Archiv


Schuldenberge, Hilfspakete und Reformstau

Die Eurokrise beherrscht seit Monaten die Schlagzeilen. Ob die Medien durch ihre Berichterstattung nationalistische Tendenzen und Vorurteile verstärken oder eher ein vielstimmiges europäisches Meinungskonzert erzeugen, das war Thema einer Tagung der Hamburg Media School.

Von Adalbert Siniawski |
    Mitte September 2012 entscheidet das Bundesverfassungsgericht über den Euro-Rettungsschirm ESM. Nicht nur deutsche Medien greifen das Thema auf; auch Qualitätszeitungen in Frankreich, Italien und Spanien berichten auf Seite eins über das Karlsruher Urteil. Ein Beispiel für einen zunehmenden transnationalen Diskurs in Europa, eine europäische Öffentlichkeit'

    Früher hätten ausländische Medien ein Gerichtsurteil in Deutschland nicht in diesem Ausmaß thematisiert, heißt es beim Internetportal "presseurop.eu", das bis zu 200 europäische Presseprodukte auswertet. Neu ist auch das anhaltende Interesse der ausländischen Zeitungen an wichtigen Entscheidungen in den EU-Mitgliedsländern.

    Etwas nüchterner fällt die Analyse von Kommunikationswissenschaftlern aus wie der Journalistik-Professorin Irene Neverla. Die fortdauernde Euro-Krise berühre die Menschen in ihrer Existenz – und negative Entwicklungen erzeugten mediale Aufmerksamkeit, beschreibt sie den Beobachtungsmechanismus der Medien. Eine stärkere Berichterstattung über Europa bedeute eben nicht, dass sie nur positiv sei.

    Dr. Carsten Brosda, Kommunikationswissenschaftler und derzeit Leiter des Amtes für Medien in Hamburg beobachtet eine Re-Nationalisierung des Blickes auf Europa auch in der seriösen Berichterstattung der Qualitätsmedien:

    "Damit meine ich, dass es deutlich leichter ist, in der Bearbeitung der Europa-Krise über Missstände in anderen Ländern Europas zu sprechen, als darüber, sich Gedanken zu machen, wie eigentlich Europa insgesamt als institutionelle Infrastruktur weiterentwickelt werden soll. Das ist nicht nur eine Sache, die bei den Medien liegt, das hat auch mit Politikern zu tun, weil es für Politiker dieses Two-level-game gibt, also: Ich reise nach Brüssel, mache da etwas, gehe dann nach Hause und erzähle der nationalen Öffentlichkeit etwas völlig anderes."

    Brosda zufolge spielen in der aktuellen Euro-Krise nationalstaatliche Akteure und zwischenstaatliche Verhandlungen auf politischer Bühne eine größere Rolle als zuvor.

    Die Hamburger Tagung ging der Frage nach, ob in den Berichten der Mainstreammedien tatsächlich eine europäische oder nicht doch eine nationalstaatliche Perspektive dominiert. Gibt es Anzeichen für ein Wiederaufkommen nationaler Ressentiments und Stereotype?

    Beispiele für Dysfunktionen der Medien lassen sich durchaus finden: 2010 druckt das Nachrichtenmagazin "Focus" auf seiner Titelseite die Venus von Milo mit ausgestrecktem Mittelfinger, daneben die Schlagzeile "Betrüger in der Euro-Familie". Die "Bild"-Zeitung titelt: "Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen." Und das griechische Blatt "Eleftheros Typos" präsentiert in einer Fotomontage ein Hakenkreuz an der Berliner Siegessäule. Beispiele für journalistische Exzesse. gewiss. Doch viele Journalisten beobachten die Ereignisse verstärkt durch eine nationale Brille.

    Das Wochenmagazin "Stern" will diese nationale Perspektive ein Stück weit ablegen; Auslöser waren Beschwerden über einen scharfen Kommentar. Anfang 2010 veröffentlichte der "Stern" einen offenen Beschwerdebrief an die Griechen, der in die übliche Kerbe aus Anschuldigungen schlug.

    "Dann hat sich bei uns die Erkenntnis durchgesetzt: Wir müssen genauer hingucken, es kann nicht sein, dass wir uns an dieser Oberfläche bei diesem wichtigen Thema bewegen. Und haben dann dort einen Korrespondenten herunter geschickt, selber natürlich – wie das üblich ist – Recherchen angestellt und haben dann sehr kurzfristig auch eine andere Haltung dazu entwickelt. Weil die Alternative, der Austritt Griechenlands aus dem Euro, fatale Folgen hätte für ganz Europa und natürlich auch für Griechenland selber."

    Sagt "Stern"-Chefredakteur Andreas Petzold. Im Sommer 2012 schickte er einen anderen Journalisten auf eine wochenlange Zugreise durch mehrere europäische Länder – entstanden ist eine große Reportage über die Stimmungslage der Europäer.

    Eine ähnliche, jedoch stärker historisch untermauerte Reportagesammlung hatte zuvor der Europa-Korrespondent der "FAZ", Dirk Schümer, vorgelegt. In seinem Buch "Das Gesicht Europas" beklagt er, dass Europa zu abstrakt sei. Der Journalismus müsse versuchen, dieses Gebilde mit all seiner Vielstimmigkeit, seiner reichen Geschichte und seinen Widersprüchen plastisch zu beschreiben.

    Dafür plädiert auch der Wiener Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Langenbucher. Seiner Meinung nach sollte sich ein sogenannter "genuiner Europa-Journalismus" nicht so sehr an Brüsseler Richtlinien oder an dem Takt der Öffentlichkeitsarbeit der EU-Institutionen orientieren, sondern vielmehr am Alltag der Menschen, die in Europa leben:

    "Ich halte jede Form der Reportage für einen notwenigen Weg, weil Reportagen transportieren Gefühle, transportieren Emotionen, laden ein, sich in andere Menschen hineinzudenken, hineinzufühlen; und sie kreisen in der Regel um Menschen. Darum geht es im Journalismus unter anderem: Dass man die Europäer aus ihrer Abstraktheit herausnimmt und zu menschlichen Figuren macht, die genauso denken, fühlen, erleben wie man selbst. Es ist vor allem eine Kritik am Journalismus, der den Vorgaben der Politik oder der Wirtschaft folgt, der Themen nur dann aufgreift, wenn sie ohnehin durch das aktuelle Geschehen vorgegeben werden und der nicht selbst eine Thematisierung vornimmt."

    Die Anforderungen an eine genuine Europa-Berichterstattung sind ambitioniert: Langenbucher zufolge müssten die Journalisten unter anderem wissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen, an intellektuellen Debatten teilnehmen und den sogenannten "methodologischen Nationalismus" sowie die "Europa-Blindheit" überwinden, die der Soziologe Ulrick Beck einmal beschrieben hat.

    Die Forderung nach Geschichten aus der unmittelbaren Lebenswelt der Europäer sieht Hans Werner Kilz, langjähriger Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung", erfüllt:

    "Die gibt's doch. Es gibt doch diese freischwebenden Reporter. Sie haben ja fast in jeder europäischen Hauptstadt einen für Wirtschaft, für Politik und sie haben auch einen Reporter, der rausgehen kann, der schreiben kann. Sie suchen sich doch die Leute raus, sie erklären doch so einen Krieg, wie auf dem Balkan, an Einzelschicksalen. Sie erklären auch, warum so viele Leute in Armut leben in Deutschland. Und sie erklären auch dieses etwas gewissenlose Finanzgebaren dieser Hedgefonds. Daran mangelt es wirklich nicht. Nur: Du musst eine kontinuierliche Berichterstattung machen über diese Probleme in Europa – und die ist trocken, da gibt's keine Highlights. Das muss man den Leuten schon zumuten, sich da rein zu vertiefen."

    Dass selbst trockene europäische Themen auf ein breites Publikumsinteresse treffen können, zeigt der Fall des vom Europäischen Parlament gekippten Antipiraterie-Abkommens Acta. Im Internet und in den Sozialen Netzwerken tauschten die Nutzer Informationen aus über die geplante EU-Regelung zur Produktpiraterie und zum Schutz geistigen Eigentums. Sie formierten sich über nationalstaatliche Grenzen hinweg zu einer europaweiten Protestbewegung.

    Zwar ist eine dezidiert europäische Blogosphäre bisher kaum entwickelt – abgesehen von Wirtschaftsblogs. Doch das Beispiel Acta zeigt, dass vielleicht mit den Möglichkeiten des Internets eine lebendige, digitale europäische Öffentlichkeit entstehen kann. Carsten Brosda:

    "Die Aufgabe wird es sein, in den einzelnen nationalstaatlichen Öffentlichkeiten dazu zu kommen, europapolitische Themen angemessen zu diskutieren und dann eine Infrastruktur zu schaffen – sei es über Qualitätsmedien, sei es über neue digitale Angebote –, diese verschiedenen Debatten in den Nationalstaaten wieder so miteinander zu verschränken, dass daraus eine europabezogene Perspektive wird."