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Schule für Flüchtlinge
"Wir müssen das jedem Kind ermöglichen"

Rund die Hälfte der in diesem Jahr in Deutschland erwarteten Flüchtlinge sind schulpflichtige Kinder - das bedeutet eine Mehrbelastung für Schulen. Marlis Tepe von der Lehrergewerkschaft GEW fordert deswegen Verstärkung: Nicht nur brauche es mehr Lehrkräfte, sondern auch für die besondere Situation der Kinder qualifizierte, sagte sie im DLF.

Marlis Tepe im Gespräch mit Kate Maleike | 26.08.2015
    Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht vor einer roten Wand mit der Aufschrift "GUT" in ein Mikrofon
    Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) (dpa/picture alliance/Federico Gambarini)
    Kate Maleike: Wie können Flüchtlinge am besten versorgt werden, die nach Deutschland kommen? Mit mehr Geld, hat das Bundeskabinett heute beschlossen und für dieses Jahr eine Verdopplung der Bundeshilfen entschieden. Diese Versorgungsfrage aber, die treibt natürlich nicht nur Minister und Bürgermeister um, sondern auch viele Schulleiter und Lehrkräfte, denn rund die Hälfte der 800.000 Flüchtlinge, die in diesem Jahr in Deutschland erwartet werden, sind schulpflichtige Kinder. Das bedeutet, dass bis zu 400.000 Kinder neu in die Schulen kommen, sagt die Bundesvorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, Marlis Tepe, und sie kritisiert, dass dafür zu wenig Lehrkräfte zur Verfügung stehen. Guten Tag, Frau Tepe!
    Marlis Tepe: Guten Tag, Frau Maleike!
    Maleike: Wie viele Lehrkräfte fehlen denn, über welche Größenordnung reden wir?
    Tepe: Das kann ich Ihnen so überhaupt noch nicht sagen, weil wir da noch keinen Überblick haben. Ich hab mir jetzt einen Eindruck verschafft von den Ländern, die jetzt mit der Schule angefangen haben - Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thüringen -, und Sachsen-Anhalt und Hamburg starten ja heute, da haben die Ministerinnen oder Senatoren ja Pressekonferenzen abgegeben. Danach heißt es, alle Länder stellen zusätzlich ein, aber ich hab zum Beispiel gelesen, dass es bei 150 zusätzlichen Stellen bleiben soll und 86 davon konnten besetzt werden, davon nur 40 Prozent mit Menschen, die dafür eine Qualifikation haben, also Deutsch als Zweitsprache gelernt haben. Das sind natürlich schwierige Situationen. Wir können Ihnen noch keine Zahlen nennen.
    Maleike: Sie haben es gesagt, Sie sind durch die Lande gereist, haben sich zum Teil auch die Willkommensklassen angeschaut - was sind denn die Hauptprobleme, was haben Sie gehört und gesehen?
    Tepe: Die Probleme für die Lehrerinnen sind natürlich erst mal, dass es so viele Sprachen sind, die da aufeinandertreffen. Das Problem ist, dass viele Kinder traumatisiert sind, gleichwohl hab ich wahrgenommen, dass diese Kinder sehr viel Vertrauen schnell in diese Lehrkräfte geben, glaube ich, also dass es unheimlich wichtig ist bei dieser Frage, auch in Beziehungen zu lernen, und das ist eine große Herausforderung für die Lehrkräfte, wenn Sie sehen, wie es den Kindern geht.
    Pensionierte Lehrkräfte: "Nur ein Tropfen auf den heißen Stein"
    Maleike: Sie haben vorgeschlagen, jetzt auf pensionierte Lehrkräfte zurückzugreifen, wie groß ist da die Bereitschaft, was hören Sie denn von den Lehrkräften?
    Tepe: Ich hab gesagt, wenn Stellen ausgeschrieben werden und nicht besetzt werden können, dann besteht natürlich genauso, wie es jetzt eine Zeit lang so war, dass man für Latein oder Physik ältere Kollegen anschreibt und fragt, also pensionierte oder in Rente befindliche, seid ihr bereit, noch mal für fünf oder acht Stunden auszuhelfen. Genauso könnte man es hier tun. Denn wir wissen ja, dass sehr viele Kolleginnen und Kollegen ehrenamtlich vor Ort Willkommenskultur betreiben, den Flüchtlingen helfen. Ich hab jetzt gesehen, hier wurden Fahrräder repariert für die Flüchtlinge, das war hier in meinem Heimatort, damit die von Ort zu Ort kommen. Also hinter all solchen Sachen stecken häufig auch pensionierte oder in Rente befindliche Lehrkräfte. Vielleicht haben sie die Kraft, da auszuhelfen. Aber das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein.
    Maleike: Und vielerorts werden die Ärmel hochgekrempelt, ich hab's ja gerade gesagt, der Bund will - das wurde heute entschieden - die Unterstützungsgelder für die Flüchtlinge verdoppeln. Rechnen Sie damit, dass davon dann auch was in die Lehrkräfte investiert wird, weil Geld braucht man dafür ja auf jeden Fall, und die Länder sagen immer, sie haben es nicht.
    Tepe: Ja, ich gehe davon aus, dass der Bund das weitergibt und dass es dann sowohl in die Lehrkräfte, in die Schulen gegeben wird als auch, dass die Integrationsmaßnahmen für die Erwachsenen gestärkt werden.
    Maleike: Frau Tepe, der Thüringer SPD-Chef und Erfurter Bürgermeister Bausewein hat sich jetzt in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gewandt und gefordert, die Schulpflicht für Flüchtlingskinder auszusetzen, weil die Kapazität an den Schulen ausgereizt sei. Wie beurteilen Sie das?
    Tepe: Also das Recht auf Schule ist ein Grundrecht, und das müssen wir doch jedem Kind ermöglichen. Wir sind so ein reiches Land, da müssen die Mittel woanders her gefunden werden, also es ist eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen.
    Vernetzung mit Lehrerfortbildungsinstituten
    Maleike: Und aus Ihrer Sicht, was müsste jetzt als Dringendstes geschehen? Muss man nicht eigentlich mal so was wie einen Flüchtlingskindergipfel, einen Schulgipfel anberaumen?
    Tepe: Ich glaube schon, dass es gut wäre, wenn sich die dafür Zuständigen miteinander besser austauschen würden. Ich bin ja schon relativ alt, ich hab in den 70er-Jahren mein Zweites Staatsexamen gemacht. Damals waren schon 71 Prozent der Kinder in meiner Prüfungsklasse mit Migrationshintergrund, frisch in die Schulen gekommene Kinder auch zum Teil. Da hat zum Beispiel so ein Land wie Hamburg, in dem ich Prüfung gemacht habe, ungeheuer viel Erfahrung. Und dann gibt es Bundesländer, in denen Kinder mit Migrationshintergrund zwei bis fünf Prozent ausmachen, da bestehen viel weniger Erfahrungen. Um diese Erfahrung auszutauschen - ich meine, man müsste sich vernetzen auch mit den Lehrerfortbildungsinstituten, um den Kolleginnen und Kollegen schnell Hilfen anzubieten. Ich denke, selbst ein Crashkurs von einer Woche, die man nicht in die Schule geht und da Kolleginnen und Kollegen noch mal ein Stück weit qualifiziert - sofern man eben nur Lehrerinnen hat, die keine deutsche Zweitsprache haben, keine Erfahrung haben - das, glaube ich, wären so Möglichkeiten, die gut wären. Ich finde Ihre Idee eines Gipfels für Kinder, die geflohen sind, gut.
    Maleike: Dann tragen wir das mal weiter, und noch mal zurück zur Größenordnung: So ungefähr, was denken Sie denn, über wie viel Lehrkräfte sprechen wir?
    Tepe: Über Tausende.
    Maleike: Marlis Tepe war das in "Campus & Karriere", die Bundesvorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, zur Lage der Flüchtlingskinder und der Lage in den Schulen. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Tepe!
    Tepe: Danke, Frau Maleike!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.