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Schulen in Italien
Erziehen in Eigenregie

Immer mehr italienische Eltern weigern sich, ihre Kinder in staatliche oder katholische Schulen zu schicken. Der Grund: Dort werden Inhalte unterrichtet, die das klassische Familienbild infrage stellen, so die Kritiker. Strenge Katholiken aber auch Muslime sind überzeugt, sie könnten ihre Kinder besser zu Hause selbst ausbilden - oder in eigenen Schulen.

Von Thomas Migge | 13.01.2017
    Leerer Klassenraum
    Staatliche und katholische Schulen in Italien sind für immer mehr konservativ-katholische Eltern zu sehr vom "Ungeist der Moderne" durchdrungen (dpa/picture-alliance/ Peter Endig)
    "Das Konzept der Familie ist so wichtig, dass es verteidigt werden muss. Doch wenn es nur noch um Gender geht, wird die Idee der Familie zerstört. Mit einer solchen Erziehung dürfen wir uns nicht wundern, wenn unsere Kinder widerliche Dinge tun."
    Und mit "widerlichen Dingen" meint Pietro Sabbadini zwei Jungen oder zwei Mädchen, die sich küssen, eine intime Beziehung eingehen oder gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare einfordern.
    Eine "richtige Schule"
    Sabbidini ist Vater eines 13-jährigen Sohnes: Matteo. Der Ingenieur lebt mit seiner Familie in San Benedetto del Tronto in Mittelitalien. Matteo geht dort zur Schule. In eine, so sein Vater, "richtige Schule":
    "In den meisten Schulen wird nicht mehr die wahre Identität von Mann und Frau unterrichtet, die nämlich ist auf die Vereinigung, die Ehe hin ausgerichtet, auf die Familie, die Vater- und die Mutterschaft und die erzieherischen Pflicht der Eltern."
    Und eben weil Pietro Sabbadini und seine Frau Mariella ihre erzieherische Pflicht ernst nehmen, schicken sie ihren Sohn Matteo auf die Mittelschule "G.K. Chesterton" in San Benedetto del Tronto. Eine konfessionell ausgerichtete Privatschule, die sich nach dem englischen Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton benannt hat, der die Film-Figur "Pater Brown" geschaffen hat. Ein umstrittener Schriftsteller, in dessen Schriften nicht zu übersehende antisemitische Anklänge zu finden sind.
    Glaubenskonforme Bildung
    Für Eltern wie Pietro und Mariella Sabbadini ist diese 2008 gegründete Mittelschule der einzige Ort in ihrer Stadt, in dem ihrer Meinung nach glaubenskonforme Bildung garantiert wird. Eine Bildung, erklärt Marco Sermarini, Direktor der Chesterton-Schule, die in sämtlichen staatlichen Schulen Italiens, Zitat, "pervertiert ist":
    "Diese Schule wurde 2008 von Familien gegründet, von und für Familien, die einen traditionellen Bildungsweg für ihre Kinder wollen. Also die klassischen Schulfächer, aber immer mit Blick auf die Zentralität des Prinzips Familie."
    In Italiens Staatsschulen werden seit einiger Zeit auch Gendertheorien thematisiert - auf Anweisung aus dem Bildungsministerium. So soll sich mehr Toleranz entwickeln für Menschen, die nicht einfach nur Frau und Mann und heterosexuell sind. Seitdem weigern sich nicht nur die Eltern der Chesterton-Schule, ihre Kinder einer solchen Schulausbildung auszusetzen.
    Nicht wenigen konservativ-katholischen Eltern sind inzwischen auch viele der von der katholischen Kirche organisierten konfessionellen Schulen zu sehr vom "Ungeist der Moderne" durchdrungen, wie Schuldirektor Sermarini aus San Benedetto del Tronto meint. Und so gibt es in Italien immer mehr konfessionell ausgerichtete Schüler, die in privat gegründeten, konfessionell orientierten Schulen unterrichtet werden - oder daheim von ihren Eltern.
    Einige der Schulen - etwa die in San Benedetto del Tronto – werden von Teilen des Klerus unterstützt, auch finanziell.
    50.000 Verweigerer-Familien
    Rund 50.000 Familien sind aus den kirchlichen und staatlichen Schulen ausgestiegen und organisieren sich ihre Schulen selbst, so ein Schätzwert des Bildungsministeriums. Nicht nur streng gläubige Katholiken, auch immer mehr sogenannte radikale Freigeister, Anhänger der Theorien von Rudolf Steiner und auch muslimische Einwanderer weigern sich, ihre Kinder auf staatliche Schulen zu schicken.
    Zu den Verweigerern des öffentlichen Schulsystems gehören auch Eltern, die davon überzeugt sind, dass sie ihren Kindern eine bessere, weil individuellere Bildung bieten können. Wie etwa Melissa Matton aus einem kleinen Ort im norditalienischen Piemont:
    "Ich habe sieben Kinder zwischen neun und 28 Jahren. Im Moment werden nur die beiden jüngsten privat unterrichtet. Mein viertes Kind war immer sehr unruhig und konnte sich in der Schule nicht eingliedern. Es hat wenig gelernt. Damals haben wir mit dem Privatunterricht daheim begonnen."
    Grundsätzlich gibt es in Italien eine gesetzliche Bildungspflicht. Maria Grazia Lia, die sich auf Sizilien für den heimischen Privatunterricht einsetzt, deutet die gesetzliche Bildungspflicht so:
    "In Italien ist nicht die Schule Pflicht, also der Schulbesuch, sondern die Ausbildung. Das heißt: Wir können unsere Kinder allein, auch daheim oder in anderen Schulformen ausbilden. Das ist legal. Artikel 30 unserer Verfassung ist da ganz klar. Da ist zu lesen, dass die Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder verantwortlich sind."
    In vielen Regionen kontrollieren die Schulämter kaum noch, ob Kinder überhaupt eine schulische Ausbildung erhalten: in einer staatlichen, konfessionellen oder sonst wie privaten Schule. Davon profitieren jene Eltern, die ihre Kinder weder in eine Schule schicken noch privat ausbilden. Ein vor allem im Großraum Neapel anzutreffendes Phänomen. Vorsichtigen Schätzungen der Caritas Italiana zufolge erhalten in Neapel und Umgebung mindestens 5.000 Kinder überhaupt keine schulische Ausbildung. Die meisten von ihnen gehen arbeiten, um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Viele Minderjährige arbeiten für die organisierte Kriminalität. Camorra statt Schule.