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Schutz vor den Flüchtlingen

Klapprige Boote, die an einer abgelegenen Stelle ins Meer stechen, beladen mit jungen Männern, Familien, schwangeren Frauen, Kindern. Boote, die kentern, Flüchtlinge, die auf hoher See treiben, bis sie verdursten. Menschen, die sich umbringen, weil ihre Fluchthelfer sie im Stich gelassen haben, weil sie ohne Ausweispapiere aufgegriffen oder ihre gefälschten Visa entdeckt worden sind. All das kennen wir nicht erst seit einigen Jahren. Die Europa-Kolumne von Navid Kermani.

29.09.2008
    Zahlreiche seiner klügsten Geister hat Europa verloren, weil sie vor verschlossenen Grenzen standen, weil sie keine gültigen Ausweispapiere vorzuweisen hatten, keine Visa, keine Devisen. Zahlreiche Europäer haben nur deshalb überlebt, weil sie vor siebzig Jahren von Tarifa nach Tanger übersetzen konnten. Jeden Tag spielen sich an Europas Grenzen und den gegenüberliegenden Küsten die gleichen dramatischen Szenen ab wie vor siebzig Jahren. Durch die Literatur, die Kunst, den Film haben wir teilgenommen an unzähligen europäischen Flüchtlingsschicksalen. Weshalb rufen wir dann reflexartig Schimpfwörter aus, wenn sie uns heute aus der anderen Perspektive begegnen: Illegale, Kriminelle, Menschenhändler, Wirtschaftsasyl, Drogenströme, Terrorismus, das Boot ist voll?

    Ich weiß schon, man wird sagen, man dürfe nicht vergleichen. Ich vergleiche nicht die Ursachen. Ich vergleiche die Folgen. Ein Flüchtling, der ertrinkt, ist ein Flüchtling, der ertrinkt. Er muss nicht wegen seiner Rasse oder seiner politischen Gesinnung wegen verfolgt worden sein, um Gründe genug gehabt zu haben, sein Leben zu riskieren, nur um nach Europa zu entkommen. Wer hungrig ist und ein Stück Brot will, ist kein Schmarotzer und schon gar nicht kriminell. Er klagt sein Menschenrecht auf Leben ein. Er gibt dem einfachsten, unmittelbarsten Impuls eines jeden Menschen nach. Wir verhindern jeden Tag, dass Menschen überleben. Wir geben dem einfachsten, menschlichen Impuls nicht nach, dem die Hand zu reichen, der um sein Leben ringt, sondern meinen stattdessen uns selbst schützen zu müssen vor denen, die bei uns Schutz suchen.

    Geht man davon aus, dass nur jede dritte Leiche gefunden und registriert wird, sind allein im Umkreis der Meerenge von Gibraltar in den letzten fünfzehn Jahren dreizehn bis fünfzehntausend Flüchtlinge gestorben. Die Meerenge ist damit das größte Massengrab Europas. Weil die Kontrollen in der Meerenge immer schärfer werden, weichen die Boote aus auf Routen, die noch gefährlicher sind, vor allem wenn sie westlich auf den offenen Atlantik führen.

    Mit immer mehr Soldaten, immer modernerer Technik und noch mehr Geld fängt die Europäische Union die Flüchtlinge schon auf dem afrikanischen Festland oder spätestens auf dem Mittelmeer ab. Die Diktaturen Nordafrikas werden für ihre Kooperation reich entlohnt. Nicht nur erhalten sie Wirtschaftshilfe und politische Unterstützung. Europa sorgt inzwischen auch für die Lager, in die die Flüchtlinge gepfercht werden, unter Bedingungen, die für Lager in einer Diktatur wie Libyen eben charakteristisch sind. Menschenrechtsgruppen berichten von Misshandlungen, Vergewaltigungen, Hunger, am schlimmsten in den libyschen Lagern. Europa schickt Matratzen für diese Lager, Wolldecken, Nachtsichtgeräte, Unterwasserkameras und Busse für den Abtransport. Sogar 1000 Leichensäcke für die Flüchtlinge erhielt die libysche Regierung aus Italien. Europas Politiker interessiert heute nur, wie sie die letzten Mäuselöcher in den Toren Europas schließen können. Was hinter den Toren geschieht, interessiert sie nicht. Interessiert es uns? Die Regierung, die die Metapher vom vollen Boot auf die heillos überladenen Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer bezöge, statt auf die eigenen Wohlstandsgesellschaften, wäre rasch abgewählt.