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Schriftsteller in der Rolle des Historikers

Man traut dem Dichter und Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bekanntlich einiges an Weit- und Voraussicht zu, er steht im Ruf, über eine besondere Instinktsicherheit zu verfügen, die ihn früher und schneller als andere auf den Zeitgeist reagieren lässt. Nur eines kann Hans Magnus Enzensberger wohl nicht: Hellsehen.

Von Ursula März | 27.01.2008
    Er konnte nicht wissen, dass der amerikanische Schauspieler Tom Cruise just in dem Moment einen deutschen Medienpreis für Mut erhalten würde - den Mut, den es angeblich bedeutet, die Filmrolle des Widerstandshelden Graf von Stauffenberg zu übernehmen - , in dem sein Buch "Hammerstein oder der Eigensinn" erscheint.

    In diesem Buch dokumentiert Enzensberger die eher unbekannte, eher unspektakuläre Geschichte des Hitler-Gegners Kurt von Hammerstein, der 1933 seine militärische Funktion als Chef der Heeresleitung der deutschen Reichswehr aufgab, weil er nicht mitmachen wollte. Es ist zugleich ein Buch über die deutsche Gesellschaft in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung einer Gesellschaftsschicht: Des deutschen Militäradels, der durch Hitler zu Grunde ging.

    Äußerlich haben die beiden Ereignisse, die Preisverleihung an den Hollywoodianer und Scientologen Tom Cruise und Enzensbergers Publikation im Frankfurter Suhrkamp Verlag natürlich nichts miteinander zu tun. Aber sie bezeichnen zwei sehr unterschiedliche, ja entgegengesetzte Formen des Umgangs mit historischer Vergangenheit.

    Hier die etwas unheimliche Medialisierung mythisierter Szenen und Helden, die aus realen Personen übertragbare Chiffren macht, denn schon heute, bevor der Film über den 20. Juli überhaupt ins Kino gekommen ist, überlagert das Gesicht des Schauspielers Tom Cruise die Erinnerung an das Gesicht des eigentlichen Graf von Stauffenberg.

    Dort, im Fall von Enzensbergers dokumentarisch komplexem Buch, die Entfaltung geschichtlicher Verästelungen, politischer Ambivalenzen und Widersprüche, die simplifizierten Heldenlegenden im Weg stehen. Wer Enzensbergers Buch über General Kurt von Hammerstein gelesen hat, weiß eines: Geschichte mag aus der Rückschau einfacher aussehen, als sie war. In ihrer Gegenwart ist sie meist komplizierter, als man denkt. Und in Kurt von Hammerstein, geboren 1878, gestorben 1943, Chef der deutschen Armee bis zum Jahre 1934, fand Enzensberger eine historische Figur, in der sich die unterschiedlichsten Tendenzen, Ideologien und Bestrebungen einer ganzen Epoche zu kristallisieren scheinen. Hammerstein ist in der Dramaturgie dieses Buches nicht der singuläre Held und Protagonist, auf den alles zu läuft. Sondern der Mittelpunkt, von dem aus sich konzentrische Kreise in immer weitere Schichten der Historie des 20. Jahrhunderts wegbewegen.

    Von einem General namens Hammerstein habe ich vor mehr als einem halben Jahrhundert zum ersten Mal gehört, und zwar im Alten Stuttgarter Funkhaus an der Neckarstraße. Alfred Andersch, ein Mann, dem ich vieles verdanke,

    schreibt Enzensberger im Postskriptum,

    hat mich 1955 in seine Redaktion Radio-Essay beim Süddeutschen Rundfunk geholt, ein erster und sehr interessanter Job, denn damals war das Radio ein Leitmedium mit Freiheitsgraden, die heute undenkbar geworden sind. Bei Andersch gaben sich Autoren wie Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt und Theordor W. Adorno die Klinke in die Hand. Darüber hinaus gehörte er zu den ganz wenigen, die sich für die Schriftsteller des Exils einsetzten, von denen der Kulturbetrieb damals nichts wissen wollte und die, meist in miserablen Verhältnissen, irgendwo im Ausland überlebt hatten. Eines Tages erschien, auf seine Einladung hin, in der Stuttgarter Redaktion ein älterer, gesundheitlich etwas angeschlagener Mann aus San Francisco, klein von Gestalt und schäbig gekleidet, aber von kämpferischem Temperament. Franz Jung gehörte damals zu den Vergessenen seiner Generation.

    Seit Ende der 20er Jahre war Franz Jung eng mit einer deutschen Kommunistin namens Ruth Fischer befreundet, auf die Enzensberger ebenfalls in den 50er Jahren aufmerksam wurde. Beide, Franz Jung wie Ruth Fischer, hatten sich bereits mit der Biographie General Hammersteins und seiner Familie befasst und planten, auf der Grundlage eines unveröffentlichten Kolportageromans mit dem Titel "Die Töchter des Generals", den Ruth Fischers Lebensgefährte Arkadi Maslow 1938 verfasst hatte, nun, zwanzig Jahre später, gemeinsam einen Tatsachenroman über Hammerstein zu schreiben und daraus einen Fernsehfilm zu entwickeln. Aus beidem wurde nichts. Aber durch seine Bekanntschaft mit den Exilanten kam der junge Hans Magnus Enzensberger in Berührung mit dem historischen Stoff um General Hammerstein.

    Ein dritter Autor, der sich mit Hammerstein und seinen Töchtern beschäftigt hat, ist Alexander Kluge,

    der indes in seinem Buch "Die Lücke, die der Teufel läßt", die historischen Fakten in historische Fiktion umgießt, während sich Enzensberger so genau wie möglich an Fakten und Überlieferungen hält. Der Inhalt seines Sachbuches über den Fall Hammerstein ist so komplex und mäandernd wie seine historiographische Genese. Allein das Personenregister stellt ein Lexikon der Epoche dar, mit Dutzenden berühmten Namen wie Hannah Arendt über Hindenburg bis zu Leo Trotzki - und Dutzenden unberühmten.

    Neben dem Personenregister umfasst Enzensbergers Buch auch eine umfassende Literatur- und Quellenliste, auf den beiden letzten Seiten findet sich zudem ein Stammbaum der Hammerstein´schen Sippe. Dies alles macht deutlich: Hier ist nicht der dichtende, erfindende Schriftsteller am Werk, sondern ein Schriftsteller in der Rolle des Historikers, dem forschen vor schreiben geht, der mindestens so viele Stunden in Berliner und Moskauer Archiven zugebracht hat wie am eigenen Schreibtisch und der nicht behauptet, was er nicht verifizieren kann. Über Enzensbergers Postskriptum steht der Satz "Warum dieses Buch kein Roman ist". Keinen Zweifel will der Autor offensichtlich daran lassen, dass "Hammerstein oder der Eigensinn" dem historisch-dokumentarischen Teil seines Werkes angehört, in dem sich bereits Reportagen über Europa, Thesenstücke über Kuba und die Geschichtsprosa "Der kurze Sommer der Anarchie" über den spanischen Bürgerkrieg befinden; historisch nähere, leichter erforschbare Themen.

    Trotzdem habe ich, wenn auch erst sehr spät, vielleicht zu spät, weil viele Zeugen nicht mehr am Leben sind, beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Das scheint mir schon deshalb notwendig, weil sich an Hand der Geschichte der Familie Hammerstein auf kleinstem Raum alle entscheidenden Motive und Widersprüche des deutschen Ernstfalls wieder finden und darstellen lassen: Von Hitlers Griff nach der totalen Macht bis zum deutschen Taumel zwischen Ost und West, vom Untergang der Weimarer Republik bis zum Scheitern des Widerstandes und von der Anziehungskraft der kommunistischen Utopie bis zum Ende des Kalten Krieges. Nicht zuletzt handelt diese exemplarische deutsche Geschichte von den letzten Lebenszeichen der deutsch-jüdischen Symbiose und davon, dass es lange vor den feministischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte die Stärke der Frauen war, von der das Überleben der Überlebenden abhing.

    Aber wer war er eigentlich - General Kurt von Hammerstein, um den sich Enzensberger weit verzweigte Forschungen drehen? Auf den ersten Blick ein typisches, mustergültiges Mitglied seiner Klasse mit einer mustergültigen Karriere. Im Jahr 1888, als Zehnjähriger also, betrat er die Kadettenanstalt Plön, ab 1907 besuchte er die Kriegsakademie in Kassel, 1917 erhielt er den Rang eines Majors, 1925 wurde er Oberst, 1929 wurde er zum Generalmajor, Chef des Stabes im Gruppenkommando I in Berlin berufen, im gleichen Jahr zum Generalleutnant, ein Jahr später erreichte Kurt von Hammerstein den Gipfel seiner beruflichen Karriere: Er stieg in die oberste Generalität der deutschen Reichswehr auf, wurde General der Infanterie in der Funktion des Chefs der Heeresleitung.

    Hammerstein wohnte in den letzten Jahren der Weimarer Republik mit seiner Familie im Ostflügel des Bendlerblocks in Berlin. Er war seit 1907 mit Maria von Lüttwitz verheiratet, gemeinsam hatten sie sieben Kinder. Soweit die äußeren, einem wilhelminischen Lebenslauf ganz und gar angemessenen Daten, die indes über den Charakter, über den unabhängigen Geist Hammersteins nichts aussagen. Hammerstein war Individualist, ein Mann nach eigenen Maßgaben und eigener Facon. Dazu gehörte, dass er sich um seine Kinder, die ihm zu laut und zu anstrengend waren, kaum kümmerte, ja kaum das Wort an sie richtete, stillschweigend allerdings auch die Kontakte seiner drei ältesten Töchter zur KPD tolerierte, zumindest eine dieser Töchter war als Agentin im Auftrag Moskaus tätig oder zumindest in Spionagetätigkeiten verwickelt. Zwei von Hammersteins Söhnen gehörten der Widerstandsgruppe des 20. Juli an. Kurt von Hammerstein selbst erkannte in dem österreichischen Gefreiten Adolf Hitler schon sehr früh den, wie er sagte, Psychopathen. Hammerstein, der sich zeitlebens für die politischen Geschäfte nicht sehr interessierte, nichts mehr liebte als jagen und fischen, an gutem Cognac und guten Zigarren Gefallen fand, bekannt war für seine ausgesprochen lässige Haltung in Bezug auf bürokratischen Fleiß und Disziplin und Faulheit für die entscheidende Vorraussetzung produktiver Intelligenz hielt - dieser Individualist war es, der 1933 einen allerletzten Versuch unternahm, Hindenburg von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler abzuhalten.

    Kurt von Schleicher, amtierender Reichskanzler, glaubte, dass Hindenburg bis zum 26. Januar 1933, an seinem Willen, Hitler nicht zu berufen, festhielt. Darin sollte er sich täuschen. Es waren die folgenden drei Tage, die über die Zukunft Deutschlands entschieden haben. "Bei uns im Hause herrschte eine sehr nervöse Stimmung. Es wurde dauernd mit Schleicher konferiert, der auf der anderen Seite des Reichswehrministeriums am Ufer wohnte", schreibt Helga von Hammerstein über diesen Moment.

    Genau eine Woche später, am 3. Februar, kam es zu einem historisch bedeutsamen Ereignis. In Hammersteins Dienstwohnung im Bendlerblock findet im engen Kreis des hohen deutschen Militärs ein Abendessen statt, der Hauptgast heißt Adolf Hitler.

    Am 3. Februar wusste Hammerstein, dass er gescheitert war. Die Aussicht auf das Abendessen mit Hitler, das um 20 Uhr im Speisesaal seiner Dienstwohnung beginnen sollte, dürfte seine Laune nicht verbessert haben. Es ging um einen Anrittsbesuch, bei dem der neue Reichskanzler sich vorstellen und versuchen wollte, die Generalität für das neue Regime zu gewinnen.

    Hitler redet ohne Pause zweieinhalb Stunden, unmissverständlich legt er seine Kriegspläne den Generälen vor, die kaum oder so reagieren, als hätten sie in die Luft gesprochene Phantastereien gehört.

    Dass die Rede in krassem Gegensatz zu seiner Regierungserklärung vom 30. Januar stand, scheint den Generälen nicht weiter aufgefallen zu sein. Dort hatte er von seinem aufrichtigen Wunsch gesprochen, den Frieden zu erhalten und zu festigen, die Rüstungen zu beschränken und innenpolitisch zur Versöhnung beizutragen. Der General Beck hat sogar behauptet, er habe den Inhalt der Rede vom 3. Februar "sofort wieder vergessen". Später sagte Hitler, er habe das Gefühl gehabt, gegen eine Wand zu reden.

    Hätte Kurt von Hammerstein in dieser Situation anders handeln müssen oder können als er handelte? Wie weit ging seine Hitler-Gegnerschaft? Wie intensiv war er an den Vorbereitungen zum Umsturz-Versuch 1944, den er nicht mehr erlebte, beteiligt? Ahnte er, dass niemand anders als seine Tochter Helga, die mit dem kommunistischen Agenten Leo Roth verheiratet war, Hitlers Geheimrede vom 3. Februar 1933 aufzeichnete und illegal nach Moskau schmuggelte? Billigte Hammerstein diesen Akt innerhäuslicher Spionage insgeheim? Hatte er selbst verborgene Kontakte in die Sowjetunion? Hans Magnus Enzensberger gibt auf diese Fragen keine Antworten. Der Sinn seines Buches ist es, auf die Fülle der Fragen hinzuweisen, die sich aus der hochkomplizierten, hochzwiespältigen historischen Lage ergeben, in der sich ein Mensch wie Hammerstein in dieser Epoche befand. Nicht Heldenverehrung, sondern tiefer Respekt ist die Haltung des Autors.

    Bei Carl-Hans Graf von Hardenberg kann man in einem Erlebnisbericht, den er zu Silvester 1945 niederschrieb, ebenfalls einiges über die Ansichten seines Freundes nachlesen: "Der sehr kluge Generaloberst Freiherr von Hammerstein, der trotz seiner schweren Erkrankung - er starb noch vor dem 20. Juli 44 - eng mit Generaloberst Beck zusammenarbeitete, vertrat die Auffassung, dass unbedingt von einem Attentat abgesehen werden müsse, da der Deutsche politisch derart wenig begabt sei, dass er die Notwendigkeit NIE einsehen werde, wenn er nicht den bitteren Kelch bis zur Neige tränke. Er würde vielmehr immer behaupten, dass der Ehrgeiz das Genie Hitler umgebracht hätte. Wir haben diese Auffassung ernst erwogen und ihre Richtigkeit nicht leugnen können".
    Hammerstein, der Hitler-Gegner erster Stunde, befürchtete schon 1933 und 1934 , eine neue Dolchstoßlegende, sollte ein Attentat auf Hitler gelingen. Er befürchtete den Ausbruch eines Bürgerkrieges, die Verwicklung und Spaltung der Reichswehr. Er zauderte nicht aus Mangel an Mut, sondern aus Einsicht in die Vielschichtigkeit der historischen Lage. "Hammerstein oder der Eigensinn" folgt der Vielschichtigkeit und macht sie zum dramaturgischen Textprinzip, unterläuft mythisierende Heldenbilder durch Reflexion. Über Jahre hin hat Enzensberger für dieses Buch geforscht, recherchiert, nach 1989 fand er in Moskauer Archiven sensationelle, bis dahin unbekannte Dokumente. Er zitiert Biographien, Korrespondenzen, zeichnet die Lebensgeschichte der Mitglieder der Hammerstein-Familie, ihrer politischen Freunde, Feinde und Genossen bis in die Gegenwart hinein nach. Um den Nukleus General Hammerstein entsteht das Bild einer Epoche.

    Enzensbergers dokumentarische Geschichtsprosa geht buchstäblich in die Tiefe und in die Breite und liest sich dabei spannend wie ein Krimi. Hans Magnus Enzensberger entwirft das Porträt eines Mannes, den im Blick der Nachgeborenen entschlossene Ambivalenz oder: ambivalente Entschlossenheit auszeichnet. Eben dies lässt sich auch über die Form von Enzensbergers Buch sagen. Er unterbricht den Lauf des dokumentarischen Textes immer wieder mit Dialogkapiteln, die der gleichsam fiktionalsten aller literarischen Genres entstammen: Gesprächen mit Toten. Enzensberger führt erfundene, "postume" Unterhaltungen mit Kurt von Hammerstein, mit seiner Tochter Helga, dem Sohn Ludwig, der Kommunistin Ruth von Mayenburg und anderen ein. Das wirkt auf den Leser zunächst erstaunlich, ja befremdend, im Fortgang der Lektüre indes von Kapitel zu Kapitel plausibler. In der Reibung von solider Empirie und spielerischer Erfindung liegt der Eigensinn dieses bestechenden Buches.

    Hans Magnus Enzensberger: "Hammerstein oder Der Eigensinn"
    Buch der Woche
    (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main)