Archiv


Schwache Hoffnung für das ''Tal der Rosen''?

Kein post-sozialistischer Staat manövrierte sich in den Wendejahren in eine derart dramatische Wirtschafts- und Finanzkrise wie Bulgarien. Jahre, in denen die einheimische Währung, Lev, 94 Prozent ihres Wertes verlor, die Inflation auf über einhundert Prozent explodierte und das Bankensystem des Landes kollabierte. Jahre auch, in denen alte kommunistische Führungskader faktisch die gesamten Devisenreserven ins Ausland schmuggelten, um sich mit dem Geld dann die Filetstücke der bulgarischen Volkswirtschaft buchstäblich unter den Nagel zu reißen. Zwölf Jahre nach dem gesellschaftlichen Umbruch sucht das kleine Balkan-Land mit seinen knapp acht Millionen Einwohnern noch immer herauszukommen aus jener Krise, in die es die Nachfolger Schiwkows gestürzt haben. Dem Beobachter bietet Bulgarien heute ein zwiespältiges Bild. Auf der einen Seite eine junge, reformorientierte und westlichen Werten verpflichtete Regierung und eine Wirtschaft mit Wachstumsraten, von denen Deutschland derzeit nur träumen kann. Auf der anderen Seite eine Bevölkerung, an der aller Aufschwung vorbei geht, die immer weiter in die Armut abzurutschen droht und der von aller Hoffnung nur die an Gott zu bleiben scheint.

Jutta Schwengsbier und Mirko Schwanitz |
    Ich habe ein paar Paprika und Gurken gekauft. Heute waren sie dreimal so teuer, wie vor zwei Wochen. Ich bekomme nur umgerechnet 50 Euro Rente, mehr kann ich mir nicht leisten.

    Die siebzigjährige Maria Antoneva hat vierzig Jahre als Buchhalterin gearbeitet. Sie geht täglich zur Messe und dann über den nahe gelegenen Markt auf die Suche nach einem Schnäppchen. Bulgarien war einmal der Obst- und Gemüsegarten des untergegangenen Ostblocks. Heute haben es Salate aus Südbulgarien oder Feigen aus der trakischen Tiefebene schwer neben Tomaten aus der Türkei, Blumen aus Holland oder Orangen aus Spanien.

    Die Preise sind westlich, Löhne und Renten aber auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Die Märkte sind gleichsam ein Spiegelbild der Probleme Bulgariens. Nicht nur, was die Waren betrifft.

    Die Reallöhne der Bevölkerungsmehrheit sinken beständig, obwohl die Wirtschaftskraft Bulgariens langsam zunimmt. Jetzt ist es an der Regierung unter Premier Sakskoburggotski die wachsende Schere zwischen Arm und Reich langsam wieder zu schließen. Die Europäische Union fordert zudem vom Beitrittskandidaten Bulgarien, endlich auch seine Minderheitenprobleme zu lösen. Insbesondere die Roma, laut letzter Volkszählung 4,6 Prozent der Bevölkerung, sind ständiger Diskriminierung ausgesetzt. Laut jüngstem EU-Fortschrittsbericht der Beitrittskandidaten sind mehr als 90 Prozent der Roma in Bulgarien arbeitslos. Und so sind viele aufs Betteln und die Mülltonnen angewiesen, um zu überleben. Oder sie ziehen, wie hier der alte Kostjo Andonov, mit ihrem Tanzbär über die Märkte.

    Politische Beobachter sind immer wieder erstaunt, wie geduldig die Bulgaren die Härten des Transformationsprozesses ertragen. Bei allen sozialen Problemen lassen sich kaum Spannungen ausmachen, die Instabilität und außenpolitische Unberechenbarkeit zur Folge hätten. Im Gegenteil: Bulgarien gilt als Hort der Stabilität auf dem Balkan. Während Nachbarländer wie Serbien und Mazedonien mit Bürgerkrieg und nationalem Hader zu kämpfen haben, hat das Land stets eine vermittelnde, mäßigende Position eingenommen, meint Bulgariens Verteidigungsminister, Svinarov. Bei den Bemühungen, den Balkan zu stabilisieren, sei Bulgarien deshalb für EU wie NATO ein äußerst wichtiger strategischer Verbündeter. Das Ziel aller politischen Parteien in der Sobranije, dem Parlament in Sofia, sei klar: Beitritt zur EU, Beitritt vor allem aber zur NATO:

    Alle politischen Parteien im Parlament sind sich einig: Bulgarien soll Mitglied der Nato und der Europäischen Union werden. Auch das Bulgarische Volk unterstützt eine Teilnahme Bulgariens in der Allianz. Wir glauben ein System der kollektiven Verteidigung ist nötig und Bulgarien soll daran mitwirken.

    Permanent reisen bulgarische Politiker jeder Couleur durch Europa, um für eine Aufnahme ihres Landes in die EU zu werben. Den NATO-Beitritt erklären sie als selbstverständlichen Schritt hin zu einer europäischen Integration. Auch Präsident Parwanow aus den Reihen der sozialistischen Partei BSP.

    Ich bin der Ansicht, dass die NATO und natürlich auch die EU in den Frieden auf dem Balkan investieren, indem sie eine klare europäische Perspektive der Länder in Südost-Europa unterstützen, inklusive Bulgarien.

    Der Annäherung an die NATO war ein schwieriger Abnabelungsprozess vom einstigen Verbündeten Russland vorausgegangen. In den traditionell guten Beziehungen beider Länder war zu Beginn der neunziger Jahre eine Eiszeit eingetreten. Gleichsam als Strafe dafür, das Moskau Bulgarien während der Jahre kommunistischer Herrschaft zu seinem treuesten Vasallen gemacht hatte, betrieb die damals an die Macht gekommene oppositionelle Union der Demokratischen Kräfte eine Abgrenzungspolitik, die Russland zunehmend vor den Kopf stieß. Erst vor kurzem leitete die jetzige Regierung ein Tauwetter ein.

    Mit Premier Sakskoburggotski besuchte seit sieben Jahren zum ersten Mal wieder ein bulgarisches Staatsoberhaupt den Kreml. Präsident Putin bemühte gar das Bild einer Wende in den Beziehungen zwischen beiden Ländern. Und die auflagenstärkste bulgarische Zeitung "24 Stunden” titelte: "Bulgarien vertreibt die bösen Geister in der Russland-Politik”. Man habe Moskau klar gemacht, das der angestrebte NATO-Beitritt kein Schritt zu einer weiteren Abgrenzung von Russland sei. Für den bulgarischen Verteidigungsminister Svinarov ist dies nur selbstverständlicher Bestandteil einer gesamteuropäischen Sicherheitspolitik.

    Bulgarien arbeitet daran, seine Armee zu modernisieren und umzustrukturieren. Wir wenden regelmäßig 3 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für den Verteidigungsbereich auf. Das ist im Vergleich mit anderen Staaten eine sehr hohe Prozentzahl. Ich glaube, wir werden die Kriterien bald erfüllen, die von der NATO an die bulgarischen Streitkräfte gestellt werden, wenn es um die Ausrüstung und Bewaffnung geht.

    Drei Prozent des Bruttosozialprodukts für die Modernisierung der Armee - eine teure Angelegenheit für ein Land, in dem die Wirtschaft nicht gerade boomt, die Staatseinnahmen gering sind und die Verschuldung hoch ist. Die darbende Staatskasse muss aufgefüllt werden - egal wie. Weitere Steuer- und Preiserhöhungen sind von der Bevölkerung nicht mehr zu verkraften und Kredite sind kaum noch zu bekommen. Zu hoch ist die Staatsverschuldung und zu stark der Druck des Internationalen Währungsfonds, das sogenannte "Tafelsilber”, die Perlen der bulgarischen Wirtschaft zu verkaufen.

    Um die Auslandsschulden bedienen zu können, ist die bulgarische Regierung inzwischen bereit, die noch verbliebenen und durchaus lukrativen staatlichen Großunternehmen weit unter Wert zu verkaufen.

    Auch Präsident Parwanow versucht Groß-Investoren zu locken. Vor allem im Energiebereich.

    Bulgarien ist einer der Schlüsselstaaten im Energiebereich Südost-Europas. Wir wollen auch künftig die Rolle einer Drehscheibe spielen. Investoren aus Deutschland wie RWE und E.ON sind da stets willkommen.

    Dass die Regierung sich gerade für die Privatisierung des Energiesektors engagiert, hat gute Gründe. Seit Jahren ächzt die Bevölkerung unter der Preispolitik der bulgarischen Stromversorger. Bis zu 80 Prozent ihres Monatsgehaltes müssen Arbeiter und Angestellte für die monatlichen Stromrechnungen aufbringen. Die Unzufriedenheit darüber hat inzwischen zu einem drastischen Image-Verlust der Regierung Sakskoburggotski geführt. Ihr politisches Überleben könnte am Ende davon abhängen, ob es ihr gelingt, sich gegen jenen Filz mächtiger und von den russischen Energie-Giganten Gazprom und LUKoil unterstützten Interessengruppen im eigenen Land durchzusetzen, die den bulgarischen Energiemarkt nur gar zu gern unter sich aufteilen wollen.

    Nur wenigen in Westeuropa ist bekannt, dass dieser Marktsektor zu den lukrativsten Investitionsfeldern Südost-Europas gehört, denn Bulgarien ist der größte Energieexporteur auf dem Balkan.

    Erst in diesem Zusammenhang wird auch die innenpolitische Sprengkraft deutlich, die sich aus der EU-Forderung ergibt, das Kernkraftwerk Kosloduj abzuschalten. Zwei von sechs Reaktoren wurden bereits stillgelegt. Doch die Proteste der Bevölkerung werden immer lauter. 500 000 haben inzwischen eine Petition gegen die Schließung von Kosloduj unterschrieben. Sollten, wie vereinbart, die verbleibenden vier Reaktoren abgeschaltet werden, sei kein Bulgare mehr im Stande, seine Stromrechnung zu bezahlen, behauptet der Betriebsdirektor von Koslodui, Kiril Nikolov:

    Im Jahr 2001 hat das Kernkraftwerk 19,5 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt. Das entspricht 44 Prozent der gesamten Energieerzeugung in Bulgarien.

    Hinter der Sicherheitsdebatte um Koslodui verbergen sich noch ganz andere Motive: Die Abschaltung des Kernkraftwerkes würde die führende Stellung Bulgariens auf dem Energiemarkt Südosteuropas zerstören. Der EU-Berater der bulgarischen Regierung, der ehemalige Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Werner Münch, hat sich das Problem Kosloduj deshalb besonders genau angesehen.

    Natürlich stecken auch von den anderen Ländern wirtschaftliche Interessen dahinter. 5159 Man muss überlegen, welche Auswirkungen hat das für die Energieversorgung des Landes, mit welchen Folgen und welchen Kosten. 5208 Und wenn man (...) zum Beispiel aus Sicherheitsgründen, (...) für eine frühe Schließung wäre, dann müsste man darüber nachdenken, in welcher Weise die Bulgaren einen Ausgleich bekämen. Das können die Bulgaren nicht alleine tragen.

    Ohne Kosloduj kann die Wirtschaft Bulgariens nicht überleben. Mit Kosloduj aber kommt das Land nicht in die Europäische Union. Sofia steckt in einer Zwickmühle. Eine Abschaltung ohne vorherigen Ausgleich würde zu einem ähnlichen Kollaps führen, wie ihn die Landwirtschaft nach einer völlig überhasteten Privatisierung schon hinter sich hat: Aus dem einst größten osteuropäischen Exporteur landwirtschaftlicher Erzeugnisse ist längst ein Importeur mit Handelsdefizit geworden. Im Unterschied zu Kosloduj sei die Krise der Landwirtschaft aber hausgemacht, urteilt Mitko Vasilew, der Vertreter der deutschen Wirtschaft in Sofia:

    Das waren die ersten Jahre der Euphorie, man wollte sehr schnell von dem einen System zum anderen. (...) Hier gab es sogenannten Liquidationskomitees und dort waren Leute, die überhaupt keine Ahnung von Landwirtschaft hatten, die mussten nur zerstören, veräußern, verkaufen, das was da war, sollte abgeschafft werden, ohne zu denken, was später geschehen wird. Viel Vieh wurde geschlachtet, lebendige Tiere wurden exportiert. Es gab eine Periode, wo Bulgarien keinen Weizen hatte und aus Polen Riesenmengen Weizen und Futter importiert werden sollte.

    Miglena Kuneva hingegen, stellvertretende Aussenministerin und verantwortlich für die EU-Verhandlungen ihres Landes, verweist auf die schwierigen außenwirtschaftlichen Bedingungen, mit denen die bulgarische Landwirtschaft nach der Wende fertig werden musste.

    Unser Landwirtschaft hat sich noch immer nicht vom Zusammenbruch der Märkte in der ehemaligen Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Staaten erholt. Und neue Absatzmärkte zu erschließen, ist ein schwieriges Unterfangen.

    Dies sei sicher ein Problem, meint Dimanu Gologente, Direktor der im Rosen-Tal liegenden Landwirtschaftskooperative Enina. Doch Hilfe von Seiten bulgarischer Politiker spüre man kaum. Dabei seien doch Böden und klimatische Verhältnisse in Bulgarien für qualitativ hochwertige Produkte geradezu ideal. Dafür aber brauche man moderne Technik und hervorragendes Saatgut. Und das sei entsprechend teuer.

    Unser größtes Problem ist die Kreditbeschaffung. Aber wir brauchen das Geld um den veralteten Maschinenpark zu erneuern oder wenigstens Ersatzteile zu kaufen. Im Gegensatz zum Westen unterstützt unsere Regierung die Landwirtschaft weder mit Krediten noch mit Subventionen.

    Noch lebt die Kooperative in Enina vor allem von der Hoffnung - auf die EU und auf Kredite für die Landwirtschaft. Aber wenn sich die Situation nicht bald ändere, dann würden die letzten noch bestehenden Strukturen zerbrechen, fürchtet Direktor Gologente. Und das wäre das Ende für die bulgarische Landwirtschaft.

    Ein paar Kilometer von Enina entfernt. Eine Roma-Siedlung am Stadtrand von Kasanlyk, einer grauen und tristen Industriestadt. Viele Bulgaren möchten von dieser Minderheit am liebsten nichts hören und sehen. Über 2000 Roma leben allein in dieser Siedlung, vor der die Stadt eine hohe Mauer errichtet hat. "Schengen” - hat ein frustrierter Rom mit leuchtend blauer Farbe an diese graue Wand geschrieben. Schengen, das beginnt für die bulgarischen Roma gleich jenseits der Mauern, jenseits der Ghettos, in denen sie leben und von denen nicht wenige an die Slums von Kalkutta erinnern.

    Anton Todorov ist nicht nur ein talentierter Sänger. Er ist auch ein guter Handwerker und Arbeiter. Genützt hat es ihm bisher wenig.

    Wir Zigeuner haben in diesem Land immer die schwerste und die schmutzigste Arbeit gemacht. Nach der Wende hat man uns alle als erste entlassen und hat uns nie wieder eine qualifizierte Arbeit gegeben. Wir dürfen nur den Müll aus den Städten kehren, die Klärgruben und die Kanalisation reinigen. Das alles machen wir mit unseren Händen, denn Arbeitsmittel dafür bekommen wir nicht.

    Anton Todorov stand einst an einer japanischen Drehmaschine und hinter vorgehaltener Hand sind seine alten Kollegen voll Lob über Todorovs Geschicklichkeit. Aber in Bulgarien wird meist schief angesehen, wer ein gutes Wort über die Roma verliert. Diese Diskriminierung hat solche Ausmaße angenommen, dass die EU sich in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht der Beitrittskandidaten genötigt sah, dieses Thema auf den ersten Seiten zu behandeln. Den Absichts-Erklärungen der Regierung, diese Probleme anpacken zu wollen, steht dort zu lesen, seien immer noch keine konkreten Maßnahmen gefolgt.

    Die Diskriminierung beginnt bereits in den Schulen. Roma-Kinder und bulgarische Kinder werden seit der Wende 1989 getrennt unterrichtet. Die Vorurteile und Ängste werden damit staatlich sanktioniert. Dies geht soweit, dass viele Bulgaren inzwischen Überfremdungsängste haben, weil die Geburtenrate bei den Roma traditionell sehr hoch ist. An den Stammtischen wird hier und da sogar schon mal die Zwangssterilisation von Roma-Frauen gefordert.

    Der Bericht der EU begrüßt zwar erste Ansätze, etwa zurück zum gemeinsamen Unterricht, verweist aber darauf, dass dieser nicht auf staatliche Initiative zustande gekommen sei, sondern ausschließlich durch Projekte internationaler Hilfsorganisationen. Die Integration der vielleicht eine halbe Million Menschen zählenden bulgarischen Roma ist eines der größten Probleme, die die Regierung Sakskoburggotski bis zum angestrebten EU-Beitritt im Jahr 2007 bewältigen muss. Insgesamt ergebe die Regierungsarbeit im letzten Jahr ein sehr ambivalentes Bild, meint der Vertreter der Deutschen Wirtschaft in Sofia, Mitko Vassilev.

    Eins ist Fakt. Der aussenpolitische Kurs wurde fortgesetzt. Die makroökonomische Stabilität ist geblieben. Bulgarien ist auf Wachstumskurs. Das ist alles gut. Nur, die vielen Versprechungen, die in der Wahlperiode gegeben wurden, werden nicht erfüllt.

    In 800 Tagen, so hatte Premier Sakskoburggotski, nach seinem furiosen Wahlsieg im Juni 2001 versprochen, sollte es allen Menschen in Bulgarien besser gehen.

    Sichtbares Zeichen der allgemeinen Unzufriedenheit ist der Exodus der Bulgaren ins Ausland. Damit steht das Land vor seinem nächsten gravierenden Problem, denn vor allem die jungen, gut ausgebildeten Leute wandern aus.

    Eigentlich in unserer Schule in diesem Jahr von 120 Leuten, sind 110 Leute nach Deutschland gefahren. (...) Dieses Jahr. Und voriges auch. Für immer, ja. Sie sind Studenten jetzt dort und sie sind mit einem Gedanken geflogen und gefahren, dass sie werden dort eine Arbeit finden, dort vielleicht heiraten und dort wohnen.

    Zurück bleiben die Alten und hoffen, dass ihre Kinder irgendwann einmal zurück kommen. Viele ahnen, dass das zumindest derzeit eine vergebliche Hoffnung ist.