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Schrift als Musik für das Auge

In Rafik Schamis neuem Roman geht es vordergründig um die arabische Kalligraphie, einem Zauberwerk, das sowohl in Geschäfts- als auch in Liebesbriefen die eigenen Wünsche möglichst kunstvoll verschleiert und ihnen durch die Schönheit der Schrift die Aufdringlichkeit nimmt. Eigentlich ist das Verhältnis von Schrift zu Sprache, von Sprache zur Wahrheit, von Wahrheit zur Religion Thema des Buches, doch Schami weicht immer wieder in die ergiebigeren Gebiete von Liebe und Gewalt aus.

Von Florian Felix Weyh |
    Hier zeigt sich, dass Hochbegabung selten mit besonderer Menschenkenntnis einhergeht, sondern sich eher mit Arroganz und ausgeprägten Vorurteilen paart. Hamid Farsi, einer der vier Hauptprotagonisten in Rafik Schamis neuem Roman, ist kein besonders angenehmer Zeitgenosse, sondern ein Fanatiker. Kein religiöser, gewiss nicht - diesen Part übernehmen die strikten Gegner seiner kalligraphischen Reformbestrebungen -, doch die Engstirnigkeit, mit der Farsi sich auf nur eine Sache konzentriert, führt ihn letztlich in den Untergang.

    "Schreibe mir den Satz, mit dem alles anfängt", sagte Serani. Es war der meistkalligraphierte Satz der arabischen Sprache. Alle Gebete, Bücher, Briefe, Reden, Gesetzbücher und Schriften der Muslime (...) begannen mit ihm: Bismillahi ar rahmani ar rahim. Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. (...) Hamid fand endlich die Form, die in der Tulut-Schrift den musikalischen Klang der Betenden zum Ausdruck bringen konnte. Die Wörter erhielten akkordeongleich eine melodische Dehnung oder Pressung. Er öffnete die Augen und begann zu schreiben. (...) Als Hamid zu Ende geschrieben hatte, nahm der Meister das Blatt an sich, prüfte es genau und sah den Jungen an. Er fragte sich, wie eine Distel eine solche Blüte zur Welt bringen konnte, und war erneut davon überzeugt, dass Gottes Wille unergründlich war. "Schreibe deinen Namen unten links hin und das Datum nach islamischer Zeitrechnung, und in einem Jahr werden wir sehen, welchen Fortschritt du gemacht haben wirst."

    Den macht er in Siebenmeilenstiefeln, Hamid Farsi, Sohn eines mäßig begabten und schwach ambitionierten Gebrauchskalligraphen aus Damaskus, der lieber Ladenschilder als Koransuren tuscht. Doch das Ausnahmetalent des Jungen tritt so offensichtlich zutage, dass selbst der unwirsche Vater davor in die Knie geht und ihn zum berühmtesten Meister der syrischen Kalligraphie in die Lehre schickt. Zehn Jahre dauert es normalerweise, bis man den Meisterbrief von Serani überreicht bekommt; Hamid Farsi erhält ihn schon am Ende des achten Jahres. Er ist eben nicht nur ein Wunderkind am gespitzten Schilfrohr, sondern auch ein enorm wissbegieriger und ehrgeiziger junger Mann, dem die Kalligraphie zum einzigen Lebensinhalt wird. Wer im nüchternen Universum des westlichen Alphabets lebt, kann diese Hingabe zunächst kaum begreifen. Was soll ein Kalligraph schon anderes sein als ein Dekorateur der Schrift, ein Auftragsschreiber für Menschen, die keine Zeit haben, lange Texte zu Papier zu bringen - oder schlichtweg Analphabeten sind? Irrtum, dafür gibt es eine niedrigere Kaste, die Antragsschreiber, Ardhalgis genannt:
    Im Damaskus der 50er Jahre konnten mehr als die Hälfte der Erwachsenen weder lesen noch schreiben. Der moderne Staat aber bestand auf geordneten Verhältnissen und deshalb verlangten seine Bürokraten jede auch noch so geringe Anfrage in schriftlicher Form. Diesen schriftlichen Antrag konnten sie dann verbindlich bearbeiten und mit einer Menge Staatsmarken und Stempeln versehen dem Bürger zurückgeben. Damit hoffte der Staat, so etwas wie Ansehen bei der Bevölkerung hervorzurufen, deren beduinische Wurzeln sie immer zu Anarchie und Respektlosigkeit gegenüber allen Gesetzen verführten.

    Der Kalligraph hingegen macht sich nicht zum Büttel der Behörden wie der Ardhalgi. Er steht über dem schnöden Nutzwert des Geschriebenen, darf sich als Künstler fühlen, beginnen bei ihm die Buchstaben doch zu tönen und zu klingen:

    Die arabische Schrift ist wie geschaffen dafür, Musik für das Auge zu sein. Da sie immer gebunden geschrieben wird, spielt die Länge der Bindung zwischen den Buchstaben eine große Rolle bei der Komposition. Die Dehnung und Kürzung dieser Bindung ist fürs Auge wie die Verlängerung oder Kürzung der Dauer eines Tones für das Ohr. (...) Und auch die unterschiedliche Breite sowohl der Buchstaben als auch der Übergänge am Fuß, Rumpf und Kopf der Buchstaben, von haarfein bis ausladend, beeinflusst diese Musik fürs Auge. Die Dehnung in der Horizontalen, das Wechselspiel zwischen runden und eckigen Buchstaben, zwischen senkrechten und waagerechten Linien nimmt Einfluss auf die Melodie der Schrift und erzeugt eine leichte, verspielte und heitere, eine ruhend melancholische oder gar eine schwere und dunkle Stimmung.
    Ein Zauberwerk, wenn man dafür empfänglich ist, somit Schlüssel zu manch verborgener Tür. Gebildete Araber in hohen Stellungen, potenzielle Geschäftspartner oder mächtige Potentaten betört man am besten mit einem kalligraphischen Meisterwerk, das die eigenen Wünsche möglichst kunstvoll verschleiert und ihnen durch die Schönheit der Schrift die Aufdringlichkeit nimmt. Der Angesprochene, solcherart als Empfänger einer Huldigung geschmeichelt, neigt dann nämlich zur Freigebigkeit, und das gilt gleichermaßen in amourösen Angelegenheiten.
    "Können Sie einen Brief schreiben, in dessen Worten die Liebe versteckt ist, die direkt ins Herz geht, ohne für den Verstand lächerlich zu erscheinen?", fragte er Hamid Farsi. (...) "Wie sollen Wörter das Herz erreichen, ohne durch das Tor der Vernunft zu gehen?", erwiderte Farsi und malte den Schatten eines Buchtitels. Es faszinierte Nassri, wie der Meister bei jedem Buchstaben konsequent den Schatten genau dort platzierte, wo er entstanden wäre, wenn eine Lampe in der oberen linken Ecke geleuchtet hätte. Die Buchstaben bekamen so eine dritte Dimension und schienen aus dem Papier herauszuragen. "So wie die Kalligraphie das Herz erfreut, auch wenn man die Wörter nicht entziffern kann", sagte Nassri. Farsi stockte und blickte auf. Er war überrascht, dass dieser Halbanalphabet zu einer solchen Antwort fähig war.
    Hier zeigt sich, dass Hochbegabung selten mit besonderer Menschenkenntnis einhergeht, sondern sich eher mit Arroganz und ausgeprägten Vorurteilen paart. Hamid Farsi, einer der vier Hauptprotagonisten in Rafik Schamis neuem Roman, ist kein besonders angenehmer Zeitgenosse, sondern ein Fanatiker. Kein religiöser, gewiss nicht - diesen Part übernehmen die strikten Gegner seiner kalligraphischen Reformbestrebungen -, doch die Engstirnigkeit, mit der Farsi sich auf nur eine Sache konzentriert, führt ihn letztlich in den Untergang. Nassri Abbani hingegen, ein sehr guter Kunde Farsis, mag zwar selbst mit der Feder nicht gut zugange sein, ihn aber als Halbanalphabeten zu betrachten, verkennt auf groteske Weise seinen sozialen Rang. Nassri ist der reiche, aus alter Familie stammende Oberschichtsangehörige und Farsi der Emporkömmling. Am Ende des Buches wird der eine tot sein und der andere im Gefängnis sitzen. Schuld daran hat natürlich die Kalligraphie, weil sie ein Mittel ist, Frauenherzen zu erweichen. Das mag ja angehen, solange es sich wie beim obigen Auftrag um die Betörung einer Prostituierten handelt, doch gerät ein Liebesbrief aus der Hand des Kalligraphen an die falsche Frau, nimmt das Unheil seinen Lauf. Machen wir es nicht zu spannend: Es ist Hamid Farsis eigene Gemahlin, um die sich die Tragödie mit Todesfolge entspannt. Alles beginnt damit, dass sich Nura ihren Mann nicht selbst aussuchen kann. Sie ist ein Spielball fremder Mächte, nicht erst in der Hochzeitsnacht, sondern schon davor:

    Nura wusste von ihrer Mutter, dass sie an dem Tag am ganzen Leib enthaart werden sollte. Die Hebamme ging routiniert und rücksichtslos vor und entfernte Streifen für Streifen mit einem speziellen Zuckerteig die Haare. Es schmerzte wie Schläge mit einem Nadelbrett, wie die Stiche einer Wespe. Der Schmerz steigerte sich und wurde unerträglich, als die Schamhaare entfernt wurden. Nura hatte das Gefühl, als risse die Hebamme ihr die Haut vom Leib. Sie weinte, aber statt sie zu trösten, schlug ihr die Hebamme ins Gesicht. "Schweig, Mädchen", knurrte sie. "Wenn du diese lächerlichen Schmerzen nicht aushalten kannst, wie willst du deinen Mann ertragen. Das hier ist ein Spielchen."
    Fürwahr: Glück und Freude beschert die Ehe mit dem viel älteren und gefühlskalten Kalligraphen der liebesbedürftigen Nura nicht. Außer sie regelmäßig - reichlich roh - zu beschlafen, weiß der Mann im Grunde nichts mit seiner intelligenten und sensiblen jungen Frau anzufangen, sperrt sie in seinem Haus ein und unterbindet Kontakte mit anderen Männern. In seiner hochmütigen Weltsicht gelten diese freilich erst ab einem bestimmten Alter als gefährliche Konkurrenz. Der schmächtige Lehrjunge Salman zählt nicht dazu, scheitert dessen angestrebte Mannwerdung doch schon früh, die selbstgebaute Hantel aus einer Eisenstange und Beton erweist sich als untaugliches Ertüchtigungsinstrument:

    Salman verwendete für die erste Seite den rostigen Eimer, den er hinter dem Hühnerstall fand. Leider konnte er nirgends einen ähnlichen Eimer für die andere Seite auftreiben. Nach langer Suche entschied er sich für eine alte, zerbeulte zylindrische Blechdose. Als alles getrocknet war, sah die Hantel ziemlich komisch aus, auf der einen Seite hing ein zylindrischer Betonklotz, auf der anderen Seite eine merkwürdige Form, die einer zerquetschten Wurst ähnelte. Salman war das egal. Ihm imponierte die Idee, die fast zehn Kilo schwere Hantel zu stemmen. Das war jedoch schwierig, denn die zylindrische Seite war um mehr als ein Kilo leichter als die Wurstseite. So konnte Salman die Stange nur ein paar Sekunden hochstemmen, dann kippte er seitlich weg.

    Und gibt die Mannbarkeitsübung rasch wieder auf. Das freilich hat einen Vorteil, denn später darf er gerade wegen seiner körperlichen Unscheinbarkeit als einziger von allen Angestellten der Kalligraphenwerkstatt Hamid Farsis Frau besuchen: Jeden Tag muss er dem Meister das Mittagessen von Zuhause ins Atelier bringen. Weil Salman aber nicht nur schmächtig, sondern in jeder Hinsicht anders ist - ein Christ unter Moslems, ein Armer im Mittelstand, ein Junge ohne Machoallüren - entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die nur blutig enden kann. Glück für den Leser: Die Liebe überlebt, denn Nura und Salman flüchten rechtzeitig, während der vierfach verheiratete Nassri Abbani, vor dem keine Damaszener Schönheit sicher ist, Opfer einer selbst verschuldeten Verwechslung wird. Ihn hält Hamid Farsi für den Verführer seiner Frau, als er in ihren Hinterlassenschaften die Liebesbriefe entdeckt, die er selbst, der Kalligraph, im Auftrag Nassris schrieb. Dass er dabei einem Irrtum erliegt, vermag er in blindem Zorn nicht zu begreifen; natürlich hat Nura die Schrift ihres Mannes erkannt und den reichen Verehrer keines Blickes gewürdigt. Mit der Ermordung Nassris besiegelt Hamid Farsi auch sein Schicksal, während Nura und Salman fernab in der Provinz ein neues Leben beginnen. So weit, so klar. "Das Geheimnis des Kalligraphen" wäre allerdings kein Buch in orientalischer Erzähltradition, beschränkte sich Rafik Schami auf vier Personen. Im Gegenteil, mehrere Dutzend Figuren kreuzen den Lebensweg der Protagonisten, mal für längere, mal für kürzere Zeit, so dass den Leser über 450 Seiten hinweg manchmal sein Namensgedächtnis im Stich lassen mag. Wie in der "Dunklen Seite der Liebe", dem erfolgreichen Romanvorgänger, entwirft Schami ein wahres Prachtpanorama des Lebens in Damaskus, Mitte des 20. Jahrhunderts, doch während in der "Dunklen Seite der Liebe" Sippenkonflikte, Religionsprobleme und politische Wirren ins Auge stachen, steht hier das Geschlechterverhältnis am Pranger. Es ist, gelinde gesagt, miserabel, denn Gewalt definiert den Anspruch des Mannes auf die Frau, und das zeigt sich schon an der drastischen sexuellen Metaphorik, die der Junge Salman in seinem Armeleuteghetto als Kind zu hören bekommt:

    Sarah war es, die ihm als erste von den Männern erzählte, die Samira besuchten, wenn ihr Mann, der Tankwart Jusuf, nicht zu Hause war. Sie wohnte am anderen Ende des Gnadenhofs zwischen dem Bäckergesellen Barakat und dem Hühnerstall.
    Als er Sarah fragte, warum die Männer zu Samira und nicht zu ihrem Mann kommen, lachte sie. "Dummkopf", sagte sie, "weil sie einen Schlitz hat da unten, und die Männer haben eine Nadel, und sie nähen ihr das Loch zu, und dann geht der Schlitz wieder auf und dann kommt der nächste Mann."

    Dass in diesen archaischen Verhältnissen Mann und Frau miteinander glücklich werden können, scheint wenig wahrscheinlich, und so gehört zu den eindringlichen Szenen des Buches ein Chor alter Frauen, der Nura vor der Hochzeitsnacht ihr bevorstehendes Schicksal schmackhaft ... nein erträglich machen will. Erfahrungswissen aus dem Universum der totalen Entfremdung zwischen Mann und Frau wird da laut:

    "Was er dir auch immer sagt, widersprich nicht. Das mögen Männer nicht."
    "Was er auch fragt, du weißt nichts, auch wenn du die Antwort kennst. Die Männer lieben das Unwissen der Frauen und unser Wissen geht sie nichts an."
    "Gib dich ihm nie hin, leiste ihm Widerstand, damit er dich erobern muss. Das mögen die Männer. Wenn du dich leicht hingibst - und sei es aus Liebe -, hält er dich für ein leichtes Mädchen."
    "Und nimmt er dich, habe keine Angst vor ihm. Eine Sekunde musst du die Zähne zusammenbeißen, dann ist er drinnen, und noch bevor du zehn Atemzüge machst, spuckt er den Saft seiner Begierde in dich hinein. Beginne wieder zu zählen, und noch bevor du hundert sagst, hörst du sein Schnarchen, und wenn er sehr potent ist, dann wiederholt er es dreimal, und spätestens dann ist er nur noch ein verschwitzter Lappen."
    "Du musst ihn in der Hochzeitsnacht leerpumpen, denn nicht beim ersten Erguss, sondern beim letzten ist sein Herz in deiner Hand. Er wird von nun an dein Sklave sein. Ist er in der Hochzeitsnacht nicht zufrieden, wird er dein Herr und ein Freund der Huren."
    So redeten sie auf Nura ein, als wäre sie auf dem Weg zu einem Feind.


    Es ist eine fremde, manchmal verlockende, oft aber abstoßende Welt, die Rafik Schami da schildert. Eine Welt, in der zivile Konventionen wenig gelten und allzu oft das Recht des Stärkeren triumphiert. Das war auch in der "Dunklen Seite der Liebe" so, dennoch fällt das neue Buch gegen das Meisterstück von 2004 merklich ab. Während der Vorgängerroman - nicht weniger komplex gebaut als das vorliegende, konstruktiv verschachtelte Buch - wie aus einem Guss erschien, hat man diesmal immer wieder den Eindruck eines Patchworkteppichs, in dem eine Unzahl von Szenen, Beobachtungen, Einfällen beliebig verwoben sind, als komme es nur auf ihre Überlieferung an, nicht aber auf ihre zwingende Einbindung in die Geschichte. Zu viele Randfiguren ohne Erzählauftrag kreuzen das Geschehen, und aphoristische Einsprengsel heilen diesen Mangel nicht, obwohl sie für sich genommen funkelnde Juwelen sind:

    Erst jetzt merkte sie, dass er nicht beschnitten war. "Hat dich der Beschneider vergessen?"
    "Nein, wir werden nicht beschnitten", sagte er.
    "Warum denn nicht? Es ist doch ein Zeichen, dass ein Junge erwachsen ist. Warum bei euch Christen nicht?"
    "Vielleicht wollte Jesus, dass seine Anhänger immer Kinder bleiben."

    Natürlich ist es legitim, an einen großen schriftstellerischen Erfolg anknüpfen zu wollen, doch insgesamt erscheint "Das Geheimnis des Kalligraphen" wie ein gespaltenes Werk. Eigentlich möchte der Autor etwas intellektuell Trockenes vermitteln - das Verhältnis von Schrift zu Sprache, von Sprache zur Wahrheit, von Wahrheit zur Religion -, doch weicht er dann immer wieder in die ergiebigeren Gebiete von Liebe und Gewalt aus. Erst im hinteren Teil des Buches lotet Schami die Tiefen des Stoffes aus, erzählt die traurige Geschichte des arabischen Schriftreformers Ibn Muqla, nach dessen Reformen im zehnten Jahrhundert fast eintausend Jahre Stillstand herrschten. Diese Eiszeit will Hamid Farsi beenden und ruft seine Kalligraphenkollegen zusammen. Man beschließt die Gründung einer Ausbildungsakademie, der eine Kette von Schulen im ganzen Lande folgen soll, und hofft, so die junge Generation zu einer Modernisierung des Arabischen anstiften zu können:

    "Lasst euch nicht einschüchtern, liebe Brüder, gerade weil wir den Islam lieben und den Koran heiligen, wollen wir diese schönste aller Sprachen nicht vermodern lassen. Wer Sprache pflegt, pflegt auch die Vernunft, und Gott ist die größte und reinste Vernunft. Von den Dummen wird Gott gefürchtet, von uns werden er und sein Prophet bis zum Ende aller Zeiten selbstbewusst geliebt und verehrt werden. Mein Traum wäre eine arabische Sprache, die alle Töne und Laute der Erde vom Nord- bis zum Südpol ausdrücken kann. Aber bis dahin ist ein weiter Weg. Also macht euch auf, Soldaten der Zivilisation, und spitzt eure Federn. Wir gehen zum Angriff über."

    Das ist mutig, denn Einschüchterung steht längst auf der Tagesordnung. Ein "Bund der Reinen" - sprich: religiöser Fanatiker - verwüstet folgerichtig die Akademie und die Werkstatt Hamid Farsis. Nicht allein der Inhalt des Korans gilt ihnen als sakrosankt, sondern auch die äußere Form, in der er überliefert wurde: Schreibweise, Schrift, Sprache. Was immer niedergelegt wurde, soll nie mehr verändert werden dürfen, ganz gleich ob überflüssige Buchstaben oder fehlende Zeichen für durchaus vorhandene Sprachlaute das allgemeine Verständnis erschweren. An diesem Umstand sind schon Generationen von Reformern gescheitert, nicht selten mussten sie mit ihrem Leben zahlen. So wirkt es wie ein kleines Wunder, dass eine der zahlreichen weltlichen Kurzregierungen Syriens auf Hamid Farsis Linie einschwenkt. Stolz verkündet der zuständige Minister:

    "Ich denke, es gebührt Damaskus die Ehre, den ersten ernsthaften Schritt zur Reform zu tun. Ab nächstem Schuljahr sollten alle Schüler in Syrien nur achtundzwanzig Buchstaben als Alphabet lernen. Der vorletzte Buchstabe LA ist keiner. Er ist ein über tausenddreihundert Jahre alter Irrtum. Der Prophet Muhammad war ein Mensch, und niemand außer Gott ist fehlerfrei. Deshalb aber müssen wir unsere Kinder nicht bereits beim Lernen des Alphabets zwingen, der Logik abzuschwören und Falsches für Wahres zu betrachten. Es sind achtundzwanzig Buchstaben. Das ist nur eine kleine Korrektur, aber sie geht in die richtige Richtung."
    Dieser Minister freilich ist Christ und ohne Hausmacht im Lande. Gegen die geballte Macht der islamischen Führer kommt er nicht an; schon die Minireform stößt auf maximalen Widerstand. Dabei sind sich alle Fachleute einig:

    LA ist ein Wort und besteht aus zwei Buchstaben, es bedeutet "nein". Aber nicht nur die Freunde des Propheten, tausende von Gelehrten und unzählige Menschen, die des Lesens mächtig waren, schwiegen über tausenddreihundert Jahre lang und lehrten ihre Kinder ein Alphabet mit einem überflüssigen und dazu falschen, weil zusammengesetzten Buchstaben.
    Man könnte das eine Petitesse nennen, doch ist der Fall wohl symptomatisch für den Ultrakonservativismus der arabischen Kultur, wie ihn Rafik Schami in seinen Büchern schildert. Dass der Autor dennoch auch mit diesem Roman die Völkerverständigung vorantreibt, steht außer Zweifel. Mit Schami spricht und schreibt ein deutsch-syrischer Intellektueller, der hie wie da zuhause ist und beide Welten miteinander zu versöhnen trachtet. Könnte folgender Zweizeiler nicht sogar aus der Feder eines europäischen Aufklärers stammen?

    Elend leiden die Vernünftigen im Paradies. Und paradiesisch wohl fühlen sich Ignoranten im Elend.
    So liegt letztendlich, wer cum grano salis beim Thema Kalligraphie und Reformwiderstand auch an die Wirren der hiesigen Rechtschreibreform denkt, nicht gänzlich falsch; zur kulturellen Überheblichkeit jedenfalls besteht kein Anlass. Operationen am lebenden Sprachkörper rufen nun mal heftige Schmerzreaktionen hervor.