrecklich genug -, aber niemand zählt die Leichen nach amerikanischen Bomben- und Raketenangriffen. Ob im zweiten oder dritten Golfkrieg - den ersten führte Saddam Hussein unterstützt von den USA gegen den Iran -: grobe Schätzungen lassen Hunderttausende vermuten.
Gewiss ist von den bisher sorgfaltig gezählten 2400 gefallenen amerikanischen Soldaten des gegenwärtigen Irak-Krieges jeder Soldat als ein Toter zu viel zu beklagen, doch kann diese Verlustliste nicht einen rechtswidrig begonnenen und verbrecherisch geführten Krieg im Nachhinein begründen und gewiss nicht die übergroße Zahl der getöteten und verstümmelten Frauen und Kinder aufwiegen, die aus westlicher Sicht mit der barbarischen Umschreibung "Kollateralschäden" banalisiert wird. So gibt es denn auch nach westlicher Wertung nicht nur Lebende, sondern auch Tote erster, zweiter und dritter Klasse; dabei sind sie alle Opfer des wechselseitigen Terrorismus.
Harold Pinter hat das Unrecht benannt. Beispielhaft hat er bewiesen, was "Schreiben in friedloser Zeit" bewirken kann. Wir Schriftsteller sind aufgerufen, nicht nur anders, das heißt jenseits aller Parteinahme, die Toten zu zählen, sondern auch aufgrund unserer besonderen Begabung den einzelnen Toten, gleich ob Freund oder Feind, Frau oder Kind aus der Masse der namenlos Verscharrten zu lösen, auf dass er kenntlich wird als Opfer eines Vorgangs, der Krieg heißt und viele Ursachen hat.
Wer hat ihn gewollt? Welche Lügen haben seinen Zweck verschleiert? Wem bringt er Gewinn? Welche Börsenwerte steigert der Krieg? Wer hat wem jene Waffen geliefert, die so viel Tod brachten? Und mehr noch als die richterliche Frage, wen trifft die Schuld, sollte uns kümmern, ab wann wir mitschuldig wurden.
Als wir nur halbherzig nein sagten? Als wir uns einreden ließen, das sei nicht unser Krieg? Als wir meinten, uns mit der Abwandlung eines Sprichwortes, "Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen", bei jenen Liebkind zu machen, die schon immer der Meinung waren, der Dichter sollte sich dem vulgären Tagesgeschehen, also der schmutzigen Politik fern und die Kunst sauber halten? Als wir uns brav in Schweigen retteten? Ich spreche aus Erfahrung. Sechzehn zählte ich, als ich Soldat wurde. Mit siebzehn lernte ich das Fürchten. Und glaubte dennoch bis zum Schluss, als längst alles in Scherben gefallen war, CLI1 den Endsieg.
Seitdem will mir der Krieg selbst während Pausen, die Frieden heißen, nicht aufhören. Es ist wie ein Nachzittern oder vorwarnendes Beben. Es ist die wiederkehrende Krätze. Die seinen Wegspuren - ob auf dem Vormarsch, dem Rückzug - beiläufigen Verbrechen verjähren nicht. Ihn zu überleben war nur des Zufalls Laune zu verdanken. Seitdem nisten mir seine Geräusche im Ohr. Was immer ich schrieb, stets bestand der Krieg - und sei es auch nur in Nebensätzen - auf seinem Handlungsverlauf. Er verlacht Friedensschlüsse. Er vergleicht sich mit seinesgleichen, prahlt mit jeweils zum Einsatz gebrachtem Material, rechnet Tote mit Toten auf. Und uns Schriftstellern beweist er, dass Worte, sie mögen noch so treffend sein, ihn nicht aufhalten können. Auf Befragen zählt er sich zu den Menschenrechten. So erhaben setzt er sich fort. Doch gerät seine Erhabenheit immer dann ins Wanken, wenn Gelächter ihn bloßstellt. Wohl deshalb hat unser barocker Kollege Grimmelshausen seine während dreißig Jahre währender Kriegszeit gewachsene Einsicht dem Roman "Simplicissimus" als Motto vorangestellt:
"Es hat mir so wollen behagen Mit Lachen die Wahrheit zu sagen."
Denn lächerlich sind, so ernstgesichtig sie auftreten, des Krieges Fürsprecher. Wenn immer ihren Lügen Zugkraft mangelt, spannen sie Gott ins Geschirr. Ob Bush oder Blair, die Heuchelei ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Jenen Priestern und Missionaren gleichen sie, die seit alters her Waffen segneten und mit der Bibel den Tod in ferne Länder trugen. Weil oft karikiert, sind sie zu Karikaturen ihrer selbst geworden. Also lachen wir sie aus. Vielleicht könnte, wie in Hans Christian Andersens Märchen, das schlussendlich den Kaiser nackt sein lässt, ein nicht enden wollendes Gelächter den einen, den anderen Popanz bloßstellen, auf dass sie mit ihren Schleppenträgern verschwinden.
Aber - so höre ich jetzt schon Bedenken - was nützt das. Sogleich wird ein weiterer Popanz samt Schleppenträgern so gottgewollt ölgesalbt mit Lügen den nächsten Krieg begründen. Das war schon immer so.
Ja. Schon immer hieß es nach jeweils dem letzten Krieg: Nie wieder! Schwüre wurden laut. Auf einem Holzschnitt meines Lehrers Otto Pankok zerbricht Christus plakativ das Gewehr. Wir versicherten einander, aus der Geschichte lernen zu wollen. Die Vereinten Nationen fassten friedensstiftende Beschlüsse, die unter der Fuchtel der großmächtigen Vetomächte nur auf Papier wirksam wurden. An mahnenden, der Sorge verpflichteten Wörtern hat es nie gefehlt. Friedensbewegungen entstanden, lösten sich auf, fanden abermals Zulauf, um sich abermals aufzulösen. Als "Gutmenschen" verhöhnt, resignierten viele. Nur dem Krieg ging der Atem nicht aus. Und wenn er verschnaufte, dann nur, um sich neue Feinde zu erfinden, um neue Waffensysteme zu entwickeln und auf den freien Markt zu bringen: noch weiter tragende, zielgenauere, uranangereicherte, solche, die weit flächendeckend und schonungslos todbringend sind.
So verging friedlose Zeit. Wir Schriftsteller waren immer dabei, ob schweigend oder protestierend. Geschrieben wurde allemal: dafür und dagegen. Wir wissen das aus wiederholter Erfahrung. Als der immer noch andauernde Irak-Krieg, wie von den USA gewollt, zu beginnen drohte und als er dann schmutzig tatsächlich und zugleich lupenrein im Fernsehen begann, erklärte auch ich mich öffentlich. Zu Beginn und am Ende eines Textes zitierte ich ein Gedicht, das der deutsche Dichter Matthias Claudius geschrieben hatte. Ohnmacht spricht aus seiner Klage. Ohnmacht, die wir uns eingestehen sollten, ohne deshalb zu schweigen. Wie Matthias Claudius nicht schwieg, sondern uns sein bis heute gültiges "Kriegslied" hinterließ:
"s' ist Krieg I s' ist Krieg! 0 Gottes Engel wehre Und rede Du darein!
s' leider Krieg - und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!"