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Schüssel (ÖVP)

DLF: Herr Bundeskanzler Schüssel, 100 Tage schwarz-blaue Koalition - "100 Tage außenpolitische Einsamkeit" titelt heute eine österreichische Zeitung - auf jeden Fall 100 Tage Sanktionen. Was haben sie aus Ihrer Sicht gebracht, diese Sanktionen, und inwiefern treffen sie Sie auch persönlich vielleicht?

Martin Gerner |
    Schüssel: Sie treffen, und zwar mich vor allem, denn es gibt - glaube ich - in Österreich kaum jemanden, der in der Politik so engagiert für diese europäische Union eingetreten ist wie ich. Ich habe vor sechs Jahren vehement für den Beitritt Österreichs gekämpft, und daher treffen mich zuallererst diese Sanktionen. Sie behindern uns; sie blockieren unseren außenpolitischen Spielraum - und noch schlimmer: Sie vergiften die europäische Idee. Daher: Diese 100 Tage werden überschattet von diesen Maßnahmen der 14, die ich als unfair und nicht demokratisch, nicht angemessen empfinde. Innenpolitisch ist es sehr viel weiter gegangen, und ich meine, es hat noch nie eine österreichische Regierung so viel in so kurzer Zeit fertiggestellt oder wirklich verändert, wie diese neue Regierung.

    DLF: Politische Auseinandersetzung ist das eine, das andere ist die persönliche Auseinandersetzung, nicht zuletzt mit den Medien. Wie haben Sie denn da die letzten vier Monate erlebt?

    Schüssel: In Österreich ist etwas ganz Interessantes sichtbar geworden. Zunächst einmal war natürlich eine unglaubliche Emotionalisierung da . . .

    DLF: . . . die sich auch auf Ihre Familie ausgewirkt hat . . .

    Schüssel: . . . natürlich, bis zur Familie. Da sind Scheidungsgerüchte völlig absurder weise verbreitet worden; mein Sohn ist bedroht worden und meine Tochter hat Schwierigkeiten bekommen. Aber das ist eben in einer sehr schwierigen Situation wahrscheinlich in Demokratien unvermeidlich. Es hat Massendemonstrationen gegeben, die sicher nicht angenehm waren und auch nicht sehr österreichisch. Wir waren immer gewohnt, unsere Meinungsverschiedenheiten nicht auf der Straße sondern eher am Verhandlungstisch oder in intellektuellen Zirkeln auszutragen.

    DLF: Aber Sie haben auch gesagt, Sie hätten selbst Fehler gemacht . . .

    Schüssel: Ja, ich habe vielleicht auch nicht immer jetzt besonders sensibel reagiert. Ich bin ja auch kein Roboter, sondern ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut. Und manche Anwürfe haben mich furchtbar geärgert und getroffen, und da habe ich auch manchmal dann hart reagiert. Heute bin ich da auch etwas ausbalancierter, weil ich stärker damit umzugehen gelernt habe. Schlingensief hat schon wieder mal seinen Ruf geprobt, nach Helmut Kohl jetzt auch mich zu töten. Helmut Kohl lebt noch und Gott sei Dank bin auch ich noch unter den Lebenden.

    DLF: Vielleicht etwas ernster: Es gab das vielfach beschriebene kurze Azorenhoch, das heißt, neue Selbstzweifel der 14 - oder eines Teils der 14 - an den Sanktionen, zugleich ist Vizekanzlerin Riess-Passer in Lissabon jetzt kürzlich wieder boykottiert worden; der österreichische Botschafter in den Niederlanden hat nicht die Ehre von Königin Beatrix bekommen. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass diese Sanktionen noch vor Beginn der französischen Präsidentschaft ein Ende haben?

    Schüssel: Ich hoffe das sehr, denn das ist ja weit mehr als eine fast kindische Unhöflichkeit, denn man hört einfach einander zu - gerade wenn man will, dass die Dinge innerhalb der Union funktionieren, und das wird ja behauptet. Und dann kann ich doch nicht einfach aufstehen und weggehen, wenn eine österreichische Ministerin - noch dazu eine sehr beachtliche Frau - das Wort nimmt und etwas sagt. Diese Art von Dialogverweigerung - das ist ja nicht einmal im Kindergarten mehr üblich. Und auch die Geschichte, dass der österreichische Botschafter, der übrigens ein ganz beachtlicher Mann ist, in Holland nicht mehr von der Königin empfangen werden darf, die ihn übrigens gerne empfangen hätte: Es wurde bewusst Anweisung gegeben von höchster politischer Seite, dass zwei Botschafter nicht eingeladen werden dürfen zu einem Abendessen der Königin - der Botschafter von Milosevic und der Botschafter Österreichs. Und da muss ich schon sagen - mit aller Emotion auch und ganz bewusst: Das ist unerträglich! Das ist ein Doppelstandard, der schlicht und einfach nicht angenommen werden darf. Und eigentlich würde ich mir da schon erwarten, dass Demokraten aller politischen Lager diesem Unfug so rasch wie möglich ein Ende machen.

    DLF: Was muss denn geschehen? Was erwarten Sie von den 14? Können Sie sich vorstellen, dass einige aus dieser Front ausscheren?

    Schüssel: Ich habe das Gefühl, dass die 14 gemeinsam handeln wollen. Und dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, denn die 14 waren immerhin in der Lage, an einem Wochenende in verschiedenen Telefonaten so weit zu kommen, dass sie die weitreichendsten Sanktionen gegen ein mitteleuropäisches Land gefunden haben - Sanktionen, wie es sie seit dem Jahre 1945 noch nie gegeben hat. Und es muss doch möglich sein, dass die gleichen 14, von mir aus auch jetzt in den nächsten vier Wochen - nicht vier Tagen - vier Wochen - bis zum nächsten Europäischen Rat in Feira - einen gemeinsamen Beschluss zustande bringen, dass man aus den Sanktionen aussteigt.

    DLF: Wer soll dann Ihr Anwalt sein - Prodi, der EU-Kommissionspräsident, Aznar, der Spanier, der zitiert wird: 'Irgendeiner muss sich ja ihrer Wut annehmen?

    Schüssel: Jeder, der Interesse daran hat, dass diese europäische Idee weiter funktioniert. Ich sage das hier auch mit einem gewissen Pathos. Ich erwarte, dass die Kommission ein Interesse daran hat, dass der Vertrag funktioniert und dass auch Fairness zwischen den 15 waltet. Immerhin sind wir ja vertraglich sogar - Artikel 10 - verpflichtet, einander mit voller Solidarität und ganzer Kraft zu unterstützen und beizustehen. Und das geschieht im Moment überhaupt nicht. Also, die Kommission müsste ein Interesse haben, aber auch jeder einzelne Mitgliedstaat. Und was ich dazu beitragen kann, hier zu helfen, zu beruhigen, auch meine Signale in die richtige Richtung abzugeben, das will ich gerne tun.

    DLF: Sie reden von Beruhigung. Jetzt hat es aber neue Erregung gegeben, weil nämlich die Idee der Volksbefragung in Ihrem 18-Punkte-Aktionsprogramm enthalten ist. Welche neuen Erkenntnisse versprechen Sie sich von einer Volksbefragung?

    Schüssel: Was soll daran schlimm sein, wenn eine Union, wenn ein Mitgliedstaat der Europäischen Union, die sich ja immer als eine Institution der Demokratie empfindet, eine Volksbefragung macht - wo wir eine Frage stellen wollen: Klares 'Ja' zur Mitgliedschaft zur Europäischen Union, und ein ebenso klares 'Ja' zum Wegfall der Sanktionen - in eine Fragestellung verpackt. Da kann sich doch niemand drüber aufregen. Das ist ein Doppelsignal - wenn es zu keiner Lösung kommt, die mir lieber wäre. Ich brauche diese Befragung nicht. Wenn wir zu einer Lösung kommen, dann ersparen wir uns die Kosten und die Aufregung.

    DLF: Sie wissen, dass es im Moment allgemein, vor allem im Ausland, als Drohgebärde - überhaupt das Wort, das Projekt der 'Volksbefragung' - gewertet wird. Es wird als tendenziell anti-europäische Vorstellung gewertet, und - was immer wieder herausgestrichen wird: Es ist eine Idee von Jörg Haider.

    Schüssel: Ja, aber darf ich da zurück fragen: Wieso soll die Befragung des österreichischen Volkes, das ja immerhin das Souverän in einer Demokratie ist, eine Drohung gegen irgend jemanden sein? Wenn Sie so wollen, ist es eher ein Risiko für uns, denn wir müssten ja die Bevölkerung so weit motivieren, dass sie überhaupt hingehen und in dieser Fragestellung ein klares 'Ja' zur Union und zur Aufhebung der Sanktionen sagen. Ich glaube, dass das sogar hilft der europäischen Idee, denn die Österreicher stehen - Umfragen zufolge - trotz all dem, was wir jetzt durchmachen, immer noch genau so zur Mitgliedschaft zur Europäischen Union, wie vor sechs Jahren, bevor wir beigetreten sind, denn ich glaube, dass das ein sehr vernünftiges Mittel sein kann, wenn wir nicht bis zum Ende der portugiesischen Präsidentschaft zu einer anderen gemeinsamen Lösung kommen. Das ist ja die klare Priorität dieser Bundesregierung, und ich hoffe, dass wir uns jetzt darauf konzentrieren können.

    DLF: Das Szenario steht im Raum: 'konsequente Mitarbeit an den Verträgen zur Reform der Institutionen und zur Osterweiterung - und dafür am Ende der französischen Präsidentschaft die Aufhebung der Sanktionen'. Ist das denkbar für Sie?

    Schüssel: Ich kann mir ohne weiteres vorstellen, dass wir in Nizza eine Reform der Institutionen fertig machen - aber bitte ohne ein Junktim mit den Sanktionen gegen Österreich, denn ich bin am ehesten interessiert an einem Funktionieren der Europäischen Union, aber eine Art Wohlverhalten werden wir uns mit Sicherheit von nichts und niemanden abtrotzen lassen, denn wir haben uns bisher sehr ordentlich und vernünftig verhalten und wir werden auch keine Bewährungshelfer brauchen in der nächsten Zeit.

    DLF: Ein anderes Szenario ist das der Formalisierung der Sanktionen. Das klingt sehr technisch. Soweit ich es verstanden habe bisher, sollen das schriftliche Richtlinien sein zum Umgang mit extremistischen Tendenzen, nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen EU-Ländern. Wäre mit der Aufnahme solcher Verhandlungen das Aussetzen der Sanktionen sinnvoll?

    Schüssel: Ich bin einmal prinzipiell dafür, dass man sich selber Spielregeln gibt, denn das, was mit Österreich gemacht wurde, war ja jenseits aller Spielregeln. Das war ja pure Willkür. Niemand konnte sich wehren, wir sind nicht angehört worden, wir können an niemanden appellieren. Vergessen Sie nicht, dass die Artikel 6 und 7 des Europäischen Vertrags, wo es ja um die Frage der Einhaltung der Menschenrechte geht, und im Falle der Verletzung von solchen Prinzipien Sanktionen verhängt werden können. Das ist ja heute schon im Vertrag drin, aber da muss zuerst ein Prinzip - ein konkreter Wert - nachweisbar und schwerwiegend verletzt worden sein. Dann gibt es Sanktionen. Das war eine österreichische Initiative übrigens - von mir und von Lamberto Dini, dem damaligen und heutigen italienischen Außenminister. Wir wollten aber immer den Europäischen Gerichtshof als letzte Instanz. Dazu gehört auch, dass man nicht auf Verdacht her Sanktionen verhängen darf, sondern es muss wirklich was passiert sein.

    Schüssel: Wenn wir uns ein Verfahren geben wollen für die Zukunft, das dann für alle gilt, dann - finde ich - muss in jedem Fall gesichert sein, dass der Betroffene gehört wird, dass er sich verteidigen kann, dass es eine Angemessenheit der Gegenmaßnahmen gibt, dass es eine Befristung gibt und dass man sie auch anfechten kann beim Europäischen Gerichtshof. Ich finde, das ist ganz vernünftig.

    DLF: Sie sagen, niemand redet mit Ihnen. Das liegt vielleicht auch an Ihrem Koalitionspartner. Vielleicht haben die 14 anderen EU-Länder nicht ausreichend bedacht, dass die Sanktionen diese Regierung ja auch zusammenschweißen - diese Koalition -, weil es einen gemeinsamen Gegner in Gestalt der 14 gibt. Auf der anderen Seite gibt es - über die ganzen Wochen gestreut - Äußerungen von Zahlungsboykott, Veto, Austrittsdrohung von Seiten der FPÖ und Jörg Haider. Hier erwartet man von Ihnen immer wieder konsequentere Absagen.

    Schüssel: Das tue ich ja auch. Denn wir sind nicht ausgetreten, werden auch nicht austreten. Wir haben pünktlich gezahlt, werden auch weiter pünktlich zahlen. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber Meinungsfreiheit gibt es auch noch immer in einer Demokratie, und wir werden niemanden den Mund verbinden, wenn er eine andere Meinung hat. Aber der Unterschied einer Meinung und dem, was die Regierung tut, das ist - glaube ich - auch schon etwas, was man sehen soll. Ich führe diese Regierung und ich schaue drauf, dass wir hier einen ganz klaren Kurs gehen.

    DLF: In Deutschland würde man sagen, man vermisst mehr Richtlinienkompetenz beim Kanzler.

    Schüssel: Na ja, aber eigentlich geschieht ja genau das, was ich Ihnen gesagt habe. Ich kann nicht verbieten, wenn ein einfaches Parteimitglied einer anderen Partei eine andere Meinung hat oder zur Diskussion stellt. Aber das, was ich sage, geschieht - gerade in den europäischen Fragen. Und darauf kann man sich verlassen. Ich bin hier der Garant einer europäischen Politik Österreichs. Und das bleibe ich auch.

    DLF: Sie sagen 'irgendein Parteimitglied'. Inwiefern hat sich die Lage für Sie geändert seit dem Rücktritt von Jörg Haider von der FPÖ-Spitze?

    Schüssel: Ich war erstens überrascht davon, dass Jörg Haider so schnell die Parteispitze verlassen hat . . .

    DLF: . . . ein Erfolg der Sanktionen? . . .

    Schüssel: . . . nein, ich glaube, der Grund dafür ist vor allem der gewesen, dass er verstanden hat, dass man nicht von Klagenfurt aus mitregieren kann - direkt mitregieren kann.

    DLF: Aber es gibt ihm ja mehr Angriffsmöglichkeiten, außen vor zu sein.

    Schüssel: Na schon, aber wen will er angreifen? Die eigenen Leute? Das wäre ja nicht sinnvoll. Die FPÖ hat sich ganz bewusst - und Jörg Haider vor allem - vor einigen Monaten entschlossen, in die Regierung zu gehen. Und die haben genau gewusst, das ist für sie eine sehr schwierige Gratwanderung, eine Richtungsänderung, die von der Fundamentalopposition jetzt zu einer völlig neu definierten Verantwortung als Regierungspartei führt. Und das machen sie jetzt auch. Das kann dabei nicht kombiniert werden mit dem Oppositionsstil von früher, und das spüren sie ja auch täglich jetzt in der veränderten politischen Landschaft.

    DLF: Was ist denn Jörg Haider für Sie?

    Schüssel: Einer von neun Landeshauptleuten, ein wichtiger Mann in der Freiheitlichen Partei. Ohne ihn wäre der Aufstieg von der 5- zur 27-Prozent-Partei nicht möglich gewesen. Aber er hat bewusst jetzt und freiwillig auf die Führung verzichtet, und damit sind jetzt andere an der Front und es sind andere gefordert, jetzt die Partei und damit auch die Regierung mit mir zu führen. Selbstverständlich wird Herr Haider weiter für seine politische Partei versuchen, Stimmung zu machen und Stimmen zu bringen. Das ist normaler politischer Wettbewerb, das ist doch völlig klar. Und an und für sich gibt es bei uns innerhalb der Koalition relativ wenig Reibungen. Das muss man auch sagen. Wir haben einen neuen Stil gefunden - nicht mehr gegeneinander zu arbeiten, sondern wirklich partnerschaftlich für Österreich etwas zu bewegen. Und nur so funktioniert es, denn es gibt eigentlich eine tiefe Sehnsucht der Österreicher, endlich eine Regierung und nicht eine Reagierung zu haben. Die wollen Tempo, die wollen Entscheidungen, und die wollen Leadership, und die bieten wir ihnen.

    DLF: Sie haben gesagt, die FPÖ ist für Sie eine demokratische Partei. Nun kann man sagen: Das ist ein Blankoscheck für alle möglichen Verbalinjurien und Ausrutscher, die da in der Zukunft noch kommen.

    Schüssel: Nein, so soll man es auch nicht verstehen. Das ist eine sehr prinzipielle Aussage; das ist eine sehr prinzipielle Aussage! - bei aller politischen Unterschiedlichkeit, denn ich bin Christdemokrat und ich vertrete die klassische Mittepartei Österreichs. Die Freiheitlichen sind natürlich eine populistische Rechtspartei. Der Unterschied ist natürlich in der Bewertung gegeben, aber die gemeinsame Basis ist die Demokratie und die Verfassung. Und genauso würde ich einen Grünen oder einen Sozialdemokraten oder einen Kommunisten verteidigen. Das sind genauso demokratische Parteien auf dem Boden der österreichischen Verfassung. Das ist ein großer Unterschied. Ich kämpfe für die Freiheit auch eines politisch Andersdenkenden, dass er nicht als Antidemokrat oder als Faschist denunziert werden darf, weil das eine unzulässige Verharmlosung des Nationalsozialismus wäre, wenn man eine Partei, die sich populistischer Töne bedient, auf einmal als faschistisch oder rassistisch oder extrem bezeichnet. Das ist falsch. Das ist meiner Meinung nach ein Alarmismus der nicht angebracht ist.

    DLF: Aber direkt daran - an die FPÖ und an diese Koalition - schließt sich ja die Frage an: Wie ausländerfeindlich ist Österreich? Das möchten ja viele wissen, und einige möchten das in Ihrem Land auch überprüfen.

    Schüssel: Ja, sollen sie kommen. Jeder ist eingeladen, auch übrigens jeder Politiker. Vielleicht wäre ganz gut, wenn manche öfter nach Österreich kämen. Es gibt kein Land, das mehr Flüchtlinge aufgenommen hat: Im Bosnienkrieg waren es 80.000, im Kosovokrieg waren es 30.000. Wir haben einen Ausländeranteil von 10 Prozent, die meisten aus Mittel- und Osteuropa. Das hat kein anderes Land Europas. Wir haben humanitär mehr gespendet als jeder andere - pro Kopf natürlich gerechnet. Also, wir brauchen uns da einem Wettbewerb nicht nur nicht verschließen, sondern wir stellen uns gerne jedem Wettbewerb. Gerade jene, die uns besonders heftig kritisiert haben, haben einen Bruchteil jener Flüchtlinge und Asylanten aufgenommen, wie Österreich.

    DLF: Aber auch angesichts der Sanktionen ist ja die Frage: Warum sind Sie so mit den Warnungen, die es ja gab an Ihre Adresse, umgegangen, wie Sie umgegangen sind. Waren Sie sich nicht bewusst, welche Rolle die Last der österreichischen Vergangenheit gerade in dem Zusammenhang spielen würde?

    Schüssel: Jetzt sage ich Ihnen sehr klar etwas Selbstverständliches: Eine österreichische Regierung wird immer noch in Österreich gebildet. Und ich werde sehr sensibel, wenn jetzt auf einmal irgend jemand glaubt - von außen -, uns vorschreiben zu müssen, wie eine Regierung aussieht . . .

    DLF: . . . aber in der 'Wertegemeinschaft Europa' ist doch alles europäische Innenpolitik . . .

    Schüssel: . . . ja, Moment: Werte sind gemeinsam. Aber ob bitte eine Regierung jetzt die Sozialdemokraten einschließen muss oder nicht, das ist schon eine österreichische Entscheidung. Und diese österreichische Regierung stützt sich auf eine demokratische Wahl; zwei demokratische Parteien: Eine Mitte- und eine Rechtspartei haben sie gebildet, und es muss möglich sein, in Europa - auch des 21. Jahrhunderts - eine Mitte-Rechts-Koalition zu bilden, wenn sie europäische Werte zu ihrem Programm und zu ihrer Basis macht. Und das ist halt mein Verständnis von Demokratie. Das werden wir uns nicht nehmen lassen, selbst wenn manche glauben, uns anderes vorschreiben zu müssen.

    DLF: Sie haben gesagt, erst wenn die SPÖ, die österreichischen Sozialdemokraten, gegen die Sanktionen sind, dann wird auch die Front in der EU bröckeln. Halten Sie das Ganze für eine sozialdemokratische Verschwörung, was da stattfindet?

    Schüssel: So habe ich das nicht gesagt, sondern was ich sagen wollte, war, dass - solange nicht die österreichischen Sozialdemokraten innerhalb der europäischen sozialdemokratischen Institutionen klar und eindeutig die Aufhebung der Sanktionen verlangen, solange wird es immer Zweifel geben innerhalb sozialdemokratisch geführter Regierungen, ob nicht die Sanktionen eine Wirkung haben, die vielleicht innenpolitisch unseren Sozialdemokraten in Österreich hilft. Ich weiß natürlich, dass auch Konservative, wie Chirac, an den Sanktionen voll beteiligt gewesen sind. Ich sage das nicht einseitig in eine Richtung, aber die Frage war ganz eindeutig: Die sozialdemokratischen Führer werden natürlich lieber auf den österreichischen Sozialdemokratenführer hören als auf mich. Und daher ist eine solche Aussage durchaus hilfreich und sinnvoll.

    DLF: Sind Sie enttäuscht vom Verhalten der deutschen Bundesregierung?

    Schüssel: Ich war schon sehr überrascht und eigentlich auch wirklich betroffen, dass die deutsche Regierung, die uns ja besser kennen muss als vielleicht andere, die viel weiter geographisch entfernt sind, hier nicht doch klarer für Österreich als Ganzes sich eingesetzt hat.

    DLF: Sehen Sie eine Möglichkeit, da die öffentliche Meinung in Deutschland zu beeinflussen? Das könnte sich ja auch auf die Regierung dann auswirken, denn eins scheint ja klar: Nur wenn Deutschland seine Meinung ändert, fällt auch Frankreichs harte Linie.

    Schüssel: Ich finde, dass die öffentliche Meinung in Deutschland mehrheitlich gegen die Sanktionen ist. Das haben einige Meinungsumfragen bereits gezeigt, und ich finde, keine demokratische Regierung sollte zu lange über die Meinung ihrer Bevölkerung hinweggehen.

    DLF: Hätten Sie einen Appell an die Bundesregierung?

    Schüssel: Ich appelliere die ganze Zeit und sende vor allem die richtigen Signale. Aber schauen Sie: Jeder, der zuhören will, hört zu - und wer nicht zuhört, der wird halt die Botschaft nicht verstehen. Ich glaube, jetzt haben wir vier Wochen Zeit bis zum Europäischen Rat in Feira in Portugal; ich hoffe, bis dorthin findet sich eine Lösung.

    DLF: Was ist, wenn in Italien die Lega Nord mit an die Regierung kommt? Ist das mit Österreich vergleichbar dann?

    Schüssel: Ich glaube nicht, dass jeder Fall für sich vergleichbar ist mit einem anderen. Aber auch hier gilt: Alle italienischen Parteien sind, soweit ich das beurteilen kann, Parteien, die sich innerhalb des zulässigen demokratischen Spektrums bewegen.

    DLF: Würden Sie es denn begrüßen, wenn die EU in so einem Fall - Regierungskrisen in Italien gibt es genug - aktiv würde, ähnlich wie in Österreich?

    Schüssel: Ich würde ganz sicher nicht eine Intervention à là Österreich für sinnvoll halten und würde auch nicht mittun, um das ganz klar zu sagen.

    DLF: Regierungskrisen in Italien haben wir häufig gehabt; sie haben den Euro in Mitleidenschaft gezogen. Jetzt zieht Österreichs Krise den Euro in Mitleidenschaft - sagen viele Experten. Fühlen Sie da eine Mitverantwortung persönlich?

    Schüssel: Also, ich will jetzt Österreich nicht bedeutender machen, als wir sind. Die Schwäche des Euro hat ganz andere Gründe. Und darüber sollten wir übrigens einmal sehr ehrlich - vielleicht ehrlicher als bisher - reden, denn da gehört schon der Mangel an Führung dazu . . .

    DLF: . . . Mangel an Führung - von wem? . . .

    Schüssel: . . . na, europäische Gesamtführung. Da gehört der Vergleich mit den Amerikanern her. Warum sind die Amerikaner besser auf den Finanzmärkten bewertet? Weil sie einfach schneller und radikaler ihre Strukturreformen durchgesetzt haben. Beim Gipfel in Lissabon waren wir wieder nicht in der Lage, klare Zeitvorgaben für die Liberalisierung von Gas, Strom, Luftverkehr usw. zu machen. Wir müssen uns halt in Europa mehr Zeit nehmen, um diese wirklich wichtigen Fragen zu erörtern.

    DLF: Gilt das auch für die Osterweiterung?

    Schüssel: Das gilt auch für die Erweiterung, die meiner Meinung nach so dahinplätschert. Da gehört einfach ein wirklicher Turbo dahinter, dass auch der klare politische Wille erkennbar wird, wie man das lösen will.

    DLF: Herr Bundeskanzler Schüssel, Österreich und Deutschland haben eine gemeinsame Erfahrung der Täter während der nationalsozialistischen Zeit, und jetzt auch die gemeinsame Erfahrung der Verhandlungen über die Entschädigungen von NS-Zwangsarbeitern. Wie weit ist man da in Österreich?

    Schüssel: Kleiner, aber nicht unwichtiger Unterschied für Österreich: Wir sind beides; wir sind Opfer - das erste Opfer Hitlers, und zugleich Mittäter als Individuen, und zwar leider in sehr großer Zahl, geworden. Und daher fühlen wir keine rechtliche Verpflichtung, aber die moralische Verpflichtung, etwas zu tun. Und es war mir als Bundeskanzler auch sehr wichtig, gleich zu Beginn dieses Signal zu geben: Wir wollen sehr rasch helfen! Das sind meist betagte, sehr arme Leute aus Weißrussland, der Ukraine, Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. Wir werden etwa ein Volumen von 6 Milliarden Schilling aufbringen . . .

    DLF: . . . umgerechnet etwas unter einer Milliarde Mark . . .

    Schüssel: . . . ja, ja, die Hälfte aus der Wirtschaft, die andere Hälfte der Staat im weiteren Sinne - Länder und Bund. Und wir wollen noch im heurigen Jahr die ersten Auszahlungen tätigen. Nächste Woche findet Dienstag/Mittwoch eine große Versöhnungskonferenz in Wien statt mit den Amerikanern, mit Stuart Eizenstat und allen osteuropäischen Regierungen. Ich glaube, dass wir eine Lösung fertig bringen werden. Vor dem Sommer wird das Parlament einstimmig dies beschließen.

    DLF: Hälfte öffentliche Gelder, Hälfte Wirtschafts-/Industriegelder. Woher nehmen Sie die Sicherheit, dass Sie bei Ihren Industriellen das Geld zusammenkriegen? In Deutschland ist das ja ein Riesenproblem.

    Schüssel: Da wird eben sehr viel Überzeugungsarbeit zu leisten sein. Aber ich bin recht zuversichtlich. Die Gespräche laufen gut. Ich habe eine sehr gute Regierungsbeauftragte gefunden, die macht das hervorragend. Der kann sich niemand entziehen, nicht einmal der hartgesottenste Industrielle.

    DLF: Herr Bundeskanzler Schüssel, ich möchte zum Abschluss eine Äußerlichkeit ansprechen. Ich sehe Sie hier nicht - und die Öffentlichkeit auch nicht mehr - mit Fliege in den letzten Tagen, sondern mit Krawatte. Wollen Sie sich weniger angreifbar machen, weil die Fliege als politisches Symbol Ihrer Gegner benutzt, missbraucht wurde, oder deutet das eine Wandlung Ihrer Person an?

    Schüssel: Also für mich war es ein wenig eine Befreiung, denn wir haben es am Schluss - wir sagen in Österreich 'Mascherl' zur Fliege - mir haben sie dann am Schluss im Wahlkampf 'Fliegen' oder 'Mascherl' in allen Kategorien überreicht. Ich habe Fliegen aus Gras, aus Stahl, aus Glas, aus Holz, aus Stein, aus Silber und ich weiß nicht, was noch. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das war dann schon ein wenig mühsam. Ich wurde nicht mehr als Mensch gesehen, sondern als Mascherl-Träger, und für mich ist das schon eine Befreiung gewesen. Jetzt kann ich wieder alles tragen - wie ich's halt will.

    DLF: Vielen Dank Herr Bundeskanzler

    Schüssel: Gerne.