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Schulgrenzgänger

Immer mehr bayrische Eltern schicken ihre Kinder nach der 4. Klasse über die Grenze nach Baden-Württemberg. Nach der Grundschule werden die bayrischen Kinder auf drei Schularten aufgeteilt. Das ist in Baden-Württemberg grundsätzlich nicht anders. Nur: In Bayern entscheiden die Schulnoten und im Nachbarland die Eltern.

Von Michael Watzke |
    Die Volks- und Mittelschule des kleinen Ortes Weitnau im Allgäu hat eine wunderschöne, helle Aula. Dort steht neben Kunst- und Handwerksarbeiten der Schüler ein ratloser Schulleiter.

    "Wir haben ein ideales Schulgelände hier. Wir haben Skilifte, Langlaufloipen hinten raus. Ein Sportgelände. Wir machen viele Projekte. Wenn Sie ins Schulhaus reingehen, sehen Sie überall Ergebnisse. Also ich denke, die Bedingungen sind ideal."

    Das Problem von Schulleiter Walter Höß im bayerischen Weitnau: Er hat trotzdem immer weniger Schüler. Denn immer mehr bayrische Eltern schicken ihre Kinder über die Grenze nach Baden-Württemberg.

    "Also voriges Jahr hatten wir 78 Schüler, die in der 4. Klasse waren. Und davon sind uns am Ende 14 geblieben. Die Gründe sind, dass die Eltern den Eindruck haben, das Schulsystem in Baden-Württemberg würde ihren Kindern bessere Chancen geben, sprich: zu leichteren Abschlüssen führen."

    Das Problem für die bayerischen Schulen tritt in der 4. Klasse auf. Dann werden die zehnjährigen Schüler in drei Schularten aufgeteilt: Gymnasium, Realschule und Mittelschule, also die frühere Hauptschule. Das ist in Baden-Württemberg grundsätzlich nicht anders. Nur: In Bayern entscheiden die Schulnoten. Bei den schwäbischen Nachbarn entscheiden die Eltern. Und für viele Eltern gibt es nichts Schlimmeres als die Aussicht, ihr Kind müsse auf eine Mittelschule. Also schicken sie ihre Kinder auf grenznahe Gymnasien oder Realschulen in Baden-Württemberg:

    "Da scheuen Eltern keine Mühen, Kosten, Investitionen, um ihren Kindern optimale – in ihren Augen optimale – Bedingungen zu schaffen."

    Das führt zu grotesken Situationen. Im schwäbischen Isny beispielsweise, elf Kilometer von Weitnau entfernt, hat die Realschule so viele Schüler, dass die Lehrer in Containern unterrichten müssen. Noch drastischer ist die Situation im schwäbischen Bodnegg: Der kleine Ort nahe dem bayerischen Lindau hat nur 3000 Einwohner, aber 1000 Schüler. Davon etwa jeder fünfte aus Bayern, sagt die Leiterin des Schulzentrums Bodnegg, Gabriele Rückert:

    "Wir haben die Eltern auch gefragt, warum kommen die Kinder zu uns, warum sind wir die Schule der Wahl. Das erste ist unser großartiges Freizeit-Angebot, das wir hier haben. Mittags-Betreuung und sehr viele Freizeit-AGs. Und, was für Eltern zunehmend wichtiger ist: die Hausaufgaben-Betreuung. Das heißt, der Stress von zuhause wird auf die Schule verlagert. Wir kümmern uns darum, dass die Kinder ihre Hausaufgaben hier vor ort erledigen."

    Aus baden-württembergischer Sicht sind es die besseren Angebote, die bayerische Schüler über die Grenze locken, und nicht die geringeren Anforderungen. Elmar Vögel, Schulrat im bayerischen Lindau, muss gestehen: seine bayerischen Schüler drängen nicht nur an die schwäbischen Gymnasien und Realschulen, sondern auch an die Hauptschulen im Ländle:

    "Die baden-württembergischen Hauptschulen sind vielleicht in ihrer Profilierung nach außen einen Schritt weiter momentan als die bayerischen Schulen. Und das dürfte auch mit den Ausschlag geben, warum sich Eltern entscheiden, ihre Kinder nach Baden-Württemberg zu geben."

    Im bayerischen Kultusministerium in München sammelt man derzeit Informationen, an welchen Schul-Standorten besonders viele Schüler "rübermachen". Brennpunkte sind aus bayerischer Sicht die Bodensee-Region und der Bezirk Unterfranken bei Würzburg. Ein flächendeckendes Problem sieht Kultusministeriumssprecher Ludwig Unger nicht. Er kritisiert die Schulpolitik der grün-roten Regierung im Nachbarland:

    "Baden-Württemberg hat den Ratschlag der Lehrkräfte offensichtlich nicht mehr nötig. Entsprechend ist hier der Elternwille völlig freigegeben. Mit dem Problem natürlich: wie geht ein Schüler nachher damit um? Wird er vielleicht überfordert? Auch das muss man im Blick haben."

    Der Schulstreit zwischen Baden-Württemberg und Bayern könnte sich im kommenden Schuljahr noch verschärfen. Denn die grün-rote Regierung unter MP Kretschmann will Gesamtschulen einführen. Im CSU-geführten Bayern dagegen ist das dreigliedrige Schulsystem sakrosankt.

    "Aus unserer Warte ist die Gemeinschaftsschule eine Neu-Auflage der Gesamtschulen von NRW und Hessen der vergangenen Jahrzehnte. Die fördert die Starken nicht genug und bringt die Schwachen nicht genug voran. So dass hier eher eine dünne und schwer kochbare Suppe verköstigt wird."

    Diese Suppe findet allerdings in den bayrisch-schwäbischen Grenzregionen so viele Kostgänger, dass manch bayerischer Lehrer bereits ins Grübeln kommt. Walter Höß etwa, der Schulleiter aus dem allgäuerischen Weitnau, würde seine Schüler am liebsten nicht schon nach der vierten Klasse trennen, sondern später. Er findet, im bayerischen Schulsystem werde zu viel auseinandergerissen:

    "Wir gehen ja praktisch her und unterteilen in der Mittelschule dann noch mal. Wir haben eine P-Klasse, wir haben eine Regelklasse, wir haben eine M-Klasse. Also wir sortieren ab der vierten Klasse nur noch. Wir bringen keine Ruhe mehr rein."

    Nun wartet Höß gespannt auf den 1. Juli. Dann erfährt er, wie viele Eltern ihre Kinder auf der bayerischen Seite zur Schule schicken – und wie viele nach drüben gehen. Höß hätte ja genügend Platz an seiner Schule, um auch ein paar Schwabenkinder aufzunehmen. Aber …

    "… ich kenn keinen, der von Baden-Württemberg nach Bayern wechselt."