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Schriftstellerkontakte zwischen Ost und West

Eine systematisierende Abhandlung über die inoffiziellen Kontakte zwischen den Schriftstellern aus Deutschland Ost und Deutschland West wollte Roland Berbig vorlegen. "Stille Post" ist der Band überschrieben, in dem der Germanist von der Berliner Humboldt-Universität die Ergebnisse seiner Bemühungen dokumentiert. Von Manfred Jäger.

    Es gab offizielle und inoffizielle Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten und allerlei Mischformen. Mit Recht betont der Publizist Friedrich Dieckmann, dass die persönlichen Beziehungen nicht den kulturpolitischen Vorgaben folgten. Aber auch er verkennt nicht, dass die Gelegenheiten und Möglichkeiten vom "Stand der politischen Gestirne" abhingen. Die Auskunft findet sich in Dieckmanns Antwort auf einen von dem Herausgeber Roland Berbig entworfenen Fragebogen, in dem nach der Art der Kontakte, nach dem wechselseitigen Einfluss auf die Literatur in den beiden Deutschländern und nach Veränderungen der eigenen Schreibweise gefragt wird. Von den mehr als 100 Angeschriebenen haben über 40 geantwortet. Ein Dutzend Briefe wird abgedruckt, die übrigen seien aber auch verwertet worden.

    Zehn Literaten haben sich zu Gesprächen bereit gefunden, darunter Peter Härtling, Christa und Gerhard Wolf und Reiner Kunze. Einen Höhepunkt und Schlusspunkt bildet ein aufschlussreiches Interview mit Wolf Biermann, das kritisch und selbstkritisch den legendären gemeinsamen Auftritt mit Wolfgang Neuss am Ostermontag 1965 in Frankfurt am Main behandelt.

    Wer das Inoffizielle isoliert in den Blick nimmt, verkennt leicht den Gesamtzusammenhang. Stets gab es im Land der Reisegenehmigungen offizielle Erwartungen, und ein freischaffender Autor konnte sich anders bewegen als der vom Staat eingesetzte Verleger, als der angestellte Wissenschaftler oder der Autor, der sich auch als loyaler Kulturfunktionär empfand. Insgesamt bleibt das Resultat der recht improvisatorischen Konzeption hinter den Erwartungen zurück. Die Auswahl bleibt zufällig, viele Antworten sind flüchtig oder nur freundlich gemeint, gehen auf Distanz zum Projekt oder kokettieren mit echten oder vorgegebenen Gedächtnislücken. Die jungen Studierenden, die der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Germanist Roland Berbig in die Forschungen einbezog, haben dabei bestimmt viel gelernt. Der Herausgeber wiederholt in seiner Einleitung mehrfach, das Buch sei nur ein Auftakt. Der bescheidene Ton soll den Anspruch dämpfen. Zugleich werden mit solchen Demutsformeln die Mängel kaschiert. Berbig tut so, als lägen zu dem Thema bisher keine Arbeiten vor. Wohl nicht zufällig fehlt jede Bibliographie, die eine oder andere Arbeit kommt nur in den Anmerkungen vor. Eine kritische Auseinandersetzung mit früheren Publikationen fehlt, insbesondere mit einem ganz ähnlichen umfangreichen Projekt des amerikanischen Germanisten Zipes aus dem Jahr 1985. Berbig betritt, wie er meint und schreibt, "theoretisch schwankenden Grund". Es gehe um die Tatsachen, denn noch wüssten wir vieles nicht.

    Der Verlag präsentiert das Sammelsurium kunterbunt - oder in der Sprache des ordnungsliebenden Landwirts: wie Kraut und Rüben. Gespräche, Briefe und Aufsätze bilden ein kurioses Durcheinander, vieles davon hätte in den Anhang gehört, den es in dem Buch auch noch gibt. Dann wäre der Textteil freilich allzu kurz geraten. So besteht die Materialsammlung aus Überschneidungen, Wiederholungen, Lücken und aufklärungsbedürftigen Widersprüchen. Irgendwann wird hoffentlich ein kompetenter Autor mit Hilfe dieser Anthologie das fällige Buch verfassen, das sich vor der Analyse nicht drückt.

    Die fünf Aufsätze des Bandes lohnen dennoch die Lektüre. Stefan Hansen dokumentiert die freien Literaturtagungen in der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg, wo in der repressiven Endzeit der Ulbricht-Herrschaft Ende der 60er Jahre der relativ geschützte kirchliche Gestaltungsspielraum optimal genutzt werden konnte. Julia Karnahl beschreibt die Lesungen in der bekannten Westberliner Buchhandlung "Wolffs Bücherei", und Berbig interpretiert die von Günter Grass auf Anregung von Bernd Jentzsch organisierten west-östlich gemischten Lesungen in wechselnden Ostberliner Wohnungen. Da gab es die von der Gruppe 47 übernommene kollegiale Textkritik, so dass damals zahlendreherisch von einer Gruppe 74 die Rede war.

    Der beste Essay des Buches, "Small Talk und Konspiration", von Dieter Wellershoff stellt sich und uns unbefangen die für die historische Aufarbeitung wichtigen Fragen:

    " Wer war das Gegenüber? (…) Ich fragte mich das manchmal angesichts der schwer durchschaubaren Position einiger prominenter DDR-Autoren. (…) Dass sie in der DDR lebten und den Ruf autonomer Autoren hatten, machte sie für die DDR nützlich und für den Westen besonders interessant. "

    Der Unsicherheit sei er mit einer Art "Kollegialität auf Kredit" begegnet. Wellershoff hoffte sogar darauf, dass das Gespräch mit einem ideologischen Gegner wie Hermann Kant offener zu führen sei, und lud den Kollegen nach einer Lesung in seine Kölner Wohnung ein. Kant reagierte verlegen:

    " Dann sagte er, es täte ihm sehr leid, das ginge nicht. 'Wir gehen gleich ins Hotel.’ Dieses 'wir' verstand ich erst mit Verzögerung. Er war nicht allein, sondern reiste mit einer Bodyguard, die ihn bewachte und wohl auch kontrollierte. Davon konnte er sich nicht absetzen. Sie sahen sich hier im feindlichen Ausland und befolgten strikte, ich nehme an: ungeschriebene Regeln, wie man sich in dieser Situation zu verhalten habe. "

    Aus diszipliniertem Pflichtgefühl und wohl auch, weil er den "schwankenden Gestalten" seines Landes nicht begegnen mochte, ging Kant, wie Günter Gaus in einem kurz vor seinem Tod geführten Interview mitteilt, nie zu einem Empfang in die "Ständige Vertretung der Bundesrepublik" in Ostberlin. Auch die Gespräche mit Westlektoren, die Ost-Autoren beruflich kennen lernten, enthalten witzige Geschichten, vor allem die Erfahrungsberichte von Elisabeth Borchers (erst Luchterhand, dann Suhrkamp) und von F.C. Delius (erst bei Wagenbach, dann bei Rotbuch). Dennoch bleibt das Werk ein Halbfabrikat. Nicht einmal der griffige Titel klingt stimmig. Was sich unter Literaten im geteilten Deutschland abspielte, war kein Kinderspiel "Stille Post", bei dem sich die Botschaft in tauben Ohren komisch verlor, weil nur geflüstert wurde. Natürlich gab es die Stasi mit den großen Ohren, und in der Wohnung war man vorsichtig, wegen der "Löcher in der Scheuerleiste", wie Bettina Wegner es schnoddrig ausdrückt. Elisabeth Borchers ging es auf die Nerven, dass das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf auch in ihrer Wohnung in Neuwied flüsterte:

    " Ich sagte: 'Hier sind keine Wanzen, sprechen Sie laut!’ Es war einfach unangenehm, das Um-sich-Schauen, als sei da irgendetwas im Gange, was sie nicht kontrollieren können. "

    Letztlich stehen alle Beobachtungen, die amüsanten und die banalen, längst bekannten unverbunden nebeneinander und warten auf Aufarbeitung. Es fehlen, um nur einige Lücken zu nennen, die Erfahrungen von Lutz Rathenow, Rolf Schneider oder Erich Loest, für dessen Westkontakte der Osnabrücker Germanist Heinrich Mohr wichtig war. In den achtziger Jahren spielte der Arbeitskreis für DDR-Literatur und DDR-Germanistik, der zweimal jährlich in Bad Godesberg tagte und Gäste aus der DDR einlud, eine wichtige Rolle. Die Westberliner Zeitschrift "europäische ideen" wird zwar erwähnt, aber ihr Herausgeber Mytze kommt in dem so genannten "annotierten Personenregister" nicht vor. Wie wichtig die westdeutschen Rundfunksender für Autoren in der DDR waren, wird völlig unterschätzt. Hätte Joachim Walther nicht zufällig Heinz Klunker vom Deutschlandfunk erwähnt, wäre der nicht ins Register gekommen, wie gewohnt falsch geschrieben mit dem ck des eben verstorbenen Gewerkschaftsführers. Klaus Sauer vom Deutschlandfunk wird ebenso wenig als Rundfunkredakteur erkannt wie Karl Corino, der im Hessischen Rundfunk jeden Monat sein Magazin "Transit" für Interviews und Lesungen nutzte. Hans-Georg Soldats hilfreiche Funktion beim RIAS wird so wenig wahrgenommen wie der auch aus dem Blick geratene Konrad Franke, der zuerst beim Bayerischen Rundfunk und dann bei Radio Bremen arbeitete. Wer diese Verbindungen nicht ins Zentrum rückt, die per Radio eine Gegenöffentlichkeit schufen, für Leser in der DDR, die zugleich Hörer waren, Informationen aus erster Hand boten, bleibt im Vorfeld nicht nur der theoretischen, sondern auch der faktischen Erkundung. Was den Studenten fürs Personenregister eingefallen ist, hätte der Projektleiter oder wenigstens ein Verlagslektor noch durchsehen sollen: "Engels, Friedrich, Ökonom und Politiktheoretiker"; "Marx, Karl, deutscher Philosoph, Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus"; "Stalin, Josef Wissarionowitsch, russischer Politiker, Diktator."

    Roland Berbig (Hg): Stille Post
    Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost
    Chr. Links Verlag, Berlin, 2005. 403 Seiten, 22,90 Euro