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"Schuld und Sühne" am Münchner Volkstheater
Tolles Theater für Erwachsene

Von Rosemarie Bölts | 11.12.2015
    Mit der Seele wie mit der Psyche ist das so eine Sache. Beide sind weder anzuschauen noch sonst irgendwie dingfest zu machen, sie sind nun mal keine "Sachen", auch wenn sie den Menschen aufwirbeln und ganz real ins Chaos stürzen können. Wenn aber Autoren wie Fjodor Dostojewski sich 500 Seiten lang über Seelenzustände und psychische Verfassungen eines einzelnen Menschen auslassen, kann man da als Regisseur nicht eigentlich nur scheitern, wenn man soviel sezierte Seelenqual auf einer Bühne darstellen will?
    Wenn es um eine hochartifizielle, intellektuelle Auseinandersetzung über "Schuld und Sühne" geht, die Mord rechtfertigen will und dabei alles infrage stellt, was Recht, Gesetz und die Verantwortung des Individuums betrifft? Die, wie der genial besessene, verarmte Student "Rodja" Raskolnikow, die Menschheit unterscheidet zwischen den "Gewöhnlichen" und den "Außergewöhnlichen?
    "Die Verbrechen der Außergewöhnlichen sind sehr verschiedenartig. Zumeist aber erstreben sie die Zerstörung des Bestehenden im Namen des Besseren. Ja, diese Antwort ist schon tausendmal gedruckt und gelesen worden. – Ja, aber Sie geben den Außergewöhnlichen das Recht, wenn es ihre neue Idee erfordert, sich den Weg über Leichen zu erkämpfen. - Ja! Sie haben sogar die Pflicht dazu!"
    Reine Hirngespinste, oder. Dschihadisten, Terroristen, Nazis, Euthanasie, Rassismus. Eben, das denkt man sich. Nur, wie stellt man das dar? Und zwar so, dass sich das Denken im Kopf des Zuschauers durch das Geschehen auf der Bühne irritieren und im wahrsten Sinne des Wortes beeindrucken lässt? Zum Beispiel durch das Bühnenbild.
    Regisseur Christian Stückls Stammbühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier hat - wieder einmal kongenial - buchstäblich das Gerüst für den irrsinnigen Raskolnikow aufgestellt. Steinstaubgrau ausgeleuchtet, spielen sich Dialoge und Seelenqual in einer muffigen Souterrain-WG-Küche ab. Verdreckter Herd mit vollgestellter Spüle auf der einen Seite, in der Raskolnikows Freundin Sonja sich fast zwanghaft immer nach ihren Freier-"Gängen" die Hände wäscht.
    Und auf der anderen Seite ein billiger Tisch mit drei Stühlen, an denen die Kommilitonen diskutieren und der Disput mit dem Ermittlungsrichter stattfindet. Außen an den Wänden liegen Bücherstapel, totes Papier, offenbar untauglich zur Menschwerdung. Selbst die Bibel, aus der Sonja Raskolnikow zum Schluss vorlesen muss, bewirkt nur Verwirrung.
    Ein Gaze-Vorhang trennt die vordere, starre von der hinteren Drehbühne, wo durch Videoprojektionen die Nachrichten-Welt der Durchgeknallten, Terroristen zum Beispiel, aufleuchtet und der Bühnen-Raskolnikow seinem Film-Konterfei ins deklamatorische Wort fällt. Es ist die erste Hauptrolle des erst 24jährigen, erstaunlich agierenden Paul Behren, der in seinem schmuddeligen Unterhemd so blutleer aussieht und soviel Sprengkraft mit dieser Figur entfaltet und dabei so überzeugend, ja, sichtbar, seine Seele ausbreitet. Open end:
    "Als ich zu der Alten ging, war das für mich ein Experiment. – Du hast sie ermordet! –
    Ja, ich hab die Alte umgebracht! –Du hast gemordet! – Morden! Morden! Morden. Nennt man das so? Ich sehnte mich danach zu handeln. Es verlangte mich zu morden. Einzig und allein zu morden. Ich wollte in Erfahrung bringen, ob ich eine Laus bin wie alle anderen, oder ein Mensch. Ob ich imstande bin, Grenzen zu überschreiten. Ich wollte es wagen! Ich. Ich wollte einen neuen Anfang machen!"
    Regisseur Christian Stückl, der Kraftmensch, Hans-Dampf auf allen Theaterbrettern, der es gern auch mal krachen lässt, hat es geschafft. Theaterkunst, ganz traditionell. Oder, wie ein Zuschauer erstaunt angesichts der weitverbreiteten Event-Ex-und-hopp-Inszenierungen meinte, Theater für Erwachsene. Das heißt, Beschränkung von Raum, Zeit und Personen.
    Also: 500 Romanseiten auf 50 Seiten Text komprimieren. Dazu eine Sprache, die lässig zum – heutigen – Studentenmilieu der Protagonisten passt und trotzdem nicht Dostojewski leugnet. Aktuelle Bezüge, die nachhaltige Überlegungen anstoßen. Junge, souverän spielende Schauspieler, die im doppelten Sinn genau den Ton treffen. Ein Bühnen-Bild, das den Blick in den Seelennebel frei gibt, ein Gesamtkunstwerk.