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Schwache Dramaturgie

Wie sich ein Bestseller auf der Bühne macht, führt das Berliner Maxim Gorki Theater mit Cornelia Funkes "Tintenherz" vor. Das Resultat ist ernüchternd.

Von Eberhard Spreng |
    Mo hat die Gabe, beim Vorlesen die Figuren der gerade vorgelesenen Geschichte ins reale Leben zu rufen. Eine Bande von Mordbrennern um den dämonischen Capricorn ist so in sein Leben und das seiner zwölfjährigen Tochter Meggie getreten. Aber so hat er auch umgekehrt seine Frau Resa verloren, die irgendwo, buchstäblich unwiderruflich, in der Fantasiewelt des "Tintenherzes" verschwunden ist.

    Träumt nicht jeder faszinierte Leser gelegentlich, er könne aus der eigenen in die Welt der erzählten Geschichte eintreten oder ungekehrt deren Figuren ins eigene Leben holen? In Cornelia Funkes "Tintenwelt"-Trilogie wird das zum abenteuerlichen Alptraum. Mit einer Auflage von 500.000 Exemplaren startete deren letzter Teil "Tintentod", und der in den USA hergestellte Film "Inkheart" soll am Ende dieses Jahres hierzulande auf die Leinwände kommen.

    Vielleicht ist in diesem Zusammenhang das Gute am Theater, dass es die aus der Fantasywelle auf die Bühne schwappelnde Story sofort und unwillkürlich auf ihren tiefenpsychologischen Kern bringt: Die Traumwelten und Traumgestalten, die sich zwischen Mos Buchdeckeln verbergen und erst beim Lesen durch die Fantasie des Lesers zum Leben erweckt werden, müssen für die Filmleinwand mit hübschen Special-Effects zu überwältigen, bedrohlichen oder fantastischen Bildern gemacht werden. Das Theater aber, diese plumpe Schaukiste, in der sich Lebe- von Fabelwesen nur durch Kostüme, Schminke und Gebärden unterscheiden können, tilgt die Grenze zwischen den Wirklichkeitsebenen und offenbart insgeheim das Psychogramm der Autorin. Die Mächte des Bösen sind, so wie im Film, auch in Mark Zurmühles Realisation miese Typen in langen schwarzen Ledermänteln. Mit ihren Silberkettchen und Klappmessern, ihren langen schwarzen Haaren wirken sie irgendwie wie eine kriminelle Zigeunergang vom Balkan, die der blondgelockten Maggie und ihrem ebenso blondlockigen Vater Mo bei deren Bemühungen um die Familienzusammenführung übel zu schaffen machen. Die bösen Junges sind eigentlich nichts weiter als eine klassische Randgruppenphobie des Spießers.

    Während dereinst in Michael Endes "unendlicher Geschichte" die Abenteuer des jungen Lesers dazu dienten, die reale Welt und die Welt der Fantasie miteinander zu verbinden, sie beide durch Austausch aneinander gesunden zu lassen, steht hinter dem Phantastischen hier eher die abenteuerliche Jagd auf das Verdrängte. In der gigantischen Bibliothek von Meggies Tante Elinor soll das fatale Märchen-Buch vor den Mächten der Bösen versteckt werden, aber tatsächlich können Mo und seine Tochter Meggie ihr Problem erst lösen, nachdem sie den Autor der Geschichte, den alten Fenoglio, aufgefunden haben und dazu überreden konnten, das Ende der Geschichte umzuschreiben. Der Autor allein kann es richten, die Sprache bleibt die Meisterin beim Bändigen des Unheimlichen. Jetzt wendet sich der leibhaftige Horror, der Morddämon mit dem bezeichnenden Namen der "Schatten", gegen Capricorn und seine Bande. Wie eine übergroße Vogelscheuche taucht er im Gegenlicht auf der Hinterbühne auf. Sehr unheimlich ist das nicht gerade.

    Die Gorki-Inszenierung versucht tapfer, die profillosen und klischeebehafteten Figuren durch ihre abenteuerliche Geschichte zu bringen und offenbart dabei doch nur deren schwache Dramaturgie: Der spielerische Wechsel der Realitätsebenen fehlt, die Geschichte wird flach. Vielleicht kann das Theater am Fantasy-Boom nicht gut teilnehmen, weil es dessen grundsätzlich privaten Charakter verfehlt. Die Wirklichkeitsflucht die sich hierin ausdrückt, wird ausgerechnet zu einem Zeitpunkt ein Massenphänomen, an dem die Wirklichkeit spannender nicht sein könnte.

    Die Weltgeschichte steht vor völlig unvorhersehbaren Entwicklungen, alte Gewissheiten verschwinden und die alten Machtverhältnisse zerbrechen auf geradezu spektakuläre Art und Weise. Vielleicht ist der Konsum von Fantasy und Mystery hier ein Ventil, mit dem die durch Neuigkeiten gebeutelte Seele in Parallelwelten entkommen will. Vielleicht aber sind diese Parallelwelten auch ein Spiegel der Wirklichkeit. Im fantastischen Kino der 20er Jahre sah der berühmte Kulturkritiker Siegfried Kracauer einst in den damaligen Dämonen und Herrschern der Finsternis Vorzeichen für das Grauen, das Europa dann in den 30er und 40er Jahren erlebte. Seine Caligaris und Dr. Mabuses traten gewissermaßen von der Leinwand ins Leben. Vielleicht lohnt es auch heute wieder, zu beobachten, welche Formen dämonischer Macht da in den Fantasy-Welten erprobt werden.