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Schuld und Sühne à la Castorf

Aus Dostojewskis Geschichte von Rodion Raskolnikow hat Frank Castorf für die Wiener Festwochen ein Theaterstück gemacht. Seine vierte Dostojewski-Bearbeitung. Sie ist ihm zu einer Körperschlacht geraten, in der der Hauptdarsteller Martin Wuttke sich schon bei den Proben die linke Hand brach.

Von Sven Ricklefs |
    Frank Castorfs Inszenierungen sind immer vor allem eins: bewusste Zumutungen im besten wie schlechtesten Sinn des Wortes. "Schuld und Sühne" ist dies auch: eine Zumutung. Nach sechseinhalb Stunden erst ist man wieder dort, wohin man sich während der Aufführung immer wieder gewünscht hat: auf der Straße.

    Marmeladow: " Scheiße, nein, nicht die Kinder, schlag nicht die Kinder, schlag mich … "

    Es beginnt ungewohnt schnell und dicht: wo Castorf sonst einen betont langen Anlauf braucht, um den Zuschauer auf das Einzuschwören, was er zeigen will, das Chaos, die Tristess, den Slapstick und die Langeweile menschlicher Gemeinschaft in all ihrer Variation. Wo sich sonst im Zuschauerraum ob dieser Zumutung: nicht zugespitzte Außergewöhnlichkeit im Focus von Drama und Theater vorgeführt zu bekommen sondern erbarmungswürdige Gewöhnlichkeit, wo sich hier schnell die Spreu vom durchhaltewilligen Weizen trennt, skizziert Castorf diesmal rasch und genau in einem ebenso ekeleregenden wie fulminanten Auftakt das Milieu und die Lebensumstände der Erniedrigten und Beleidigten, der Ärmsten der Armen, die Dostojewski mit seinem Roman "Schuld und Sühne" beschreiben wollte. Da würgt der wie immer beispiellos präsente und nervend nervöse Martin Wuttke als Student und Zentralfigur Raskalnikow an einem schrecklichen Eisbein, da wird geschlungen und gegiert, gekotzt und wieder ausgelöffelt, da wird gepresst und geschrieen: arm sein ist vieles, aber schön ist es nicht, eher widerlich, eklig, dreckig. Wie immer arbeitet Frank Castorf dabei mit der inzwischen zu hoher Perfektion gereiften Videotechnik, die es ihm erlaubt, seinen Figuren und ihrer Privatheit in jeden auf der Bühne stehenden Innenraum zu folgen, ihnen ganz nah auf die Pelle zu rücken, im Wechselschnitt etwa Dialoge zu strukturieren oder auch den Blick des Zuschauers zu leiten oder zu verleiten, indem er ihm die eigene Perspektive aufzwingt.

    Raskalnikow: " Also wenn zum Beispiel die Entdeckung eines Kepler oder Newton auf keine andere Weise der Welt hätten bekannt gemacht werden können, als durch das Opfer eines oder zehn oder hundert Menschenleben, hätte Newton das recht oder sogar die Pflicht gehabt, diese zehn oder hundert Menschen zu beseitigen. "

    Das ist Raskalnikows anmaßende Philosophie, die später keinen geringeren als Friedrich Nietzsche zu seinen bizarren Übermenschenphantasien anregen wird, und die ihm, Raskalnikow, dem verwahrlosten und mittellosen Studenten den Mord an der Wucherin und Pfandleiherin Iwanowna nicht nur erlaubt, sondern geradezu aufzwingt, schließlich hält auch er sich für so etwas wie einen Auserwählten, der jegliches Gesetz und schon gar die Moral ohne Not übertreten darf: der Heilsbringer, der über Leichen geht. "Übertretung und Zurechtweisung" heißt Dostojewskis Roman eigentlich in der genauen Übersetzung, warum Castorf allerdings am alten deutschen Titel "Schuld und Sühne" festhält, der stark nach moralischen Kategorien und sogar nach religiösem Urgrund klingt, wird an diesem langen Wiener Abend nicht recht deutlich. Wenig scheint ihn Dostojewskis fast schon Bekehrung seiner Zentralfigur am Schluss interessiert zu haben, doch ebenso wenig die Liebe des gefallenen Engels Sonja, der Hure, die den Mörder im Roman bis nach Sibirien begleiten wird, doch auch die mit rasender Wut betriebene, vergebliche Suche Raskalnikows nach einem Schuldgefühl in sich ist hier nicht wirklich das Thema. Was aber dann? Erbarmungslos folgt Castorf Dostojewski in jede Verzweigung der Geschichte, die Elend an Elend reiht, dabei schert sich der Regisseur kaum darum, dass man den Roman schon gut kennen muss, um ihm überhaupt folgen zu können. Eine vage Ahnung bleibt, dass es Castorf wieder einmal nur um eins geht, ein Gefühl zu vermitteln, eines, das den Zuschauern mit denen auf der Bühne verbinden soll: das Gefühl, Mensch zu sein, in all seiner Unzulänglichkeit, Mensch zu sein, der vor allem eines fühlt: Überdruss, Verzweiflung und eine gähnende Langeweile. Das ist Castorf sicherlich gelungen, doch diesmal fühlt man sich trotzdem betrogen, betrogen nämlich um "Schuld und Sühne" von Dostojewski.