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Schriften 5: Gelehrtenrepublik. Beiträge zur deutschen Dichtungsgeschichte

Kenner wissen, daß Karl Mickel schon seit drei Jahrzehnten zu den bedeutendsten Dichtern der Zeit gehört. Es muß Gründe haben, daß er - anders als manche gleichaltrigen Generationsfährten aus der DDR - nicht die große Öffentlichkeit fand. Das gilt erst recht für die sogenannten alten Bundesländer, wo der Name Mickel selbst denen nichts sagt, die sich für die zeitgenössische Literatur offen zeigen.

Manfred Jäger |
    Auf den ersten Blick verweist solche Unkenntnis auf simple verlagstechnische Ursachen. Die prominenten Autoren aus der DDR hatten ihren West-Verlag. Ungefähr zeitgleich - oder wegen der Engpässe im den volkseigenen Druckereien sogar vorfristig - erschienen deren Bücher in renommierten Häusern wie Luchterhand, Fischer, Hanser, Wagenbach oder Suhrkamp.

    Geschicktes Marketing, das auch die kulturpolitischen Querelen zwischen "Geist und Macht" im Staate Ulbrichts und Honeckers nutzte, öffnete- per "Lizenzausgabe" - den großen deutschsprachigen Markt im "NSW", dem "nicht-sozialistischen Wirtschaftsgebiet". Von Karl Mickel aber kam nur ein einziges Mal eine Gedichtauswahl im Westen heraus, 1967 bei Rowohlt, und auch noch unter dem lateinischen Titel "Vita nova mea". Mickel wurde weder in dem Reinbeker Unternehmen noch in einem konkurrierenden West-Verlag zum Hausautor, zumal es dem zurückhaltenden Mann, der wußte, was er wert war, nicht lag, in eigener Sache zu trommeln.

    Mickels Bücher erschienen in Abständen, aber doch kontinuierlich im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig. Die frühe Nachkriegsgründung aus dem Jahre 1946 entwickelte sich seit den sechziger Jahren zu einem fahrenden Verlag für sozialistische Gegenwartsliteratur. Immer wieder geriet er ins Zentrum kulturpolitischer Stürme. Hier erschien zum Beispiel Christa Wolfs 1964 noch heftig angefeindete Erzählung "Der geteilte Himmel" und 1969 ihr seinerzeit als konterrevolutionär eingestufter Roman "Nachdenken über Christa T. ", was dem damaligen Verlagsleiter Heinz Sachs eine öffentliche Selbstkritik und die Entlassung eintrug. Bitterfeld lag nicht weit weg, und der "mdv" sollte auch der neuen Literatur von schreibender Kumpelhand aufhelfen. Mickel, die staatlichgeförderte Begabung von genuin proletarischer Herkunft, hielt den Autodidaktenwahn der an die Macht gelangten Autodidakten für eine lächerliche Marotte. Er sah die Widersprüche und benannte sie. Er bekam Ärger, aber er suchte ihn nicht. Die Leitung des Mitteldeutschen Verlags lag inzwischen in den Händen von Eberhard Günther, der sich durchzuschlagen suchte. Er verteidigte so gut es ging, "seine Autoren", und er zwang sie zugleich, der staatlichen Zensur nachzugeben, als deren Büttel er fungieren mußte. Erich Loest hat detailliert protokolliert, wie Eberhard Günther im vertraulichen Gespräch, in dem Macht und Ohnmacht freilich so verteilt waren, daß der Kampf unter Ungleichen ausgetragen werden mußte, seinen Roman "Es geht seinen Gang" entschärfte, um ihn auf diese Weise doch durchzusetzen. Denkt heute noch jemand darüber nach, was es bedeutete, daß bis zum Ende der DDR in Halle an der Saale ein Verlag existierte, der sich mitteldeutsch nannte? Mitteldeutsch? Trotz der politisch erzwungenen Zwei-Staaten-Theorie! Wenn es in Halle einen fahrenden DDR-Verlag gab der sich mitteldeutsch nannte, mußte es dann nicht - wenigstens virtuell ein einheitliches Deutschland geben? Karl Mickel fand Gefallen an solchen Details, die nicht ins ideologische Raster paßten.

    Es gehört zu den Kuriosa der deutschen Vereinigung, daß Eberhard Günther, ein SED-Literaturfunktionär, der vor der Verlegerkarriere im Kulturministerium reüssierte, seinen "volkseigenen Herrschaftsbereich" privatisierte. "Management-buy-out" nennt man die Eigentumsübertragung. Mit Bildbänden Adreßbüchern und Behördenverzeichnissen versuchte Günther zu überleben. Im 50. Jahr, 1996, drohte dennoch der Konkurs. Eine Hallenser Druckerei sprang ein, kaufte den Verlagsnamen und die "Backlist" und irgendwie geht es weiter, auch zur Freude von Karl Mickel. Belletristik kann sich das historisch belastete Unternehmen eigentlich gar nicht leisten. , Der Mitteldeutsche Verlag hat in den neunziger Jahren jedoch eine außerordentlich bemerkenswerte Volker-Braun-Gesamtausgabe in chronologischer Folge zu Ende geführt. Die grauen, unansehnlichen Schutzumschläge der Braun-Edition schmücken- ironisch an die DDR-Papierqualität erinnernd - auch die Werkausgabe von Karl Mickel, -der dem Mitteldeutschen Verlag dankbar und solidarisch die Treue hält.

    "Schriften" lautet die neutrale Bezeichnung der Werkausgabe, deren Fortsetzung ohne die Druckkostenzuschüsse der Stiftung Preußische Seehandlung und der Wilhelm-Müller-Stiftung vermutlich gefährdet wäre. Die Bandnummer 5 wurde für Mickels "Beiträge zur deutschen Dichtungsgeschichte" freigehalten."Gelehrtenrepublik" heißt das fast 700 Seiten umfassende Buch. Zum dritten Mal legt Mickel damit eine Sammlung von Aufsätzen und Notizen unter diesem Titel vor. 1976 war "Gelehrtenrepublik" noch eine Broschüre von 100 Seiten, das Reclam-Taschenbuch gleichen Namens hatte 1990 dann schon den dreifachen Umfang, weil zu unterschiedlichen Anlässen verfaßte Gelegenheitsarbeiten über Zeitgenossen aufgenommen wurden.

    Den Kern aber bilden die Studien über die "Väter" 'die ästhetischen Vorbilder, die Klassiker. Mickel hat den Ausgaben ganz knapp gehaltene Vorbemerkungen beigegeben, was seine Scheu offenbart, das Eigene selbst zu kommentieren. Der Kernsatz des Vorworts von 1976 lautet:

    "Der Methode liegt die Überzeugung zugrunde, daß die Dichter vergangener Perioden Augen im Kopf gehabt haben, daß ein Mann, der heute die gleiche Kelter tritt. lernen kann, mit diesen Augen zu sehen;er ist dann Augenzeuge der Geschichte."

    Fünfzehn Jahre später hat er diese Einsicht im Vorwort der zweiten Ausgabe noch einmal bekräftigt und zwei Maximen hinzugefügt:

    "Literaturanalyse ist die Fortsetzung des Kunstwerkes mit anderen Mitteln, also Historiographie. Die großen Kunstwerke sind die Leitfossilien ihrer Zeitalter; sie beantworten die Frage: Wo bin ich?"

    Mickel verbindet die Nüchternheit des Historikers mit der Begeisterungskraft des Kunstfreundes. Der Ausbildung nach ist er Historiker, genauer gesagt, Wirtschaftshistoriker. Er studierte bei Hans Mottek und Jürgen Kuczynski und war selbst eine Zeitlang Dozent an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst. Sein tiefenscharfer Blick richtet sich auf die Zeitumstände, aber es liegt ihm daran, die lästige Distanz zu den fernen Zeiten zu überwinden. Wenn es um Kunst und Künstler geht, bedarf es auch der "Einfühlung", versteht man den Begriff nicht sentimental, sondern konkret sinnlich: Man kann und man sollte mit den Augen der Großen sehen, man muß sich in ihre Denk- und Formenwelten hineinversetzen.

    Mickel schlägt vor, sich den Großen "mit freiem, ehrfürchtigem Gelächter" zu nähern. Das Lachen hilft, die "Einschüchterung durch Klassizität" abzuwehren, wie Brecht die Gefahr nannte, die von übermächtiger Tradition herrührt. Andererseits ist Ehrerbietung vonnöten, denn die klugen Leute hatten Augen im Kopf. Hier spürt man die verdeckte Polemik gegen die marxistisch-leninische Vulgärideologie, die besserwisserisch den bürgerlichen Dichtern ihre auf den berechtigten "Klassenschranken" beruhende unvermeidliche Begrenztheit des Denkens vorhielt. Mickel urteilt nicht von oben herab. Seine Position erinnert an die Haltung Hans Mayers, der 1955 in einer Leipziger Festrede zur Schiller-Ehrung meinte, die Frage müsse nicht heißen, "wie stehen wir heute zu Schiller, -sondern wie stehen wir heute vor Schiller". 'Bei Mickel steht, nicht wir erforschen die Klassiker, sondern sie uns. Die untergründige Frage in Mickels Buch lautet:Wie stehen wir heute vor Klopstock? Ausgerechnet der vergessene, für langweilig gehaltene Verfasser des "Messias" wird enthusiastisch in den Blick genommen. Aus den raren autobiographischen Stellen des Bandes geht hervor, daß die jungen, angehenden Dichter des um den verehrten Lehrer Georg Maurer gescharten Kreises von 25- bis 30jährigen einem kollektiven Enthusiasmus huldigten:

    "Zu meinem Glück fand ich sehr früh einen arbeitenden Freundeskreis. Wir waren alle Anfänger: Tragelehn, Czechowski, Braun, Leising, Jentzsch, Rainer und Sarah Kirsch, etwas später Endler und Elke Erb. Anfang der 60er Jahre trafen wir uns regelmäßig, ein- oder zweimal die Woche, kritisierten einander erbarmungslos lachend und lasen die Klassiker. Halbscherzend nannten wir uns die Klopstock-Gesellschaft;in der Zeitung hieß es, wir seien der Petöfi-Club der DDR."

    Das war ein heftiger Vorwurf, denn er suggerierte illegale Gruppenbildung. Der Budapester Petöfi-Club mit Georg Lukacs, Julius Hay und Tibor Dery als Leitfiguren galt als Keimzelle, die die ungarische Konterrevolution von 1956 geistig vorbereitet habe.

    Die Berufung auf Klopstock hatte sowohl politische wie poetische Gründe. Mickels Titel "Gelehrtenrepublik" spielt an auf Klopstocks berühmte Schrift "Die deutsche Gelehrtenrepublik" von 1774. Es bestand ein unausgesprochenes Spannungsverhältnis zwischen Gelehrtenrepublik und Arbeiter- und Bauernstaat. Mit Klopstock war den jungen suchenden Intellektuellen "ein sonderbarer Geist" erschienen, der helfen sollte, einen Platz in dem unübersichtlichen Konfliktfeld zwischen Geist und Macht zu finden:

    "Der Dichter der harten Fügungen hatte uns eingenommen;die Revolutions-Oden: Jubel und Fluch kollidieren unvermittelt, dergestalt, daß Dieser von Jenem, Jener von Diesem nicht relativiert wird. Wir waren enthusiasmiert für den politischen Klopstock. Der XX. Parteitag der KPdSU (B), Chrustschows Resumé der Sozialistischen Schreckensherrschaft, persönliche Erfahrungen . . .: Mußten nicht wir, wie seinerzeit mutatis mutandis Klopstock, mit kontradiktorischen, gleichermaßen gültigen Einsichten hinfort existieren und dichten ?"

    Mickel deutet Klopstocks Huldigungsgedichte, Widmungen und Dedikationen an Hochgestellte als Versuche, die Mächtigen für "vernünftige", aufklärerische Zwecke einzuspannen, sie zu manipulieren. Das von ihnen gezeichnete Idealbild soll sie ermuntern, diesem ähnlich zu werden. Sie sollen die Projektion real erfüllen. Auch Goethe sei zehn Jahre lang in Weimar diesen Weg der intellektuellen Konspiration gegangen. Es sein nicht ganz absurd gewesen, daß Klopstock von Joseph II. erwartet habe, er werde die deutsche Gelehrtenrepublik in Form einer Akademie etablieren, ähnlich der in Frankreich als Wegbereiter des Fortschritts tätig gewordenen. Nur verklausuliert äußert Mickel in seinem 1975 verfaßten Text über die Gelehrtenrepublik Verständnis für Klopstocks Haß auf die Jakobinerdiktatur, für dessen schockhaften Schauder vor den finsteren Konsquenzen. Auch hier werden die Verbrechen des Stalinismus mitgedacht. Es bleibt eine Leerstelle, die zu bearbeiten wäre. Auch Goethe sei der historischen Aporie so genau aus dem Weg gegangen, als wüßte er die desperate Antwort auf die Frage, ob der soziale Fortschritt Fortschritte der Humanität liefere. Das steht in den schon 1968 geschriebenen Goethe-Studien "Die Entsagung".

    Seine Antwort gab Mickel in dem großen geschichtsphilosophischen in sinnlich -konkreter Metaphorik gehaltenen Gedicht "Der See" von 1963, das drei Jahre später bei der Veröffentlichung in der vielgelesenen Studentenzeitung "Forum" zu heftigen politischen Anfeindungen führte. Denn Geschichte wurde gezeigt als "unersättlicher Kreislauf, Leichen und Laich". Wenn im Gedicht "Der See" der furchtbare Tamerlan aufgerufen wird, ist natürlich auch Stalin gur Stelle:

    "Also bleibt einzig das Leersaufen/Übrig, in Tamerlans Spur, der soff sich aus/Feindschädel-Pokalen eins an ('Nicht länger denkt der Erschlagene'/sagt das Gefäß, 'nicht denke an ihn!' sagt der Inhalt)."

    Heute kann man Mickels Aufsätze über die Fürstenerzieher Klopstock, Goethe oder Wieland, einen anderen "berühmten Verschollenen", auch als Beiträge darüber lesen, warum sich die Illusion der Fürstenaufklärung der manipulativen Erziehung der fahrenden Genossen trotz aller Mißerfolge bei Literaten und und Künstlern so lange halten konnte. Diese wenig naive Einstellung kann man Mickel übrigens am allerwenigsten vorhalten. Er hatte aus der Geschichte Skepsis gelernt. So konnte er 1979 auf eine Interview-Frage, welche Forderungen er an die Gesellschaft stelle, nüchtern antworten:

    "Ich stelle an die Gesellschaft keine Forderungen. Was soll ich von einer Gesellschaft - die ich nur als Zustandsgröße eines Geschichtsprozesses verstehen kann -, was sollte ich von ihr fordern? Ich kann nicht verlangen, daß sich die Gesellschaft nach meinen Wünschen richtet, und ich weiß nicht, ob meine Wünsche, wenn die Gesellschaft märchenhafterweise sich nach ihnen richtete, überhaupt förderlich wären. , "

    Er ist kein Einmischer, kein Volksstribun, kein Mann der Öffentlichkeit. Er hat sich nie der Politik als aktiver Partner angeboten - wie zum Beispiel Volker Braun, der sich mit dem System in allen Facetten herumschlug und herumquälte und daraus seine Produktivität zog. Am Ende interessierte Mickel doch vor allem, an welche Stelle in seinem Vers das Komma hingehörte. Der Gegensatz mag nebenbei zeigen, wie wenig die griffige Bezeichnung "Sächsische Dichterschule" hergibt. Denn Herkunft und Freundschaftsbeziehungen begründen noch nicht ästhetische Gemeinsamkeiten. Daß identische Traditionsbezüge vergleichbare Wirkungen in den unterschiedlichen Werken hinterlassen haben, soll freilich nicht bestritten werden.

    Hoch problematisch erwies sich zum Beispiel der Umgang mit dem nahen, manchmal sogar niederdrückenden Vorbild Brecht. Auch für Mickel war Brecht der bewunderte Meister, zumal er ihn an das eigentlich nicht wieder erreichbare 18. Jahrhundert erinnerte, in dem es für Autoren noch nicht die Verengung durch Spezialistentum gegeben habe. Wie er sich von diesem Gott seiner Jugend entfernte, beschreibt er mit der ihm eigenen Kühle. Brecht-Lektüre sei für ihn ein Urerlebnis gewesen, vorher habe er nur Jack London und Traven gekannt. Aber 1978 schon ging Mickel auf Distanz: Er nannte Brecht einen Traditionalisten klassischen Typs. 1997 fügte er kritisch und verständnisvoll hinzu: "Brecht war an den inneren Widersprüchen des Imperiums, welches sich sozialistisch nannte, ästhetisch verzweifelt; er, der kalte Sicht auf die Verhältnisse immer gefordert hatte, brachte es nicht übers Herz diejenigen, welche Hitler niedergeworfen hatten, im Kunstwerk kalt zu betrachten." 1998 lieferte er noch ein Albumblatt nach, in dem er eine Definition der Kunst unterbringt und am Ende ein Spannungsfeld zwischen Brecht und Arno Schmidt aufreißt, für den das Stichwort "Gelehrtenrepublik" auch wichtig und sogar romantitelgebend gewesen ist:

    "Vernunft muß gelehrt werden, auch ästhetisch. Kunst ist Unvernunft und gehorcht drakonischen Gesetzen: denen, die sie sich selbst gibt. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt; die Gesetze dieser Welt codifizieren die Anarchie. Brecht weigerte sich, die Metastasen sozialen Krebses als Konglomerat pittoresker Schnörkel zu betrachten. Er erkannte die Welt-Revolution, gründete sein Werk auf ihr Gelingen:und starb vor dem Scheitern. Das gegenwärtig sich schließende Jahrhundert hinterläßt zwei klassische National-Autoren: Bertolt Brecht und Arno Schmidt. Brecht dichtete die Katastrophe als Idyll, Schmidt die Idyllen jenseits der Katastrophen."

    Manchen Leser mag enttäuschen, daß Mickel nur ungern über seine eigenen Arbeiten spricht. Er verweigert Kommentare, um die Leser nicht in bestimmte Richtungen zu drängen. In der Parodie eines philologisch akribischen Editionsberichts - dem einzigen Beitrag mit akademischen Fußnoten - läßt er über sich schreiben:

    "Hingegen war Mickel nicht bereit, mündlich Erläuterungen zu geben oder auf Rückfragen schriftlich einzugehen. Wäre er schon gestorben, ließ er wissen, müßte ich selbstverständlich auch ganz und gar meinem philologischen Scharfsinn vertrauen. Diese Einstellung war zu repektieren."

    Es liegt auch an solcher Zurückhaltung, die auf ein hohes ästhetisches Selbstbewußtsein schließen läßt, daß sein lyrisches Werk, das in den ersten beiden Bänden bis zum Jahr 1988 gesammelt vorliegt, zu wenig bekannt geworden ist. In einem der eher spröden, wenig mitteilsamen Gespräche heißt es einmal:

    "Sobald ich das Verseschreiben technisch beherrschte, hatte ich keinen Grund weiter, es dauernd zu praktizieren. Mehr denn fünf Gedichte pro Jahr habe ich nicht zu Papier gebracht Selbstverständlich sind meine Verse keinesfalls linkerhand hingeworfen. "

    Was in der DDR vor allem der sechziger Jahre offiziell gelobt wurde, weil es liedhaft, optimistisch und verständlich war, verachtete er. 1964 schrieb er in einem Werbeprospekt des Mitteldeutschen Verlages: "Die Religion war der höchste Gegenstand für den Klopstock. Wir schreiben keine Gedichte, die sich auf dieser Ebene bewegen, unsere höchste Ebene ist die Bezirksebene."

    Große Gegenstände seien aber nur in der großen Form erfaßbar. Die berühmte, von Mickel 1966 gemeinsam mit Adolf Endler edierte Anthologie "In diesem besseren Land" sollte die neuen Qualitätsmaßstäbe setzen. Ähnlich wie bei Klopstock sollte der huldigende Titel einen Wunsch, eine Hoffnung ausdrücken: Die DDR möge das bessere Land werden, also ein Land, in dem eine solche Anthologie begrüßt und gewollt wäre. Sie wurde jedoch angeprangert und verworfen. Mickel beschreibt den Besuch der Herausgeber bei Peter Huchel in Wilhelmshorst, weil sie acht Gedichte des verfemten und seiner Zeitschrift "Sinn und Form" beraubten Dichters aufnehmen wollen, was sogar gelingt. Es ist ein schwieriges, unfreiwillig komisches Gespräch, weil Huchel geschworen hat, in der DDR nichts mehr zu publizieren, solange die Behörden ihn nicht frei reisen lassen.

    Mickels Sammlung enthält nicht nur gelehrte Abhandlungen und hochgebildete Essays, sondern auch viele kleine Texte mit merkwürdigen Beobachtungen und unerwarteten Verknüpfungen. Die Operettenhandlung der "Fledermaus" erklärt er aus dem Wiener Börsenkrach von 1873: Prinz Orlofsky lebt auf Pump. Ein Befremden über Goethes Gedicht "Willkommen und Abschied" rührt daher, daß das Pferd für uns kein selbstverständliches Fortbewegungsmittel mehr sei. An Goethes Ballade "Der Schatzgräber", einem Text über die Arbeit, zeigt er, wie das metrische Geklapper den Besen zum Roboter werden läßt. Der Leser kann sich an satirischen Aphorismen erfreuen.

    "Bürgerwelt: Die Geometrie der Kleingartenanlage entspricht der Geometrie des bürgerlichen (d.i. vom Gotteshaus gesonderten)Friedhofs. In der Gartenlaube erlebt der kleine Mann, wie er im Mausoleum ruhen könnte, wenn er eins bekäme. Die Sequenz der Beete entspricht der Sequenz der Grabreihen."

    Zur Genauigkeit von Mickels Blick gehört es jedoch, gerade bei der Verknüpfung des Heterogenen nicht einseitig zu werden. Manchmal drückt er seine Dialektik umständlich aus. Wenn er feststellt, jeder Nutzen sei mit Schaden vergesellschaftet, meint er vielleicht doch nur, daß jedes Ding mindestens zwei Seiten habe. Das gilt übrigens auch für die Tradition. Ist sie zu stark, läßt sie Neues nicht aufkommen, ist sie zu schwach, wird Wertvolles vergessen. Mickel urteilt mit Augenmaß. Erfahrungsberichte aus seiner Arbeit an der nach Ernst Busch benannten Hochschule für Schauspielkunst, wo er Verskunst unterrichtet, zeigen, wie sehr solche Praxis ihn gegenüber den Berufsdichtern privilegiert. Der vorliegende Band ist eine Fundgrube von Einfällen, Beobachtungen und Fragmenten, aber kein Gedankengebäude. Denn das wäre ein Mausoleum oder eine Gartenlaube.