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"Schrullen des Apparates"

Die mögliche Verlängerung von archivalischen Sperrfristen im Bundesarchiv, wie sie zurzeit im Bundesinnenministerium erwogen wird, ist nach Ansicht des Mainzer Historikers Andreas Rödder vor allem mangelnden Kapazitäten geschuldet. Um eine "geschichtspolitische Verschwörung" handele es sich dabei nicht.

Andreas Rödder im Gespräch mit Rainer B. Schossig |
    Rainer Berthold Schossig: Verschlusssache bleibt Verschlusssache. Gerade die wichtigsten und spannendsten Kapitel bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte könnten auch künftig für Öffentlichkeit und Forschung schwer einsehbar bzw. ganz im Dunkeln bleiben. Denn das Innenministerium ist zurzeit dabei, eine 2006 verfügte Anordnung zur Freigabe von Verschlusssachen des Bundesarchivs wieder aufzuheben. Nach dieser Verwaltungsvorschrift hätten - natürlich unter gewissen Bedingungen, wie überall auch im europäischen und internationalen Ausland - viele noch immer als geheim eingestufte Behördenakten nach einer 30-Jahres-Frist zugänglich gemacht werden sollen. Frage an Andreas Rödder am Lehrstuhl für Neueste Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz: Herr Rödder, wenn Sperrfristen verlängert werden, entstehen ja leicht Verschwörungstheorien bei den Bürgern. Könnten Sie Gründe, als Erkenntnis leitende Interessen erkennen, warum die geplante Novelle nun anscheinend gekippt werden soll?

    Andreas Rödder: Nach allem, was ich darüber weiß, handelt es sich hier nicht um eine sozusagen geschichtspolitische Verschwörung, sondern zunächst einmal um ein Problem der administrativen Handhabbarkeit bei mangelnden Kapazitäten, um diese Dinge zu regeln. Gute Intentionen, aber Probleme in der Umsetzung. Wir haben es hier in aller Regel, wenn wir jetzt nicht irgendwas überhaupt nur ganz falsch einschätzen würden, nicht damit zu tun, als wenn hier hochgradig geheime Dinge dem Bürger vorenthalten würden. Es ist auch so - Verschlusssachen hin oder her -, so viele Dinge bleiben in einer Demokratie nun wirklich nicht geheim. Das eine oder andere wird man in den Akten an Details finden, aber es ist nicht so, als wenn die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik, als wenn das Geschichtsbild über die Bundesrepublik am letzten Ende von einzelnen Verschlusssachen abhinge. Da ist manche Verschwörungstheorie, auch manche Sensationslust im Gange, die aber natürlich auch dadurch geschürt wird, dass Verschlusssachen und geheim immer besonderes Interesse weckt.

    Schossig: Wo sind Sie denn zum Beispiel vom restriktiven Umgang mit solchen Akten in deutschen Archiven besonders betroffen, Herr Rödder?

    Rödder: So wirklich restriktiv bin ich in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik bisher noch nicht betroffen gewesen. Ich habe ein Buch über die Wiedervereinigung geschrieben, aber von dem weiß ich nun mal, dass das generell der 30-Jahres-Sperrfrist unterliegt. Das ist auch ein normales Verfahren, wenn es nicht Sonderregelungen gibt wie im Fall der DDR oder wie im Fall der Sonderedition aus den Akten des Kanzleramts. Grundsätzlich sind diese Verschlusssachen bezogen auf sehr spezielle Bereiche: den Verfassungsschutz, die innere Sicherheit, Fragen des Terrorismus, Fragen des Interzonenhandels. Nur stellt man sich unter Verschlusssachen und Geheimhaltung oft mehr vor, als wirklich dahinter ist. Die politisch-vertraulichen Akten, das heißt auch Meinungsbildungsprozesse innerhalb der Ministerien, sind in der Regel von solchen Verschlusssachen nicht betroffen.

    Schossig: Dazu gehören ja etwa solche Akten wie über den Adenauer-Besuch in Moskau 1955, das ist doch aber eigentlich einigermaßen absurd, dass das immer noch nicht anscheinend einsehbar ist bis heute?

    Rödder: Es klingt auf der einen Seite absurd, das Problem ist, dass immer dann ein ganzer Aktenband gesperrt ist, wenn ein einzelnes VS-vertrauliches oder Verschlusssachendokument sich darin befindet. Und das kann verschiedene Ursachen haben. Das kann zum Beispiel auch damit zu tun haben, dass es ein militärisches Dokument ist oder dass es ein Dokument ist aus dem internationalen Bereich, wo die eine Seite es nicht einfach deklassifizieren kann.

    Schossig: Das kommt ja dann auch sehr staatsbürgerlich und geheimnisvoll daher, wenn man so hört das Argument: aus Gründen äußerer und innerer Sicherheit. Das klingt alles sehr gefährdend, sehr gefährlich. Aber es ist doch eigentlich merkwürdig, wenn man solche Akten zum Beispiel aus der Zeit des Kalten Krieges zum Beispiel in den USA und England dann problemloser einsehen kann als hierzulande?

    Rödder: Ja, wenn dem so ist, ist das in der Tat so. Aber das sind auch oft sozusagen Schrullen des Apparates. Sie haben zum Beispiel Manöverakten, die werden, bevor das Manöver gemacht wird, als Verschlusssachen eingestuft. Wenn aber dieses Manöver vorbei ist, dann sind diese Akten eigentlich nicht mehr schützenswert oder nicht mehr geheim. Aber dann müsste man sie eigentlich deklassifizieren, und das macht dann in der Regel aber auch niemand.

    Schossig: Sie haben von Schrullen gesprochen, Herr Röder. Wo läge denn die, ich sage mal, ideale Mitte zwischen völliger gläserner Transparenz der Archive, die sicherlich undenkbar ist, und aber auch überholter Geheimniskrämerei von Archivaren?

    Rödder: Das Problem ist sowohl bei der Verschlusssachenanordnung von 2006 als auch beim Informationsfreiheitsgesetz, dass es im Grunde auf eben solche Transparenz und Zugänglichkeit, auf eine solche vernünftige Mitte zielt. Das Problem aber ist, dass es keine wirklichen Verfahren schafft. Und in dem Moment, wo formalisierte Vorgänge geschaffen werden, werden Dinge in der Konsequenz oftmals restriktiver, als wenn man sie pragmatisch regeln könnte. Das Problem liegt zunächst eigentlich darin, dass sozusagen ein Klima oder eine Haltung geschaffen werden müsste, der zufolge auch die politischen Stellen wissen, dass eine wissenschaftliche Zeitgeschichtsschreibung zur Würde einer Demokratie und einer offenen Gesellschaft gehört und dass man vor diesem Hintergrund sich bemüht, pragmatische Regelungen zu schaffen.