Donnerstag, 09. Mai 2024

Archiv


Schulze, Gerhard: Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?

Seit nunmehr 25 Jahren hat Gerhard Schulze eine Professur an der Universität Bamberg für empirische Sozialforschung. In seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen beschäftigt er sich immer wieder mit Fragen des sozialen und kulturellen Wandels, konzentriert sich auf Zeitdiagnosen und Zukunfts-Entwicklungen. 1992 sorgte der heute 59jährige Soziologe für Furore mit seinem Bestseller "Die Erlebnisgesellschaft". Sein jüngstes Buch trägt den Titel "Die beste aller Welten". Da drängt sich die Frage auf: Wo ist sie, diese beste aller Welten. Sie sei nicht erreichbar, räumt der Bamberger Kultursoziologe ein, aber immer erstrebenswert. Die neue Veröffentlichung von Gerhard Schulze stellt Gert Keil vor:

Gert Keil | 21.07.2003
    Seit nunmehr 25 Jahren hat Gerhard Schulze eine Professur an der Universität Bamberg für empirische Sozialforschung. In seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen beschäftigt er sich immer wieder mit Fragen des sozialen und kulturellen Wandels, konzentriert sich auf Zeitdiagnosen und Zukunfts-Entwicklungen. 1992 sorgte der heute 59jährige Soziologe für Furore mit seinem Bestseller "Die Erlebnisgesellschaft". Sein jüngstes Buch trägt den Titel "Die beste aller Welten". Da drängt sich die Frage auf: Wo ist sie, diese beste aller Welten. Sie sei nicht erreichbar, räumt der Bamberger Kultursoziologe ein, aber immer erstrebenswert. Die neue Veröffentlichung von Gerhard Schulze stellt Gert Keil vor:

    Was bringt einen 50-jährigen Familienvater dazu, einen Sportwagen zu kaufen, der 250 Stundenkilometer schnell fährt? Warum werden Stereoanlagen gekauft, deren Spitzenwerte nur noch Messgeräte registrieren können, nicht aber das menschliche Ohr? Und warum werden die Postfilialen in der Fläche ausgedünnt? Diese Alltagsphänomene haben, oberflächlich gesehen, nichts miteinander gemein. Die individuellen Motive mögen auch ganz eigenwillig sein. Betrachtet man hingegen ihren sozialen Sinn, so folgen sie der Logik des Steigerungsspiels. Das jedenfalls meint der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze in seinem neuen Buch: "Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?"

    Was für den ambitionierten Naturwissenschaftler die Suche nach der Weltformel ist, ist für den engagierten Soziologen die Suche nach der Zeitformel. Mit dem Wort "Steigerungsspiel" versucht Gerhard Schulze, bekannt geworden durch das 1992 erschienene Buch "die Erlebnisgesellschaft", eine ganze Epoche auf den Begriff zu bringen: Die Moderne, die mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann, einen beispiellosen Aufschwung der Naturwissenschaften hervorbrachte und einmündete in das, was Max Weber "methodische Lebensführung" genannt hat. "Methodische Lebensführung", damit ist gemeint, ein dauerhaft an Zielen orientiertes Handeln, das auf die beständige Ausweitung seiner Möglichkeiten bedacht ist.

    Worum geht es in dem Buch: Es soll

    Erstens: die Logik und die Dynamik dessen nachgezeichnet werden, was man in aller Verkürzung die "westliche Lebensform" nennt.

    Es soll zweitens: die Sinn- und die Ausdehnungsgrenze dieser Lebensform bestimmt werden. Das übersteigerte Steigerungsspiel grenzt an das Absurde.

    Es soll drittens: gezeigt werden, dass das Steigerungsspiel nicht nur fortlaufend Grenzen überschreitet, sondern auch neue Grenzen setzt.

    Und viertens soll letztendlich gezeigt werden, dass das Leben jenseits des Steigerungsspiels – die Kultur, das Sein, die Begegnung – der öffentlichen Rede zugänglich, aber auch bedürftig ist.

    Am klarsten ist ohne Zweifel der erste Teil des Vorhabens gelungen. Was ist der Motor einer Gesellschaft, die sich beständig im Laufrad des "höher, schneller, weiter" bewegt? Es ist die Suche nach immer neuen Möglichkeiten des Könnens.

    Das Wesentliche bei könnensgerichteten Verlaufsmustern ist ihre Interpretierbarkeit im Sinn von mehr oder weniger, höher oder niedriger, fortschrittlich oder veraltet. Die meisten Steigerungspfade haben die Form einer Treppe. Baureihen von Automodellen, die Entwicklung von Fertigungsverfahren oder die Mondlandung gehören zu Treppen mit großen Stufen. Die vielen Treppen des Könnens lassen sich als ein nach oben führender Korridor beschreiben, der im Steigerungsspiel immer breiter und steiler wurde.

    Die Gesellschaft des höher, schneller, weiter, das ist die Pointe dieser Argumentation, kennt keine Täter und Opfer, keine Verführer und keine Verführten. Sie kennt nur eine Kategorie: die des Mitspielers. Das Steigerungsspiel ist aber nicht nur der Treibstoff unserer Gesellschaft: es ermöglicht auch eine Orientierung in einer Welt permanent zunehmender Möglichkeiten. Man weiß nicht mehr genau, warum man etwas tut, aber man weiß, wie man es macht.

    Gibt es eine Möglichkeit diesem Steigerungsspiel zu entrinnen? Individuell gibt es diese Möglichkeit, man nannte das einmal "aussteigen". Aber dieses Aussteigen zeitigt noch keine andere gesellschaftliche Logik. Die Überwindung muss gleichsam in der Logik des Systems selbst zu finden sein – das ist sozusagen die zentrale soziologische Einsicht. Der Autor vermutet, dass das Steigerungswissen auf breiter Stufe abnehmen würde – nicht zufällig erinnert es die Älteren an die Lehre vom tendenziellen Fall der Profitrate -, und er macht dies auch an zahlreichen Beispielen plausibel. Eine zwingende theoretische Einsicht kann er jedoch nicht vermitteln.

    Folgerichtig wendet sich Schulze nach den inneren Grenzen des Systems nun den äußeren Grenzen des Systems zu: Gibt es nicht jenseits des Steigerungsspiels unabweisbare Bedürfnisse der praktischen Vernunft, oder, wie er es nennt, des "Seins"? In gewissem Sinn ist der Gegenbegriff zum Steigerungsspiel der Begriff der Annäherung oder der der Ankunft. Wie leben wir mit den vielen Möglichkeiten, die wir uns geschaffen haben? In einer paradoxen, gleichwohl aber trefflichen Formulierung nennt der Autor dies das "Können des Seins". An zahlreichen Beispielen und Gegenbeispielen arbeitet er seine Frage heraus. Es ist die Frage nach dem gemeinsam geteilten Sinn gesellschaftlichen Lebens. Wir versuchen eine Arbeit möglichst gut zu verrichten oder ein Unternehmen möglichst gut zu führen. Oder wir versuchen eine Mozartsonate möglichst gut zu spielen. Was aber möglichst gut heißt, darüber kann uns weder die Organisationssoziologie noch die empirische Sozialforschung letztendlich belehren. Weil es keine Sache der Empirie ist, sondern eine Frage der Lebenserfahrung. Und weil der Bezug auf das Subjekt ausschlaggebend ist. Der Raum für ein solches Handeln wird größer: Kultur, Sein und Sinn werden die maßgeblichen Orientierungen des 21. Jahrhunderts – ohne dass wir, wie es z.B. Erich Fromm suggerierte, aus dem Steigerungsspiel aussteigen sollten oder gar müssten.

    Nach den hier vorgetragenen Überlegungen ist im einundzwanzigsten Jahrhundert unter modern etwas anderes zu verstehen als bisher. Auf der Höhe der Zeit wird derjenige sein, der Kultur verstehen und aus diesem Verständnis heraus handeln kann – im Privatleben, in einer wachsenden Anzahl von Berufen, in Forschung, Entwicklung, in Werbung und PR, bei der Unternehmungsführung, in der Politik, im Medienalltag.

    Und dementsprechend wird die Selbstbesinnung auf dieses Handeln dringlicher. Von Selbstbesinnung - das Reflektieren der Regeln des Common Sense – handelt der letzte Teil des Buches. Wie wir in öffentlicher Rede vernünftig über das eigene Leben reden können, das deutet das Buch nur an. Es entwickelt sich nicht zum Ende hin, es bricht einfach ab. Ohne Frage: der Autor hat sich übernommen. Aber zugleich hat er ein bedeutendes Buch zu schwer abweisbaren Fragen geschrieben. Ein Buch jenseits der Schranken seines eigenen Faches. Es ist ein leserfreundliches Buch mit zahllosen Beispielen und einem sorgfältig kommentierten Literaturverzeichnis. Franz Mehring hat einmal die Frage, ob er links oder rechts sei, so beantwortet: "Ich bin vertikal". Gleiches könnte man von Gerhard Schulze sagen.

    Soweit die Rezension von Gert Keil. Es ging um das Buch von Gerhard Schulze: Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Erschienen ist es im Münchner Hanser Verlag, ist 392 Seiten dick und kostet 23 Euro und 50 Cent.