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Schuld und Sühne

Die Historiker haben starke Zweifel, ob es die Stunde Null überhaupt gegeben hat - den Punkt, an dem 1945 angeblich alles neu anfing. Denn die Deutschen waren mit der Niederlage nicht schlagartig andere geworden. Doch die ethischen und moralischen Probleme ließen sich auf die Dauer nicht verdrängen. Wie die Bildhauerkunst sich ihnen stellte, fragt jetzt zum 60. Jahrestag des Kriegsendes eine Ausstellung des Gerhard-Marcks-Hauses in Bremen.

Von Rainer Berthold Schossig |
    Da ist nur noch ein Hauch von Rodin: ein gescheiterter Denker, dem der bleischwere Kopf aufs Knie gesunken ist. Er kann ihn nicht mehr klassisch auf die Hand stützen, denn die ist ihm gebunden. Der Rücken des Gefesselten ist gekrümmt, der Fuß in den Boden verkrampft. Dieser "Prometheus" ist beklemmend, macht einen alles andere als kämpferischen Eindruck. Entworfen in Trauer um die Opfer noch in Zeiten des Krieges, wollte Gerhard Marcks ihn nach der Kapitulation als ein Sinnbild für die nachwachsende Jugend verstanden wissen. Kein starker Held sollte es sein sondern ein schuldbewusster Dulder, keine monumentale Plastik, erhöht nur dadurch, dass sie irgendwo auf einem der Trümmerberge Berlins sitzen sollte. Aus diesem Plan wurde nichts; jetzt hockt "Prometheus" doppelt im Bremer Bildhauermuseum: Ein Guss hoch oben auf einer weißen Pyramide, ein anderer in Augenhöhe - inmitten Dutzender Gefesselter, Flüchtender oder Gefangener, Klagender, Schmachtender und Trauernder - typische Skulpturen aus der Nachkriegszeit.

    Man hat sich in Bremen auf die Suche gemacht nach Figuren die - wie eben der Marckssche "Prometheus" - Schuld oder Scham symbolisieren. Und es war sichtlich schwierig, solche Figuren zu finden. So wie die Deutschen nach dem NS-Desaster die Vorgänge als Naturkatastrophe abhefteten, handelt es sich auch bei den einschlägigen Bewältigungswerken in der Regel um Darstellungen nur allgemeinen Leidens. Wo Köpfe hängen gelassen werden, Gramgebeugte die Hände ringen, da bleibt offen, worauf dies zu beziehen sei: Sind überhaupt Opfer des 2. Weltkriegs gemeint? Auf welcher Seite sind sie zu suchen, in den eigenen Reihen oder unter den Betroffenen des NS-Regimes, etwa gar unter den jüdischen Opfern? Die Skulpturen bleiben Antworten schuldig, es gibt keinen Hinweis auf Opfergruppen oder Täter. Wenn sich Bildhauer damals - angesichts der frisch zurückliegenden Verbrechen der Deutschen - mit dem Thema Schuld und Sühne überhaupt befassten, dann nur merkwürdig verhalten, unentschlossen tastend.

    Und diese Diagnose überrascht nicht, denn in der Unfähigkeit zu trauern, geschweige Mitleid mit den Opfern des Naziregimes zu empfinden, war man sich einig, da gab es auch kaum Unterschiede zwischen Ost und West. Man hatte Wichtigeres zu tun, Wirtschaftswunder hie, sozialistischer Aufbau da. Nur in Nuancen sind Unterschiede auszumachen, etwa zwischen einem völlig pessimistisch-ratlosen Georg Kolbe und dem aufmüpfigen Kommunisten Fritz Cremer etwa. Dieser war selbst aktiv im Widerstand gewesen; so konnte er seinen Figuren einen sehr viel widerständigeren Ausdruck geben. Cremer stellt seinen "Gefangenen" trotz alledem aufrechten Gangs dar, den Blick in eine bessere, wenn auch noch ferne Zukunft gerichtet.

    Der griechische Preuße Gerhard Marcks hat dagegen etwas Zauderndes. Schon die klassische, makellose Nacktheit, die er seinem "Prometheus" gibt, macht nachdenklich: Sind die mythischen Figuren aus der Antike überhaupt tauglich, auf so etwas wie industrialisierten Völkermord oder Euthanasie, Flächenbombardement oder Vertreibung angemessene künstlerische Antworten zu geben? Und waren Antworten in den späten 40er und frühen 50er Jahren überhaupt gefragt - in der plötzlichen Konjunktur, die die Denkmalproduktion damals entfaltete? Die Bremer Schau zeigt beklemmend deutlich, dass auch die Bildhauer jener Jahre ratlos waren. Ihre Erfindungen drücken allenfalls gemischte Empfindungen aus.

    Das verhärmte Oh-Mensch-Pathos der realistisch-figürlichen Plastik jener Jahre spiegelt insofern das falsche Denken der Menschen in allen Besatzungszonen höchst realistisch wider. Nach der größten Katastrophe aller Zeiten, herrschte unter denen, die noch einmal davongekommen waren, Sprachlosigkeit. Plötzlich wird klar, warum damals so viele Künstler so schnell und emphatisch den Weg der Abstraktion beschritten. Die Abkehr vom Menschenbild enthob der Stellungnahme. Diese heute nur noch schwer nachzuvollziehende Indifferenz gegenüber dem, was in den Jahren 1933 und 45 passierte, frappiert auch angesichts dieser Skulpturen. Vielleicht ist die Ausstellung im Bremer Gerhard-Marcks-Haus gerade deswegen so sehenswert, weil sie diese Misere schlicht vorführt, keine einfachen Antworten gibt, kein Rezept hat, das restlos aufgeht. So zwingt sie zum genauen Hinsehen.