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"Schubert - Klaviersonaten"

Es sind zwei besondere und eigentümliche Projekte, auf die ich Sie heute aufmerksam machen möchte: zum einen sozusagen vergessene Musik, was sich in diesem Fall darauf bezieht, dass wichtige Aufnahmen eines bedeutenden Pianisten der mittleren Generation offenbar ein paar Jahre lang unbeachtet in einem Archiv lagen. Zum anderen geht es um einen, wie ich meine, zutreffenden, aber keineswegs zureichenden Hinweis auf die umfassende Gesamtaufnahme des Reger'schen Klavierwerks, die Markus Becker nun abgeschlossen hat und die zu Recht schon reichliche Lorbeeren ernten konnte.

Norbert Ely |
    Beide Projekte zeigen, dass die Musik der Zeit mal wieder voraus ist. Denn beiden Interpretationen eignet jener tiefe und dennoch heitere Ernst, der nun doch zunehmend die zappelnden Stand-up-Komödianten an der angeblichen Spitze der Gesellschaft konterkariert. Beim einen Projekt handelt es sich um eine äußerst sparsam aufgemachte Doppel-CD des Labels Capriccio mit Schubert-Aufnahmen des Dresdner Pianisten Peter Rösel aus den 80er Jahren. Die Bänder lagen, wie gesagt, offenbar irgendwo im Archiv und waren über den Umständen der historischen Wende von 1989 irgendwie in Vergessenheit geraten. Zu Peter Rösel gleich ein bisschen mehr, denn das karge Booklet gibt weder über ihn noch über die Werke irgendeine Auskunft. Zunächst soll er selbst zu Wort kommen, und zwar mit dem Kopfsatz der großen B-dur-Sonate D 960, die sich neben drei anderen Sonaten und der Wanderer-Fantasie auf den beiden Scheiben befindet. Dieser Kopfsatz dauert bei Rösel fast so lang wie bei Sviatoslav Richter, nämlich 22 Minuten. Den Triller in der linken Hand nach den ersten Takten spielt Rösel nicht mystisch wie Richter, sondern wie einen untergründigen, nicht ganz geheuren Paukenwirbel, und dass er die Wiederholung der Exposition nicht als austauschbare Rekapitulation spielt, sondern als Fortentwicklung, hört man spätestens, wenn er dem Triller bei dieser Wiederholung einen deutlich drängenden Impuls verleiht. Ein Pianist, der in langen Zeiträumen denkt, was nicht entschuldigt, dass er auf die Veröffentlichung dieser Sonate so lange warten musste. * Musikbeispiel: F. Schubert - aus: Sonate B-dur D 960 Peter Rösel mit einem Ausschnitt aus dem ersten Satz der großen B-dur-Sonate von Franz Schubert. Rösel hat inzwischen die Mitte der 50 überschritten. Er kommt aus der Schule des Moskauer Tschaikowsky-Konservatoriums. Seine Lehrer dort waren Bashkirow, der ihm den Fortgang zu einem Konkurrenten wohl nie verziehen hat, und Lew Oborin. Rösel hat natürlich die Giganten Gilels und Richter aus nächster Nähe erlebt. Aber er ist einer spezifisch mitteldeutschen Tradition des Klavierspiels treu geblieben - auch Richter zählte sich ja nicht zu Unrecht ebenfalls zur deutschen Schule. Von Rösel gibt es zum Beispiel grandiose Aufnahmen aller vier Rachmaninov-Konzerte, die er unter Kurt Sanderling eingespielt hat, und alle fünf Beethovenkonzerte in einer Aufnahme mit dem BSO unter Claus Peter Flor. Mit seinem Freund Peter Damm hat er zauberhafte Einspielungen mit Musik für Horn und Klavier vorgelegt. Er ist ein kluger, gleichermaßen selbstbewußter wie zurückhaltender Liedbegleiter. Im Bachjahr 2000 kombinierte er in Konzerten auf ausgesprochen tiefsinnige Weise Bach mit Schostakowitsch. Die neue Doppel-CD mit Schubert ist gewissermaßen eine Äußerung zum Stand der Dinge, die unbeschadet der verspäteten Veröffentlichung nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Rösel wirkt zum Beispiel gelassener als Brendel, aber nicht eine Spur weniger ernst. Richter wie Brendel ließen die Musik Schuberts sich in der Zeit verändern und zeigten damit einen wichtigen Aspekt an den Formverläufen der Sonaten. Bei Rösel ist es die Musik, die die Zeit verändert; sein Ton ist, bei aller Gelassenheit, aktiver. Da scheint er denn doch womöglich eine Dimension weiter als die großen Kollegen vor ihm. Wie gesagt: eine Doppel-CD zum Stand der Dinge. Die Polyphonie im Finale der Wandererfantasie scheint wie für ihn geschrieben: * Musikbeispiel: F. Schubert - aus: Wanderer-Fantasie C-dur D 760