Der zweite Band der Autobiographie "Schritte im Schatten"' umfasst - auf immerhin fast 500 Seiten - den Zeitraum zwischen 1949 und 1962. Die alleinerziehende Mutter lebt in äusserst kargen Verhältnissen, versucht, in der fremden Metropole eine Art Wurzelbett für sich und ihr Kind zu finden und arbeitet sich langsam zu den ersten Erfolgen als Schriftstellerin vor. Für sie spaltete der beginnende "Kalte Krieg" die Welt in zwei Lager, ein östliches und ein westliches, aber da sie rasch Zugang zu den Kreisen der linken Bohème fand, fiel es ihr leicht, das Gruppen- oder Cliquendasein, das ihr schon in Afrika so lebenswichtig gewesen war, wieder aufzunehmen. Die Kommunisten lebten in England zwar nicht in der gleichen sektiererischen Abgeschlossenheit wie in der Kolonie. Dafür gab es eine mächtige kommunistische Parteizentrale, die ihre Weisungen aus Moskau erhielt, die Parolen ausgab und die Richtung wies. Es entspricht vermutlich der historischen Wahrheit, wenn Doris Lessing behauptet, ein überwiegender Teil der britischen Intellektuellen sei damals kommunistisch gewesen. Sie selbst scheint jedenfalls eine andere Seite (sprich: Meinungsvielfalt) überhaupt nicht wahrgenommen zu haben. Der Glaube an die alleinseligmachenden Dogmen der KP war, so entnimmt man den Darlegungen der Autorin, so naiv wie unerschütterlich, sodaß schon die gelegentliche Begegnung mit Trotzkisten, also Abweichlern, sie mit Staunen und Ungläubigkeit erfüllte. Was die Zeitungen über die Zustände im sowjetischen Machtbereich schrieben, wurde von den Anhängern des rechten Glaubens als "Lügen der kapitalistischen Presse" abgetan und weckte nicht die geringsten Zweifel. Doris Lessing war inzwischen selbst der Partei beigetreten, reiste mit offiziellen Delegationen in die kommunistischen Länder und bewegte sich, augenscheinlich recht unbeschwert in einem Milieu, in dem von früh bis spät politische Diskussionen stattfanden, bei denen es jedoch stets nur um Dialektik ging. Die Meinungseinheit war wie die einer Glaubensgemeinschaft und sie gibt aus der rückblickenden Erkenntnis zu, daß das Ganze durchaus einen religiösen Anstrich hatte. Freilich ging sie nie so weit, ihr Talent für Propagandaschriften zur Verfügung zu stellen. Vielmehr beschäftigten sie damals vorwiegend die Erinnerungen an Afrika. Daß sie in ihren Büchern das Verhalten der Weißen gegenüber den Schwarzen anprangerte, brachte ihr den Ruf eines Freigeists ein, was ihr nur recht war.
Doris Lessing, heute nahezu 80 Jahre alt, hat es in fast fünfzig Jahren ihres Schriftstellerlebens zu unbestrittenem Weltruhm gebracht. Als Literatin und als feministische Kultfigur gilt sie als das britische Gegenstück zu der ebenfalls unentwegt moralisierenden Simone de Beauvoir, mit der sie auch das überwältigende Mitteilungsbedürfnis und die hemmungslose Ausbeutung jeder persönlichen Erfahrung teilt. Der Unterschied zur französischen Konkurrentin besteht darin, daß die Lessing nie Rückendeckung bei einem berühmten Lebensgefährten suchte. So vielfältig und umfangreich wie ihr Werk, das von science fiction bis zur Gruselgeschichte und von sinnlich eindrucksvollen realistischen Romanen bis zu trivialen Herz-Schmerz-Epen reicht, so oft wechselt sie ihre Partner und ihre Sujets. Lediglich dem Sozialismus hat sie mehr oder weniger die Treue gehalten, ebenso wie den dazugehörigen Vorurteilen. Auch der alten Dame von heute scheint niemand ganz geheuer, der nie Kommunist war. Eine Ausnahme bilden die Jungen, die sie zwar ständig mit kritischen Seitenhieben, aber auch mit gütiger Nachsicht bedenkt. Im Mittelpunkt ihres Werks steht der Roman "Das goldene Notizbuch", der sie, allerdings mit langer Verzögerung, weltweit bekanntmachte.Seine Entstehungsgeschichte hat sie in "Schritte im Schatten"aufgezeichnet". Die beiden Hauptthemen - Menschen im Kommunismus und Frauen in ihren wechselnden Freundschaften und Solidargemeinschaften - wurden zum ersten Mal mit so radikaler Offenheit behandelt, daß man Doris Lessing zur Leitfigur der feministischen Bewegung erhob.
Was freilich ein Irrtum war, denn eine militante Feministin ist sie nach eigenem Bekenntnis nie gewesen. Ihr kam es vielmehr darauf an, Frauen wie Männer zu verstehen und moralisch aufzubauen, manchmal mit Theorien, die sich allzusehr banaler Alltagsweisheit näherten. Im "Goldenen Notizbuch" erfahren wir auch vom großen Wendepunkt für alle, die dem Kommunismus nahestanden, dem tiefen Einschnitt, der durch den Tod Stalins und die Enthüllungen des XX. Parteitags entstand. Der Kommunismus, so Doris Lessing, sei "Seelennahrung" gewesen, auf jeden Fall eine Art Lebensprogramm, schwer zu ersetzen. Sein Zerfall bedeutete Angst, Trauer und Ersatzhandlungen auf lange Zeit.
Die Sogwirkung, die von der Lektüre des umfangreichen Bands "Schritte im Schatten" ausgeht und den Leser festhält, liegt in der eigenwilligen Struktur Inhalts, der aus Hunderten von Anekdoten, Kurzbiographien, Analysen dieser und jener Paarbeziehung besteht. Ein wenig fühlt man sich beim Lesen wie auf einem immerwährenden Kaffeeklatsch, bei dem Personen abwechselnd gepriesen oder durchgeheckelt werden. Das mag manchmal ermüden, besticht aber auch immer wieder durch seine Lebendigkeit.