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Schwan fordert mehr soziale Gerechtigkeit

Karl-Heinz Gehm: "Macht hat er eigentlich keine – der Bundespräsident –, aber . . ." so äußert sich Johannes Rau. Frau Professor Schwan, was ist dieses 'aber', das die Rolle des Bundespräsidenten prägt und dieses Amt so attraktiv macht? Was fasziniert am Amt, das andere am liebsten eigentlich abschaffen würden?

    Gesine Schwan: Dass man mit dem Einfluss und der Autorität, die das Amt schon hat und die man sich als Person zusätzlich entweder erwerben muss oder schon ausstrahlen kann, Einfluss nehmen kann auf die Voraussetzungen politischer Entscheidungen, die in meiner Sicht heutzutage viel wichtiger sind als konkret die einzelnen Entscheidungen im politischen Prozess. Und wenn es, was meine Diagnose ist, gegenwärtig im Reformprozess daran mangelt, dass die Gesellschaft – die einzelnen Individuen aber auch die größeren Gruppenakteure – eigentlich nicht genau wissen, wohin letztlich die Reise gehen soll, dann ist zusätzlich die Möglichkeit gegeben, die Wertedebatte, die hinter der Reformdebatte steht, stärker ins Bewusstsein zu bringen, auch da Orientierungen vorzuschlagen und ein gegenseitiges Vertrauen zu stiften, das dann die Flexibilität von Reformpolitik erleichtert.

    Gehm: Der Präsident also als der große Vermittler, der Mediator – das ist die eigentliche Aufgabe?

    Schwan: Ja, und derjenige, der Einfluss nehmen kann auf die politische Kultur einer Demokratie, die oft unterschätzt wird in ihrer Wichtigkeit.

    Gehm: In diesem Bundespräsidentenwahljahr 2004 kandidieren nun ein Ökonom und eine Politikwissenschaftlerin – keine aktiven Parteipolitiker, sondern Seiteneinsteiger. Wie dürfen wir dies deuten?

    Schwan: Ich glaube, dass auf beiden Seiten der Eindruck entstanden ist, dass neue Gesichter interessant sein können in dieser Auseinandersetzung, und dass Seiteneinsteiger ein politisch völlig zureichendes, aber darüber hinaus gehendes Wissen und Kompetenzen mitbringen können, die in der gegenwärtigen Situation gefordert sind. Ich kann da natürlich jetzt nicht über den anderen Kandidaten sprechen, aber für mich gilt das, denke ich. Als Politikwissenschaftlerin habe ich gleichsam jahrelang trainiert, politische Situationen zu analysieren, und zwar in ihrer Komplexität und in ihrem größeren systematischen Zusammenhang. Darauf lege ich großen Wert. Oft wird bei Einzelpolitiken unterschätzt, dass sie Auswirkungen in unerwarteten Bereichen haben und dass sie auch beeinflusst werden von Voraussetzungen, die man nicht in Rechnung gestellt hat. Und ich glaube, dass man als Politikwissenschaftlerin, zumal als eine, die im theoretischen Bereich gerade diese methodischen Voraussetzungen sehr viel bedacht hat, da einiges leisten kann.

    Gehm: Ein Vorteil für den Politikwissenschaftler also . . .

    Schwan: Denke ich . . .

    Gehm: vor dem Ökonom? . . .

    Schwan: also vom wissenschaftlichen Zugang her ist es einfach – jedenfalls im Verständnis der Politikwissenschaft so, dass man die sozialen Fragen, die ökonomischen Fragen, die kulturellen Fragen verbinden muss miteinander, und dass kein Teil verabsolutiert werden darf, jedenfalls im wissenschaftlichen Ansatz. Was dann der konkrete Ökonom oder die konkrete Politikwissenschaftlerin daraus macht, ist noch eine andere Frage.

    Gehm: Einen Präsidentenwahlkampf gibt es ja eigentlich nicht, aber bei knappen Mehrheiten, wie diesmal, gibt es natürlich doch einen. Welche Zwischenbilanz würden Sie denn ziehen zur Halbzeit dieser Präsentation?

    Schwan: Zunächst einmal, was meine Person angeht, bin ich sehr erfreut darüber, dass das Medienecho insgesamt überall sehr fair gewesen ist. Ich fand es auch positiv, aber es war vor allen Dingen sehr fair. Das ist ja wichtig. Und im Persönlichen habe ich gemerkt, dass plötzlich der Bekanntheitsgrad enorm steigt und ich an verschiedenen Orten, auch als ich im Ausland war, Zuspruch bekommen habe – spontan von Personen, die ich überhaupt nicht kenne, gerade auch von sogenannten 'Personen aus dem Volke', die aber sehr genau begriffen haben, worum es mir geht. Und das war für mich auch eine sehr wichtige Erfahrung, die also nicht nur etwa diffus mich begrüßt haben: 'Ach, das ist ja unsere neue Präsidentin' – das ist dann manchmal etwas vorgegriffen – aber auch genau begriffen haben, welche Botschaft ich geben wollte. Und da bin ich vertrauensvoll, dass es so weitergehen kann.

    Gehm: Was schreiben die Leute, was steht in den e-mails?

    Schwan: In den E-Mails steht die Freude darüber, dass überhaupt eine Auseinandersetzung stattfindet, dass das Ganze nicht schon vorentschieden ist, dass eine neue Offenheit damit in die Politik kommt, die sie für wichtig und für interessant halten und eigentlich auch die Voraussetzung, sich der Politik wieder zuzuwenden. Sie freuen sich auch sehr stark über das, was ich vermittle, also die Notwendigkeit der Vertrauensbildung, der Ehrlichkeit, der Wahrhaftigkeit, der Verlässlichkeit in der Politik. Sie haben auch den Eindruck, dass ich als Frau einen spontan anderen Zugang zur Macht und zu gesellschaftlichen und politischen Problemen habe als sie das bisher gewohnt sind. Und insgesamt spricht daraus einfach oft die Aufforderung: 'Weiter so, da soll sich gar nichts ändern. So, wie Sie auftreten, werden Sie die Leute gewinnen'.

    Gehm: Einen 'Frauenbonus' gibt es in der Bundesversammlung allerdings nicht.

    Schwan: Nein, natürlich nicht, und ich kandidiere zwar eindeutig klar als Frau und glaube auch, dass ich als Frau besondere Erfahrungen und Kompetenzen einbringen kann. Es ist einfach in den Lebensläufen von Frauen so, dass sie meistens, jedenfalls wenn sie auch berufstätig sind, sehr vielseitig sein müssen. Sie müssen sehr viele Dinge unter einen Hut bringen. Sie kennen die Welt des Kindergartens – weil sie die Kinder dort hin gebracht haben – und der Elternkonferenzen, und sie kennen die Welt ihres Berufes, und sie kennen auch die Welt der Repräsentation, jedenfalls ist das in meinem Falle so. Und dass es vom Handfesten zum eher Abstrakten geht, ist – glaube ich – ein Vorteil. Und das ist bei vielen Frauen so, auch, dass sie unglaublich flexibel sein müssen und immer wieder ganz schnell verschiedene Dinge kombinieren müssen. Diese Kompetenzen sind besondere Kompetenzen, denke ich. Und außerdem habe ich erfahren in meinem Berufsleben, dass es sehr ermutigend ist – für Frauen allgemein und auch für jüngere Frauen –, wenn eine Frau eine solche Position so ausübt, dass sie anerkannt wird. Es ist ja nach wie vor immer noch so, dass untergründig Frauen etwas weniger anerkannt werden und dass ihnen weniger zugetraut wird als Männern, auch wenn im Einzelfall dann auch wieder von 'starken Frauen' die Rede ist.

    Gehm: Die Opposition liegt in der Bundesversammlung zwar mit 18 Stimmen vorn über der absoluten Mehrheit, aber an Zuversicht gebricht es Ihnen nicht?

    Schwan: Nein, sonst hätte ich ja auch die Kandidatur gar nicht angenommen. Die Zuversicht speist sich daraus, dass ich erlebt habe in allen Parteien – und ich habe ja Freunde in allen Parteien –, gemerkt habe, dass es Personen gibt, die so wie ich in konkreten Situationen, wo nicht vom Funktionieren der Demokratie her die Partei- und Fraktionsdisziplin erforderlich ist, dass da immer wieder Menschen auch neu nachdenken und sagen: Gibt es nicht Werte und Ziele, die in diesem Falle vorrangig sind vor der Fraktionsdisziplin? Und ich glaube, dass genügend sich klar sind darüber, dass die jetzige Bundespräsidentenwahl wirklich keine Vorentscheidung für die nächste Bundestagswahl ist und dass es vermutlich einen Schub an Interesse an der Demokratie geben wird, wenn diese Wahl einmal anders ausgeht, als die kalkuliert haben, die das im Grunde völlig intransparent kalkuliert haben.

    Gehm: Lassen Sie uns noch einen Augenblick beim Wahlkörper Bundesversammlung bleiben. Wird es ein Treffen mit FDP-Wahlfrauen geben?

    Schwan: Bisher ist das nicht vorgesehen, und ich habe auch nicht vor, einzelne Personen anzugehen. Ich glaube, das Wehren gehört sich nicht für die Kandidatin des Bundespräsidentenamtes. Ich habe eine Reihe von Signalen, dass auch Frauen – gerade Frauen, aber nicht nur Frauen – den Eindruck haben, man sollte sich seinen eigenen Kopf in dieser Wahl machen. Aber ich halte nicht viel davon, darüber öffentlich zu sprechen oder das öffentlich kundzutun, und ich bin auch ziemlich sicher, dass die, die das vorhaben, das nicht öffentlich vorher propagieren werden. Umgekehrt haben wir die Erfahrung bei früheren Wahlen gemacht, dass da alle möglichen Spekulationen angestellt worden sind, und die haben sich dann nicht bewahrheitet. Es ist eine geheime Wahl. In allen Parteien gibt es alle möglichen Querüberlegungen, und was da nachher rauskommt, ist offen.

    Gehm: Wird es einen gemeinsamen Auftritt, einen Fernsehauftritt möglicherweise, mit dem Gegenkandidaten geben?

    Schwan: Als ich im ersten Auftritt vor der Presse hier in Berlin gefragt worden bin, ob ich dazu bereit wäre, habe ich gesagt 'ja'. Und dazu bin ich auch weiterhin bereit. Aber so wie ich es verstanden habe, hat Herr Köhler das bis jetzt abgelehnt mit dem Argument, es handele sich bei dieser Wahl nicht um eine, der ein Wahlkampf vorangeht. Das muss ich ihm natürlich überlassen. Meine Bereitschaft dazu bleibt.

    Gehm: Ein Meeting mit der PDS – immerhin 31 Wahlmänner und Wahlfrauen – steht Ihnen noch bevor. Erste Forderungen der PDS sind bereits laut geworden. Da ist die Rede von Entschärfung der Zumutbarkeitsregelung für Langzeitarbeitslose - und erst dann Stimmen der PDS. Beeindruckt Sie das?

    Schwan: Nein, ich glaube, dass jede klug nachdenkende Person in der Politik weiß, dass es bei dieser Wahl nicht um einen Handel gehen kann, bestimmte Stimmen für die Kandidatin gegen irgendwelche Regierungskonzessionen. Und ich werde sehen, dass ich in der Fraktion der PDS darüber offen spreche und ich hoffe, dass ich die Fraktion überzeugen kann von meiner Position.

    Gehm: Frau Schwan, Sie haben jüngst den Antiterrorkampf der USA scharf kritisiert. Sie haben davon gesprochen, in der amerikanischen Außenpolitik herrsche eine konzeptionelle Begrenztheit vor, die Sie beunruhige. Angesichts der aktuellen Ereignisse muss sich dieser Eindruck ja noch verfestigen.

    Schwan: Ich habe meine Äußerung ausdrücklich auf den Irak-Krieg bezogen, nicht allgemein auf den Anti-Terrorkampf, in dem es ja sehr viele Gemeinsamkeiten auch gab und gibt. Und ich war in der Tat von vornherein sehr skeptisch, habe das auch schriftlich und öffentlich dokumentiert, unter anderem zum Beispiel in Auseinandersetzungen mit meinem polnischen Freund Adam Michnik, der anderer Meinung war, der aber einen langen Artikel von mir in seiner Gazetta Wyborchza veröffentlicht hat dazu. Ich habe von Anfang an bemängelt, dass für die Zeit nach einem erwartbaren militärischen Sieg keine Konzeption vorhanden war. Und da stehe ich gar nicht allein, sondern das ist eine Kritik, die in Amerika heftig geäußert wird – ich habe das ja gerade erlebt, als ich jetzt in den Staaten war –, und die auch von einigen ganz früh geäußert worden ist in Amerika. Diese Konzeptionslosigkeit finde ich in der Tat fatal, und die Entwicklung der letzten Tage gehen leider in die Richtung der schlimmen Befürchtung, die ich im März 2003 geäußert habe. Und das, was mich betrübt, ist, dass man nach so viel Politikerfahrung immer wieder meint, militärische Lösungen allein könnten es tun in solchen komplizierten Konflikten. Man muss doch wissen, dass solche Konflikte, zumal wenn man sie in Richtung Rechtsstaat und Demokratie lösen will, eine Menge von kulturellen Voraussetzungen haben und auch entsprechend behandelt werden müssen und dann erst gelöst werden können.

    Gehm: Frau Professor Schwan, wenn vom Bundespräsidentenamt gesprochen wird, dann ist allzu oft von der Würde des Amtes die Rede – von der Würde, die beeinträchtigt werde, etwa bei der Kandidatenfindung, wie jüngst geschehen. Das Amt ist eigentlich nicht beschädigt worden?

    Schwan: Das Amt ist ziemlich robust und solide, und es hat ja auch so vorzügliche Repräsentanten Deutschlands in diesem Amt gegeben, dass da eine sehr gute Reputationsmenge vorhanden ist. Also, da habe ich nicht solche Sorge. Gleichwohl habe ich dann Sorge, wenn man das, was mit diesem Amt in der Verfassung gemeint ist, im Grundgesetz, öffentlich pervertiert und auch für legitim hält, dass dieses Amt parteipolitischen Kalküls unterstellt wird. Es ist ein Unterschied, ob man das macht, aber eigentlich sich dafür ein bisschen schämen muss, oder ob man das auch noch offensiv öffentlich vertritt, denn das bedeutet wirklich eine Veränderung oder Pervertierung der Absicht des Grundgesetzes. Und man muss sich dagegen, glaube ich, immer wenden.

    Gehm: Die Intension der Verfassungsväter zum Verfassungsorgan Bundespräsident ist, das darf man sagen, erhalten geblieben durch diese Jahrzehnte. Diese Intension trägt ja die Überschrift 'Bonn, respektive Berlin ist nicht Weimar'. Das heißt, Überlegungen, Kompetenzen des Bundespräsidenten auszuweiten, dürften wohl erfolglos bleiben.

    Schwan: Ja, und ich fände es auch falsch, wenn man solche Kompetenzen ausweitete. Ich habe mich überall gegen die Direktwahl ausgesprochen. Es gibt Personen, die das sehr seriös vertreten und glauben, dass damit der Bundespräsident von Parteien unabhängiger würde. Ich habe eher den Verdacht, dass er dann gerade in der Bestellung – oder sie – in der Bestellung von Parteien in einem Wahlkampf abhängiger würde und mehr in diesen Streit hineingezogen würde. Außerdem würde es eine ungute Konkurrenz zur konkreten Macht der Regierung geben. Und ich verstehe eben die Macht des Bundespräsidenten – der Bundespräsidentin – anders und sehr gut komplementär zur Regierungsmacht.

    Gehm: Ein anderes Thema, was regelmäßig alle fünf Jahre diskutiert wird ist die Amtszeit des Bundespräsidenten, die Amtsdauer. Roman Herzog hat dies thematisiert, auch Johannes Rau. Beide sind eigentlich für eine Verlängerung der Amtszeit, einer einmaligen Amtszeit wohlgemerkt.

    Schwan: Ich denke, dafür spricht allerlei. Erstens sind zehn Jahre Amtszeit eine lange Zeit für ein sehr, sehr anstrengendes Amt. Das könnte man natürlich aber auch für das Bundeskanzler-Amt sagen. Aber es ist eine lange Zeit. Und außerdem ist es nicht gut, wenn dieses überparteiliche Amt dann gegen Ende doch in die Versuchung gerät, nach Parteipräferenzen ein bisschen zu schielen. Insofern spricht einiges dafür, keine Wiederwahl zu gestatten und dafür die Amtszeit zu verlängern. Aber ich habe da keine definitive Position dazu.

    Gehm: Das Amt des Staatsoberhauptes wird von der Terminlage her zu 50 Prozent von der Außenpolitik dominiert. Es sind die Auslandsreisen, es ist der Umgang mit Gesandten, mit Botschaftern. Die übrigen 50 Prozent sind innenpolitisches Wirken durch verbale Überzeugungskraft des Amtsinhabers. Wie würden Sie als erste Amtsinhaberin dieses Amt prägen wollen? Wo kann eine Frau andere Akzente setzen?

    Schwan: Ob ich das als Frau anders setzen würde oder überhaupt als die Person, die ich bin, weiß ich nicht. Aber ich würde sicher einen Akzent darin setzen im innenpolitischen Bereich, dass ich versuchte, die Akteure der Innenpolitik zusammen zu bringen, um mit ihnen gemeinsam die langfristigen gemeinsamen Interessen zu analysieren. Ich glaube, das wäre sehr wichtig, damit wir in Deutschland wieder vorankommen. Und in der Außenpolitik, die mich nun immer sehr interessiert hat – ich war ja auch immer europapolitisch sehr engagiert, ich war engagiert mit Frankreich und mit Polen und oft in den USA –, da denke ich, ist es sehr wichtig, dass man sich erstens klar wird über die Stellung Deutschlands in Europa, die nicht leicht ist, weil wir die historische Hypothek nach wie vor haben – einer gewissen Skepsis, was mit der großen Macht Deutschlands geschieht. Aber ich glaube, dass da Deutschland unglaubliche Fortschritte hat machen können in der Vertrauensbildung. Das würde ich gerne fortsetzen. Mir läge auch daran, die Gedanken anzustoßen darüber, welche Rolle Europa als regionale politische Macht im globalen Geschehen hat. Ich glaube, das ist eine ganz besonders wichtige Frage, wie sich jetzt globale Politik demnächst gestaltet.

    Gehm: Bleiben wir aber zunächst mal bei der Innenpolitik, die ja dominiert angesichts der Lage. Unter die Räder gekommen – nach dem Eindruck des Wahlvolkes zumindest – ist die soziale Gerechtigkeit, Motto: Es lebe die Raffgier, was heißt hier Solidarität, was heißt Gerechtigkeit? Was tun?

    Schwan: Ich glaube in der Tat, dass seit Jahren ein sehr enges marktwirtschaftliches Wettbewerbsdenken die Vorhand gewonnen hat, und das ist nicht gut für eine gesamte Gesellschaft. Der Wettbewerb ist ein wichtiger Motor, aber er muss sowieso – das ist eine alte Einsicht auch schon zur Zeit des Wirtschaftswunders – er muss staatlich reguliert sein. Das geht jetzt nicht mehr nationalstaatlich, das muss also politisch, regionalpolitisch oder Weltmaßstab sein. Und man muss sich darüber klar sein, dass die Wirtschaft, auch wirtschaftliches Handeln, immer eingebettet ist in breitere kulturelle Voraussetzungen. Menschen wollen zwar durchaus reich werden. Wenn sie aber nur noch reich werden wollen, wenn es nur noch darum geht, Geld zu verdienen, dann ist das eine erbärmliche Verarmung des Lebens, die auch von den Menschen gespürt wird. Und darüber hinaus ist es sehr wichtig für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, das lehren nun eigentlich fast 2000 Jahre europäischer Geschichte, dass Grundmaßstäbe der Gerechtigkeit eingehalten werden. Menschen lassen es sich, zumal in Zeiten demokratischer Öffentlichkeit, nicht mehr gefallen, dass sie einfach als Instrumente, die, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, weggeworfen werden, behandelt werden. Und Gerechtigkeit positiv zu definieren, ist eine komplizierte Sache. Der Gedanke von Emanuel Kant, dass es ein interessantes Indiz für die Gerechtigkeit eines Vorhabens ist und ob dieses Vorhaben zu seiner Erfüllung der Öffentlichkeit bedarf, der ist sehr wichtig. Wenn man ungerechte Dinge verfolgt, will man und kann man im Geheimen bleiben. Wenn man etwas Gerechtes machen will, dann muss sich vorher prüfen, wie die Öffentlichkeit und die verschiedenen Interessen damit umgehen werden. Das ist eine ganz gute Methode, zu gerechten Lösungen zu kommen.

    Gehm: Die politischen Akteure greifen, glaube ich, etwas kurz, wenn sie einzig das Vermittlungsproblem beklagen?

    Schwan: Ja, es geht in der Tat nicht nur darum, etwas, was sowieso richtig ist, gleichsam verständlich zu machen. Es geht auch um Beteiligung der Gesellschaft, übrigens auch gerade der Zivilgesellschaft. Das ist ein für mich sehr wichtiger Punkt. Politik kann in einer komplexen Demokratie vieles nicht mehr alleine regeln, wenn nicht die Gesellschaft gerade in ihren bisher traditionellen Vereinigungen, aber auch in den eher neueren natürlich – nicht brandneuen – Vereinigungen der Zivilgesellschaft, die oft Vertrauensträger sind, helfen. Und dazu muss umgekehrt die legitimierte demokratische Politik, für die es keinen Ersatz gibt – das ist ganz klar – ihrerseits sich so verhalten gegenüber der Gesellschaft, dass die auch mittun kann. Es ist eine alte Erfahrung auch in kleineren Einheiten, das habe ich als Dekanin, als Universitätspräsidentin gemerkt: Sie brauchen eventuell etwas länger für die Formulierung einer Entscheidung, wenn Sie vorher sehr viele Gruppen einbeziehen. Aber nachher geht die sogenannte Implementation, die Durchsetzung der Entscheidung, sehr viel besser, weil man sich daran gebunden fühlt und weil man daran mitgetan hat.

    Gehm: Auf die Probleme die Regierung reduziert oder komprimiert, darf man sagen: Der Kompliziertheit des Regierens stehen gegenüber die Ängste der Regierten. Die Osterweiterung der EU verbreitet bei den Menschen nicht gerade Zuversicht. Ist das nicht auch ein immenses Vermittlungsproblem der Politik?

    Schwan: Das ist ein großes Vermittlungsproblem, obwohl die Politik – auch Brüssel – eine Menge von Anstrengungen unternommen hat, öffentliche Veranstaltungen zu organisieren und der Bevölkerung die Probleme und auch die Chancen vor allen Dingen nahe zu bringen. Auch hat die Regierung ja versucht, mit einigen Regelungen – die Frage der freien Arbeitsplatzsuche usw. – den Sorgen und Ängsten entgegen zu kommen. Letztendlich können diese Ängste und Sorgen nur überwunden werden – das ist meine Erfahrung gerade auch in Ostdeutschland, in Ostbrandenburg, an der Grenze, in grenzüberschreitenden Aktivitäten –, wenn die Menschen aufeinander zukommen. Es gibt zum Beispiel, und da soll man mit guten Beispielen, denke ich, argumentieren: Es gibt etwa zwei Unternehmen im nahe gelegenen Beskow, etwas südlich von Frankfurt/Oder, wo phantasievolle Unternehmer, übrigens im Bereich von erneuerter Energie, Kooperationen mit Polen sehr früh schon angefangen haben und da auch mit Erfolg tätig gewesen sind, und natürlich gibt es immer wieder Rückschläge, aber letztlich dieses wirklich zukunftsweisende Modell verfolgen, dass man nämlich Mitarbeit in Osteuropa, wo viele Kosten besser sind, billiger sind, zugleich neue Märkte schafft, Kaufkraft schafft, die wiederum zurückwirkt auch auf deutsche Märkte und das eigene Unternehmen in Deutschland stabilisiert, auch erweitert. Der Clou dabei ist, und darauf lege ich großen Wert, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen sehr davon abhängt nicht nur von den Lohnkosten, das ist in aller Munde, sondern auch von der unternehmerischen Phantasie, der Entwicklung neuer technologisch hochwertiger Produkte. Und da ist dann gleich der nächste Schritt, dass die Bildung eine so wichtige Sache ist. Sie sehen: Man kann es nicht einfach lösen. Die EU-Erweiterung hängt mit der Bildungspolitik zusammen. Wenn man die Wirtschaftsangst vieler mäßigen will und ihnen Mut machen will, muss man deutlich machen, dass die Kooperation zum beiderseitigen Vorteil ist. Überhaupt soll man noch mehr das Bewusstsein an konkreten Beispielen dafür schaffen, dass es nicht immer nur Situationen gibt, wo der eine gewinnt und der andere verliert, sondern dass es klug genommen oft Win-Win-Situationen gibt. Aber dazu muss man offen sein und auch eine gewisse Zuversicht haben und Menschen, die man nicht von vornherein kennt, langsam und kontrolliert – aber doch vertrauen

    Gehm: Konkret: Zuversicht – der Baustein zum Erfolg?

    Schwan: Ja, Zuversicht und Vertrauen sind überhaupt ganz wichtige Bausteine. Das kann man ein bisschen aufgliedern: Dazu gehört das Selbstvertrauen, dass man sich selbst etwas zutraut, sonst wird man gar nicht aktiv. Dazu gehört, dass man andere Menschen nicht von vornherein als Täuscher und als Feinde betrachtet, dazu gehört, dass man auch eine Zuversicht hat in bezug auf offene zukünftige Situationen. Wenn man von vornherein von der Zukunft nichts erwartet, dann strengt man sich auch nicht an, dann entwickelt man nicht die Phantasie, neue Möglichkeiten zu entwickeln – etwa in dem wichtigen Bereich – im Rechtsbereich –, aber auch Politikbereich der Mediation ist das ein Grundprinzip, dass man bei gegnerischen Parteien zunächst mal ganz genau ermittelt: Wo sind denn die Interessenlagen, und haben wir nicht sogar sehr viel mehr Gemeinsames, als wir auf Anhieb annehmen? Da, auf diesem Felde kann man, glaube ich, eine Menge tun.

    Gehm: Sie sind zuversichtlich – ich darf Sie zitieren – Sie trauen sich das Amt locker zu. 'Bundespräsidentin zu werden ist die einzig attraktive Alternative zu meiner Arbeit in Frankfurt'. Frau Professor Schwan, bleibt es dabei, auch wenn der Kanzler demnächst einmal sein Kabinett umbildet?

    Schwan: Ja, dabei bleibt es. Ich glaube nicht, dass ich gesagt habe, dass ich mir das Amt 'locker' zutraue. Also, so locker würde ich mit dem Amt nicht umgehen. Aber ich traue mir das Amt zu, und es ist für mich in der Tat die einzige Alternative. Ich habe ganz klar gemacht überall, dass ich auf keinen Fall in irgend ein Regierungsamt möchte und dass ich als Alternative, wenn ich nicht Bundespräsidentin werde, zurückkehre nach Frankfurt/Oder, das ist für mich gar keine Frage. Das Amt des Bundespräsidenten – der Bundespräsidentin – ist erstens natürlich deswegen einfach ein unglaublich attraktives, weil es nun einmal das höchste Amt im Staate ist, und das kann man nicht ablehnen, glaube ich – eine Kandidatur dafür. Aber außerdem liegt es mir auch insofern, als ich bisher in meinem Leben immer versucht habe, mein politisches Engagement so auszuüben, dass ich Situationen analytisch geklärt habe, dass ich versucht habe, gemeinsame Interessen herauszufinden und zu vermitteln und zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Das ist auch mein Machtverständnis im Sinne von Hanna Ahrens, die Personen, die Interessen zusammenzuführen und dann wirklich etwas zu bewegen. Und dies ist die Macht dieses Amtes, und sie auszuüben, würde mich sehr reizen.