Sie liegen sich in den Armen und halten zerknüllte Taschentücher in der Hand. Schwankend zwischen Trost und Trauer richten sie ihren Blick auf die drei Musiker auf dem kleinen Podest, die den Beatles-Klassiker "With a little help from my friends" singen.
Den Müttern, Schwestern und Freundinnen fließen schwarze Linien zerlaufener Wimperntusche über das Gesicht, die Mienen der Männer: Versteinert. Angehörige und mitfühlende Bürger haben sich in Duisburg unweit des ausrangierten Güterbahnhofes versammelt, dem Unglücksort. Gemeinsam weihen sie an diesem trüben Juni-Sonntag das Mahnmal für die Opfer der Loveparade-Katastrophe ein: 21 Tote und Hunderte Verletzte. Wolfgang Locke ist auf der Gedenkfeier dabei, er hat den 24. Juli 2010 überlebt:
"Wir sitzen alle in einem Boot, wir Betroffenen, und wir versuchen alle, uns zu unterstützen und zu helfen."
Sie wollen die Bilder im Kopf, die "Kopfkirmes", wie Wolfgang Locke es nennt, überwinden ...
24. Juli 2010: Die Loveparade lockt Hunderttausende Technofans nach Duisburg. Der Tunnel und eine schmale Betonrampe sind der einzige Ein- und Ausgang zum eingezäunten Festival-Gelände. Weil am frühen Nachmittag immer mehr Besucher nachrücken, während andere wieder raus wollen, kommt es zum Stau. Menschen werden in der Masse eingequetscht und zu Boden gerissen. Es fehlt an Sicherheitskräften, funktionierenden Funkgeräten, Lautsprecherwagen, Notärzten und Ansprechpartnern. Die Situation eskaliert:
"Wenn du gerade noch so raus kommst, wenn Du gerade die Treppe geschafft hast, dann sagt die Bullerei noch zu Dir: Geh weiter, geh schneller, geh schneller. Und jetzt ist kein Schwein da, der dir hilft, kein Schwein. Neben Dir sterben die Leute, und keiner ist da, der dir hilft und das aufarbeitet mit dir, kein Schwein."
Wolfgang Locke kann diese Szenen bis heute nicht vergessen:
"Man hat immer noch stellenweise Bilder, die Geräuschkulisse immer noch, nachts oder tagsüber. Das bleibt ein Leben lang."
Die Albträume, die Einsamkeit, mit den Erinnerungen allein zu sein, belasten den 54-Jährigen. Und die Wut, dass niemand bisher die Verantwortung übernimmt für die tragischen Ereignisse an jenem Sommertag vor einem Jahr. Weder die Stadt und ihr Oberbürgermeister Adolf Sauerland, noch der Veranstalter, noch die Polizei.
"Fortan sollten wir die Entscheider fragen: Kannst Du die Entscheidung verantworten? Bedenk' sie noch einmal."
Duisburgs hoch angesehener Alt-Oberbürgermeister Josef Krings scheut keine klaren Worte. Weil sein Amtsnachfolger Sauerland jetzt, ein Jahr später, bei der Mahnmal-Einweihung, noch immer unerwünscht ist, hält Krings die Gedenkrede. Er lässt die Trauernden einen Moment lang vergessen, wie es um den Ruf ihrer Stadt steht: Duisburg – die Möchtegern-Großstadt, die denen in Berlin einmal zeigen wollte, dass auch eine von Arbeitslosigkeit und Mafiamorden gebeutelte Ruhrgebietsstadt ein Massenspektakel stemmen kann. Duisburg, das nicht dastehen wollte wie Bochum, wo die Loveparade im Jahr zuvor wegen Sicherheitsbedenken abgesagt worden war. Dieses Duisburg, dessen Ruf so viel Schaden genommen hat, weil die Stadtverwaltung offenbar naiv den Sicherheits-Zusagen des Veranstalters Rainer Schaller vertraute, und Warnungen verdrängte. Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, erinnert sich im ZDF:
"Mein erster Gedanke war, dass genau wie in Bochum die Stadt überhaupt nicht dazu geeignet ist. Duisburg ist meine Heimatstadt, die ich nun wirklich sehr gut kenne. Und deshalb habe ich auch damals meine Bedenken bereits öffentlich vorgetragen."
"Die stehen da oben, und wir rufen: Helft uns doch verdammt noch mal, helft uns doch" (Ein Mädchen auf der Loveparade)
Ein Ruf, der bis heute nachhallt – so hat Opferanwalt Gerhart Baum beobachtet. Der frühere Bundesinnenminister hat Erfahrung mit Katastrophen. Als Anwalt hat er bereits die Geschädigten der Flugschau von Ramstein und des Concorde-Absturzes vertreten. Jetzt kämpft Gerhart Baum im Namen der Loveparade-Opfer um Ausgleichszahlungen für die psychologischen Langzeitfolgen, unter denen seine Mandanten leiden: Arbeitsunfähigkeit, Krankenhausaufenthalte, Jugendliche, die in der Schule absacken:
"Die Geschädigten haben ein großes Redebedürfnis. Sie wollen, dass man sie anhört. Sie müssen erzählen können, was sie empfunden haben, als sie plötzlich über Menschen hinweg getrampelt sind. Welche Schuldgefühle sie haben: Habe ich mitgewirkt, jemanden zu töten? Also, man muss sie wirklich aussprechen lassen."
Doch erst einmal reden andere. Am Tag nach der Katastrophe, dem 25. Juli 2010, sitzen die Verantwortlichen - Stadtverwaltung, Polizei und Veranstalter - im Duisburger Rathaus vor einem Strauß von Mikrofonen. Bleiche Männer, denen der Schock ins Gesicht geschrieben steht. Die Journalisten erleben einen traumatisierten Landes-Polizeiinspekteur Dieter Wehe:
"Die bisherigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass alle Todesopfer in der Menschenmenge erstickt sind."
Und andererseits die befremdliche Aussage von Detlef von Schmeling, damals stellvertretender Duisburger Polizeipräsident:
"Eine Massenpanik ist ein wertender Ausdruck über den Umfang des Geschehens. Mein persönlicher Eindruck bestätigt eine Massenpanik nicht."
Die Pressekonferenz mündet in Sprachlosigkeit. Keiner der Herren kann oder will erklären, wie es zu dem Unglück kommen konnte – die Situation ist zu unübersichtlich, und zu groß die Angst jedes Einzelnen vor möglichen juristischen Konsequenzen. Alle Fragen der zunehmend gereizten Journalisten werden mit dem Hinweis auf die laufenden Ermittlungen abgebügelt. So wird es die nächsten Monate bleiben. Ob Polizei, Veranstalter oder die Stadt: Schuld haben immer die jeweils anderen.
Rainer Schaller, 42 Jahre alt, Betreiber von Fitnessstudios und seit 2006 Veranstalter der Loveparade. Seine zuständige Firma heißt Lopavent. Schon Monate vor dem Technospektakel hatten sich Schallers Mitarbeiter in einer Etage der Duisburger Stadtverwaltung eingemietet, um vor Ort zu planen. Beunruhigend jung seien diese Leute gewesen, so wundern sich Mitarbeiter aus dem Rathaus noch heute. Zweifel habe man gehabt, ob Lopavent ein Großereignis wie die Loveparade tatsächlich stemmen könne. Dabei war die Verantwortung immens: Der Veranstalter war nach Angaben der Stadt zuständig für das Sicherheitskonzept auf dem Partygelände, und im Tunnel davor. Lopavent musste genügend Ordner stellen, und Angaben über Fluchtwege und Besucherzahlen liefern. Doch die Informationen flossen nur tröpfchenweise; und wenn, dann sorgten sie bei der Stadtverwaltung für Unruhe. Aber niemand legte sein Veto ein, auch nicht, als Lopavent bekannt gab, das ganze Gelände einzäunen zu wollen oder aus PR-Gründen die Zahl der erwarteten Besucher hochschraubte. Dem Erfinder der Loveparade, Matthias Roeingh alias Dr. Motte, ist die Firma Lopavent von Anfang an suspekt.
"Also, nachdem dann die Loveparade verkauft wurde an den Besitzer dieser Fitnesskette war das also mir jedenfalls sehr schnell klar, er möchte eigentlich nur seine eigene Marke aufwerten, und ich hab dann auch gesehen, dafür steh ich nicht zur Verfügung."
Der Tag der Loveparade, ein Samstag: Während sich mitten in Duisburg kilometerweit ein riesiges Knäuel aus Menschen bildet, verbreitet ein penetrant gut gelaunter Rainer Schaller Partystimmung. Gegen den Krach wummernder Musikboxen brüllt er in das Mikrofon eines WDR-Reporters, die Besucherströme würden sich - gut "steuern lassen", ansonsten würde "die Polizei auch mal dichtmachen". Die ist allerdings – das wird nach dem Unglück schnell deutlich - gar nicht für das Partygelände zuständig, sondern der Veranstalter. Aber auch nach der Katastrophe wird Schaller weiter behaupten, sein Sicherheitskonzept sei von seinen Leuten ohne Bedenken aufgestellt worden. Danach taucht er ab. Weder stellt er sich im Düsseldorfer Landtag den Fragen der Abgeordneten, noch antwortet er den Opfern. Loveparade-Besucher Wolfgang Locke berichtet von einem geheimen Treffen vor wenigen Wochen:
"Und wenn Sie ihm dann einige Fragen gestellt haben, dann haben Sie nur Antworten bekommen, da darf er nichts zu sagen, oder ja, das sind Aufträge, die habe ich an andere Firmen abgegeben. Also, diejenigen, die das wirklich zu verantworten haben, die versuchen sich alle irgendwie rauszuwinden, oder versuchen, ihre Hände in Unschuld zu waschen, indem sie es wieder jemand anders in die Schuhe schieben."
Rainer Schaller lässt nach dem Unglückstag ein halbes Jahr verstreichen, bevor er sich kurz vor Weihnachten 2010 öffentlichkeitswirksam in einer Fernsehshow bei den Opfern entschuldigt. Ein Interview mit dem Deutschlandradio, wenige Tage vor dem Jahrestag, kommt hingegen nicht zustande. Die Redaktion entscheidet sich dagegen, denn die Pressestelle von Lopavent stellt unzählige Bedingungen: Absprache der Fragen an Schaller, eine nachträgliche Autorisierung seiner Antworten, und bitte mehr Emotionalität. Eine Pressesprecherin von Lopavent schreibt in einer E-Mail an die Autorin:
"Im Zuge des Jahrestages vom 24.07.2010 geht es Herrn Schaller nicht um die Klärung und Besprechung von operativen Dingen. Es ist ihm wichtig, pietätvoll zu sein - daher sieht er Emotionalität im Vordergrund. Auch liegt der Fokus Ihrer Fragen noch immer nicht auf dem Persönlichen, wie von Herrn Schaller gewünscht."
Die Duisburger Staatsanwaltschaft ermittelt gegen vier Mitarbeiter von Lopavent, Rainer Schaller ist bislang nicht darunter.
Auch die Rolle der Polizei ist zwiespältig. Die Staatsanwaltschaft spricht von einem "pflichtwidrigen Verhalten" am Unglückstag, die Einsatzleitung soll zu spät eingegriffen haben.
"Sie haben nicht mehr die Möglichkeit, den Veranstaltungsbereich der Loveparade zu erreichen: Wir brauchen diesen Weg frei!"
Im Laufe des Nachmittags gerät die Koordination zusehends aus den Fugen. Funkgeräte fallen aus, und wegen des überlasteten Netzes funktionieren auch die Handys nicht einwandfrei. Andere Vorwürfe, die bis heute nur schwer überprüfbar sind, stehen im Raum: Die Einsatzleitung habe mitten in der heißen Phase einen Schichtwechsel befohlen und außerdem Polizeiketten veranlasst, um den nachrückenden Besucherstrom aufzuhalten. Tatsächlich sollen die Polizeiketten den Stau im Tunnel und auf der Rampe noch verschlimmert haben.
"Meine Aufgabe als Innenminister ist es, solche unverschämten Anschuldigungen gegen die Polizei deutlich zurückzuweisen."
Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger stellt sich unmittelbar nach der Katastrophe zunächst uneingeschränkt hinter die Beamten. Doch im Zuge der Ermittlungen zur Loveparade muss Jäger bald zurückrudern. Mögliche Pannen bei der Polizei schließt er im Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags am 3. September 2010 nicht mehr aus:
"Wenn es einzelne Fehler gegeben haben sollte, von einzelnen Beamten, muss man das in dem Zusammenhang sehen, dass sie im Einsatz waren in einer völlig chaotischen Veranstaltung, wo ein Sicherheitskonzept des Veranstalters völlig zusammengebrochen ist."
Als das Nachrichtenmagazin "Spiegel" im Mai dieses Jahres schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhebt, muss Ralf Jäger vor dem Landtag konkrete Versäumnisse der Beamten einräumen.
"Entgegen den Erwartungen der Polizeiführung hat es am Veranstaltungstag auch Probleme mit der Kommunikation über Mobiltelefone gegeben. Aufgrund der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft war festzustellen, dass tatsächlich zum Zeitpunkt des Unglücks eine Bevorrechtigung der Mobilfunkanschlüsse der einzelnen Einsatzkräfte weder beantragt noch geschaltet war."
Dieses Eingeständnis ist bemerkenswert, denn bisher hatte die Polizei andere Angaben gemacht. Opferanwalt Gerhart Baum geht mit der politischen Klasse hart ins Gericht:
"Der Innenminister stellt offenbar ganz eng ab auf strafrechtliche Schuld. Das geht nicht. Hier geht es um politische Erklärungen und nicht um Parteienstreit letztlich. Herr Jäger hat ja geglaubt, im Landtag einen großen Parteienstreit bestehen zu müssen, in der Tat wurde er auch angegriffen. Dafür haben die Geschädigten überhaupt kein Verständnis."
Was selbstverständlich klingt, hat der Innenminister jetzt, ein Jahr später, bekannt gegeben: Künftig gibt es in Nordrhein-Westfalen einen Leitfaden für Großveranstaltungen, der Polizei und Feuerwehr ein Vetorecht einräumt, falls am Sicherheitskonzept Zweifel aufkommen. Strafrechtliche Konsequenzen sind indes noch nicht in Sicht. Unter den derzeit 16 Beschuldigten, gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelt, ist nur ein Polizist. Es soll sich um den Einsatzleiter von damals handeln.
Er hat eine Ketchup-Attacke, Pfeifkonzerte, Morddrohungen und ein erstes gescheitertes Abwahlverfahren hinter sich – und ist immer noch im Amt: Adolf Sauerland, nach jahrzehntelanger Herrschaft der SPD seit 2004 der erste christdemokratische Oberbürgermeister in Duisburg. Nicht wenige in der Stadt schreiben ihm die politische Verantwortung zu für die Katastrophe im vergangenen Sommer.
"Als mir dann gesagt wurde, dass es Tote gegeben hat, habe ich rausgeguckt, hab gesagt, wie kann so etwas passieren?"
Noch heute ist Sauerlands Blick seltsam leer, wenn er über die Loveparade spricht. Er atmet tief ein und aus. Er gähnt während des Interviews und steht auf, um das Fenster zu öffnen, setzt sich wieder hin und formuliert manche Sätze in Zeitlupentempo. Adolf Sauerland sieht sich selbst ein Stück weit als Opfer:
"Es ist ja nicht nur die Ketchup-Attacke, es ist die Art und Weise, wie über Sie geredet wird. Mir geht's darum, in der nächsten Zeit, mit meinen Kolleginnen und Kollegen, die als Beschuldigte aufgerufen sind, den für sie so unheimlich schwierigen Weg gemeinsam durchzufechten."
Doch nicht wenige in der Stadtverwaltung halten diese Solidaritätsbekundungen für eine Farce. Ein Neuanfang in Duisburg sei mit Sauerland nicht mehr möglich, sagen Mitarbeiter, die ihren Namen nicht im Radio hören möchten. Nur einer äußert sich öffentlich: Rainer Hagenacker. Der Personalratsvorsitzende kommt zum Interview an den großen Brunnen in der Duisburger Einkaufszone. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen Adolf Sauerland. Der Oberbürgermeister habe schon lange vor der Loveparade einen fragwürdigen Führungsstil ausgeübt:
"Als es für ihn zunehmend schwieriger wurde, das eine oder andere Projekt auch finanziell hier durchzustehen, sind doch Tendenzen hier deutlich geworden, die sehr autokratisch wirkten, die freundlich formuliert als Gutsherrenstil ankamen. Und dies ist vor der Loveparade auch schon sehr, sehr häufig Gegenstand von interner Kritik gewesen."
Vor wenigen Tagen hat sich Sauerland erstmals öffentlich bei den Opfern der Loveparade entschuldigt – ein Jahr zu spät, sagen seine Kritiker. Sie sammeln derzeit Unterschriften, um ein zweites Abwahlverfahren gegen den Oberbürgermeister in die Wege zu leiten. Über 30.000 Duisburger sollen bereits unterschrieben haben, doch ob das Quorum am Ende ausreicht, ist fraglich. Sollten ihm Fehler nachgewiesen werden, kündigt Sauerland zwar politische Konsequenzen für sich an, aber sein Umgang mit der Katastrophe bleibt ein Drahtseilakt. Er sei weiterhin überzeugt, dass die Verwaltung korrekt gehandelt habe, erklärt der 55-Jährige, und mit Blick auf das Abwahlverfahren stellt er selbstbewusst fest:
"Wenn diese Abstimmung für die Antragssteller daneben geht, hat man eine bessere zusätzlich demokratische Legitimierung."
Es sind solche Sätze, die seine Gegner zusätzlich provozieren. Die Loveparade sei doch politisch gewollt gewesen, heißt es immer wieder, zumal im Jahr der Kulturhauptstadt, der "Ruhr 2010", in deren Rahmen das Technospektakel stattfand.
Wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung und Körperverletzung ermittelt die Staatsanwaltschaft Duisburg derzeit gegen elf Bedienstete der Stadtverwaltung. Das Bauordnungsamt habe eine rechtswidrige Genehmigung ausgestellt, so heißt es im Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft. Dort ist auch von schweren Verfehlungen des Ordnungsamtes zu lesen, das die Sicherheitsauflagen am Morgen des 24. Juli vor Ort nicht überprüft habe. Adolf Sauerland zählt bislang nicht zu den Beschuldigten. Rolf Haferkamp, Sprecher der Duisburger Staatsanwaltschaft, ist mit Auskünften zurückhaltend und verweist auf die laufenden Ermittlungen. Ganze Waggonladungen an Beweismaterial müssen ausgewertet werden, weit über 3000 Zeugen sind bisher vernommen worden. Bis zu einer Anklage können noch Monate vergehen.
"Es ist eine Herausforderung, vor der die Staatsanwaltschaft Duisburg noch nie gestanden hat. Da kann man mit Fug und Recht sagen, es ist eine Aufgabe, die mit nichts zu vergleichen ist bisher."
"Wichtig ist für die Hinterbliebenen und für die Geschädigten nicht unbedingt, wer hier bestraft wird, sondern dass öffentlich sichtbar Verantwortung übernommen wird",
stellt Opferanwalt Gerhart Baum fest. Viele seiner Mandanten haben eine finanzielle Entschädigung erhalten, sie haben Selbsthilfegruppen gegründet, und einige von ihnen haben darum gebeten, dass der Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller und Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland der Trauerfeier zum ersten Jahrestag der Katastrophe am kommenden Sonntag fernbleiben. Auf den einen Satz von beiden warten sie bislang vergeblich. So spricht Gerhart Baum ihn aus:
"Man hätte eine solche Veranstaltung dort niemals genehmigen dürfen. Punkt."
Den Müttern, Schwestern und Freundinnen fließen schwarze Linien zerlaufener Wimperntusche über das Gesicht, die Mienen der Männer: Versteinert. Angehörige und mitfühlende Bürger haben sich in Duisburg unweit des ausrangierten Güterbahnhofes versammelt, dem Unglücksort. Gemeinsam weihen sie an diesem trüben Juni-Sonntag das Mahnmal für die Opfer der Loveparade-Katastrophe ein: 21 Tote und Hunderte Verletzte. Wolfgang Locke ist auf der Gedenkfeier dabei, er hat den 24. Juli 2010 überlebt:
"Wir sitzen alle in einem Boot, wir Betroffenen, und wir versuchen alle, uns zu unterstützen und zu helfen."
Sie wollen die Bilder im Kopf, die "Kopfkirmes", wie Wolfgang Locke es nennt, überwinden ...
24. Juli 2010: Die Loveparade lockt Hunderttausende Technofans nach Duisburg. Der Tunnel und eine schmale Betonrampe sind der einzige Ein- und Ausgang zum eingezäunten Festival-Gelände. Weil am frühen Nachmittag immer mehr Besucher nachrücken, während andere wieder raus wollen, kommt es zum Stau. Menschen werden in der Masse eingequetscht und zu Boden gerissen. Es fehlt an Sicherheitskräften, funktionierenden Funkgeräten, Lautsprecherwagen, Notärzten und Ansprechpartnern. Die Situation eskaliert:
"Wenn du gerade noch so raus kommst, wenn Du gerade die Treppe geschafft hast, dann sagt die Bullerei noch zu Dir: Geh weiter, geh schneller, geh schneller. Und jetzt ist kein Schwein da, der dir hilft, kein Schwein. Neben Dir sterben die Leute, und keiner ist da, der dir hilft und das aufarbeitet mit dir, kein Schwein."
Wolfgang Locke kann diese Szenen bis heute nicht vergessen:
"Man hat immer noch stellenweise Bilder, die Geräuschkulisse immer noch, nachts oder tagsüber. Das bleibt ein Leben lang."
Die Albträume, die Einsamkeit, mit den Erinnerungen allein zu sein, belasten den 54-Jährigen. Und die Wut, dass niemand bisher die Verantwortung übernimmt für die tragischen Ereignisse an jenem Sommertag vor einem Jahr. Weder die Stadt und ihr Oberbürgermeister Adolf Sauerland, noch der Veranstalter, noch die Polizei.
"Fortan sollten wir die Entscheider fragen: Kannst Du die Entscheidung verantworten? Bedenk' sie noch einmal."
Duisburgs hoch angesehener Alt-Oberbürgermeister Josef Krings scheut keine klaren Worte. Weil sein Amtsnachfolger Sauerland jetzt, ein Jahr später, bei der Mahnmal-Einweihung, noch immer unerwünscht ist, hält Krings die Gedenkrede. Er lässt die Trauernden einen Moment lang vergessen, wie es um den Ruf ihrer Stadt steht: Duisburg – die Möchtegern-Großstadt, die denen in Berlin einmal zeigen wollte, dass auch eine von Arbeitslosigkeit und Mafiamorden gebeutelte Ruhrgebietsstadt ein Massenspektakel stemmen kann. Duisburg, das nicht dastehen wollte wie Bochum, wo die Loveparade im Jahr zuvor wegen Sicherheitsbedenken abgesagt worden war. Dieses Duisburg, dessen Ruf so viel Schaden genommen hat, weil die Stadtverwaltung offenbar naiv den Sicherheits-Zusagen des Veranstalters Rainer Schaller vertraute, und Warnungen verdrängte. Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, erinnert sich im ZDF:
"Mein erster Gedanke war, dass genau wie in Bochum die Stadt überhaupt nicht dazu geeignet ist. Duisburg ist meine Heimatstadt, die ich nun wirklich sehr gut kenne. Und deshalb habe ich auch damals meine Bedenken bereits öffentlich vorgetragen."
"Die stehen da oben, und wir rufen: Helft uns doch verdammt noch mal, helft uns doch" (Ein Mädchen auf der Loveparade)
Ein Ruf, der bis heute nachhallt – so hat Opferanwalt Gerhart Baum beobachtet. Der frühere Bundesinnenminister hat Erfahrung mit Katastrophen. Als Anwalt hat er bereits die Geschädigten der Flugschau von Ramstein und des Concorde-Absturzes vertreten. Jetzt kämpft Gerhart Baum im Namen der Loveparade-Opfer um Ausgleichszahlungen für die psychologischen Langzeitfolgen, unter denen seine Mandanten leiden: Arbeitsunfähigkeit, Krankenhausaufenthalte, Jugendliche, die in der Schule absacken:
"Die Geschädigten haben ein großes Redebedürfnis. Sie wollen, dass man sie anhört. Sie müssen erzählen können, was sie empfunden haben, als sie plötzlich über Menschen hinweg getrampelt sind. Welche Schuldgefühle sie haben: Habe ich mitgewirkt, jemanden zu töten? Also, man muss sie wirklich aussprechen lassen."
Doch erst einmal reden andere. Am Tag nach der Katastrophe, dem 25. Juli 2010, sitzen die Verantwortlichen - Stadtverwaltung, Polizei und Veranstalter - im Duisburger Rathaus vor einem Strauß von Mikrofonen. Bleiche Männer, denen der Schock ins Gesicht geschrieben steht. Die Journalisten erleben einen traumatisierten Landes-Polizeiinspekteur Dieter Wehe:
"Die bisherigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass alle Todesopfer in der Menschenmenge erstickt sind."
Und andererseits die befremdliche Aussage von Detlef von Schmeling, damals stellvertretender Duisburger Polizeipräsident:
"Eine Massenpanik ist ein wertender Ausdruck über den Umfang des Geschehens. Mein persönlicher Eindruck bestätigt eine Massenpanik nicht."
Die Pressekonferenz mündet in Sprachlosigkeit. Keiner der Herren kann oder will erklären, wie es zu dem Unglück kommen konnte – die Situation ist zu unübersichtlich, und zu groß die Angst jedes Einzelnen vor möglichen juristischen Konsequenzen. Alle Fragen der zunehmend gereizten Journalisten werden mit dem Hinweis auf die laufenden Ermittlungen abgebügelt. So wird es die nächsten Monate bleiben. Ob Polizei, Veranstalter oder die Stadt: Schuld haben immer die jeweils anderen.
Rainer Schaller, 42 Jahre alt, Betreiber von Fitnessstudios und seit 2006 Veranstalter der Loveparade. Seine zuständige Firma heißt Lopavent. Schon Monate vor dem Technospektakel hatten sich Schallers Mitarbeiter in einer Etage der Duisburger Stadtverwaltung eingemietet, um vor Ort zu planen. Beunruhigend jung seien diese Leute gewesen, so wundern sich Mitarbeiter aus dem Rathaus noch heute. Zweifel habe man gehabt, ob Lopavent ein Großereignis wie die Loveparade tatsächlich stemmen könne. Dabei war die Verantwortung immens: Der Veranstalter war nach Angaben der Stadt zuständig für das Sicherheitskonzept auf dem Partygelände, und im Tunnel davor. Lopavent musste genügend Ordner stellen, und Angaben über Fluchtwege und Besucherzahlen liefern. Doch die Informationen flossen nur tröpfchenweise; und wenn, dann sorgten sie bei der Stadtverwaltung für Unruhe. Aber niemand legte sein Veto ein, auch nicht, als Lopavent bekannt gab, das ganze Gelände einzäunen zu wollen oder aus PR-Gründen die Zahl der erwarteten Besucher hochschraubte. Dem Erfinder der Loveparade, Matthias Roeingh alias Dr. Motte, ist die Firma Lopavent von Anfang an suspekt.
"Also, nachdem dann die Loveparade verkauft wurde an den Besitzer dieser Fitnesskette war das also mir jedenfalls sehr schnell klar, er möchte eigentlich nur seine eigene Marke aufwerten, und ich hab dann auch gesehen, dafür steh ich nicht zur Verfügung."
Der Tag der Loveparade, ein Samstag: Während sich mitten in Duisburg kilometerweit ein riesiges Knäuel aus Menschen bildet, verbreitet ein penetrant gut gelaunter Rainer Schaller Partystimmung. Gegen den Krach wummernder Musikboxen brüllt er in das Mikrofon eines WDR-Reporters, die Besucherströme würden sich - gut "steuern lassen", ansonsten würde "die Polizei auch mal dichtmachen". Die ist allerdings – das wird nach dem Unglück schnell deutlich - gar nicht für das Partygelände zuständig, sondern der Veranstalter. Aber auch nach der Katastrophe wird Schaller weiter behaupten, sein Sicherheitskonzept sei von seinen Leuten ohne Bedenken aufgestellt worden. Danach taucht er ab. Weder stellt er sich im Düsseldorfer Landtag den Fragen der Abgeordneten, noch antwortet er den Opfern. Loveparade-Besucher Wolfgang Locke berichtet von einem geheimen Treffen vor wenigen Wochen:
"Und wenn Sie ihm dann einige Fragen gestellt haben, dann haben Sie nur Antworten bekommen, da darf er nichts zu sagen, oder ja, das sind Aufträge, die habe ich an andere Firmen abgegeben. Also, diejenigen, die das wirklich zu verantworten haben, die versuchen sich alle irgendwie rauszuwinden, oder versuchen, ihre Hände in Unschuld zu waschen, indem sie es wieder jemand anders in die Schuhe schieben."
Rainer Schaller lässt nach dem Unglückstag ein halbes Jahr verstreichen, bevor er sich kurz vor Weihnachten 2010 öffentlichkeitswirksam in einer Fernsehshow bei den Opfern entschuldigt. Ein Interview mit dem Deutschlandradio, wenige Tage vor dem Jahrestag, kommt hingegen nicht zustande. Die Redaktion entscheidet sich dagegen, denn die Pressestelle von Lopavent stellt unzählige Bedingungen: Absprache der Fragen an Schaller, eine nachträgliche Autorisierung seiner Antworten, und bitte mehr Emotionalität. Eine Pressesprecherin von Lopavent schreibt in einer E-Mail an die Autorin:
"Im Zuge des Jahrestages vom 24.07.2010 geht es Herrn Schaller nicht um die Klärung und Besprechung von operativen Dingen. Es ist ihm wichtig, pietätvoll zu sein - daher sieht er Emotionalität im Vordergrund. Auch liegt der Fokus Ihrer Fragen noch immer nicht auf dem Persönlichen, wie von Herrn Schaller gewünscht."
Die Duisburger Staatsanwaltschaft ermittelt gegen vier Mitarbeiter von Lopavent, Rainer Schaller ist bislang nicht darunter.
Auch die Rolle der Polizei ist zwiespältig. Die Staatsanwaltschaft spricht von einem "pflichtwidrigen Verhalten" am Unglückstag, die Einsatzleitung soll zu spät eingegriffen haben.
"Sie haben nicht mehr die Möglichkeit, den Veranstaltungsbereich der Loveparade zu erreichen: Wir brauchen diesen Weg frei!"
Im Laufe des Nachmittags gerät die Koordination zusehends aus den Fugen. Funkgeräte fallen aus, und wegen des überlasteten Netzes funktionieren auch die Handys nicht einwandfrei. Andere Vorwürfe, die bis heute nur schwer überprüfbar sind, stehen im Raum: Die Einsatzleitung habe mitten in der heißen Phase einen Schichtwechsel befohlen und außerdem Polizeiketten veranlasst, um den nachrückenden Besucherstrom aufzuhalten. Tatsächlich sollen die Polizeiketten den Stau im Tunnel und auf der Rampe noch verschlimmert haben.
"Meine Aufgabe als Innenminister ist es, solche unverschämten Anschuldigungen gegen die Polizei deutlich zurückzuweisen."
Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger stellt sich unmittelbar nach der Katastrophe zunächst uneingeschränkt hinter die Beamten. Doch im Zuge der Ermittlungen zur Loveparade muss Jäger bald zurückrudern. Mögliche Pannen bei der Polizei schließt er im Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags am 3. September 2010 nicht mehr aus:
"Wenn es einzelne Fehler gegeben haben sollte, von einzelnen Beamten, muss man das in dem Zusammenhang sehen, dass sie im Einsatz waren in einer völlig chaotischen Veranstaltung, wo ein Sicherheitskonzept des Veranstalters völlig zusammengebrochen ist."
Als das Nachrichtenmagazin "Spiegel" im Mai dieses Jahres schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhebt, muss Ralf Jäger vor dem Landtag konkrete Versäumnisse der Beamten einräumen.
"Entgegen den Erwartungen der Polizeiführung hat es am Veranstaltungstag auch Probleme mit der Kommunikation über Mobiltelefone gegeben. Aufgrund der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft war festzustellen, dass tatsächlich zum Zeitpunkt des Unglücks eine Bevorrechtigung der Mobilfunkanschlüsse der einzelnen Einsatzkräfte weder beantragt noch geschaltet war."
Dieses Eingeständnis ist bemerkenswert, denn bisher hatte die Polizei andere Angaben gemacht. Opferanwalt Gerhart Baum geht mit der politischen Klasse hart ins Gericht:
"Der Innenminister stellt offenbar ganz eng ab auf strafrechtliche Schuld. Das geht nicht. Hier geht es um politische Erklärungen und nicht um Parteienstreit letztlich. Herr Jäger hat ja geglaubt, im Landtag einen großen Parteienstreit bestehen zu müssen, in der Tat wurde er auch angegriffen. Dafür haben die Geschädigten überhaupt kein Verständnis."
Was selbstverständlich klingt, hat der Innenminister jetzt, ein Jahr später, bekannt gegeben: Künftig gibt es in Nordrhein-Westfalen einen Leitfaden für Großveranstaltungen, der Polizei und Feuerwehr ein Vetorecht einräumt, falls am Sicherheitskonzept Zweifel aufkommen. Strafrechtliche Konsequenzen sind indes noch nicht in Sicht. Unter den derzeit 16 Beschuldigten, gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelt, ist nur ein Polizist. Es soll sich um den Einsatzleiter von damals handeln.
Er hat eine Ketchup-Attacke, Pfeifkonzerte, Morddrohungen und ein erstes gescheitertes Abwahlverfahren hinter sich – und ist immer noch im Amt: Adolf Sauerland, nach jahrzehntelanger Herrschaft der SPD seit 2004 der erste christdemokratische Oberbürgermeister in Duisburg. Nicht wenige in der Stadt schreiben ihm die politische Verantwortung zu für die Katastrophe im vergangenen Sommer.
"Als mir dann gesagt wurde, dass es Tote gegeben hat, habe ich rausgeguckt, hab gesagt, wie kann so etwas passieren?"
Noch heute ist Sauerlands Blick seltsam leer, wenn er über die Loveparade spricht. Er atmet tief ein und aus. Er gähnt während des Interviews und steht auf, um das Fenster zu öffnen, setzt sich wieder hin und formuliert manche Sätze in Zeitlupentempo. Adolf Sauerland sieht sich selbst ein Stück weit als Opfer:
"Es ist ja nicht nur die Ketchup-Attacke, es ist die Art und Weise, wie über Sie geredet wird. Mir geht's darum, in der nächsten Zeit, mit meinen Kolleginnen und Kollegen, die als Beschuldigte aufgerufen sind, den für sie so unheimlich schwierigen Weg gemeinsam durchzufechten."
Doch nicht wenige in der Stadtverwaltung halten diese Solidaritätsbekundungen für eine Farce. Ein Neuanfang in Duisburg sei mit Sauerland nicht mehr möglich, sagen Mitarbeiter, die ihren Namen nicht im Radio hören möchten. Nur einer äußert sich öffentlich: Rainer Hagenacker. Der Personalratsvorsitzende kommt zum Interview an den großen Brunnen in der Duisburger Einkaufszone. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen Adolf Sauerland. Der Oberbürgermeister habe schon lange vor der Loveparade einen fragwürdigen Führungsstil ausgeübt:
"Als es für ihn zunehmend schwieriger wurde, das eine oder andere Projekt auch finanziell hier durchzustehen, sind doch Tendenzen hier deutlich geworden, die sehr autokratisch wirkten, die freundlich formuliert als Gutsherrenstil ankamen. Und dies ist vor der Loveparade auch schon sehr, sehr häufig Gegenstand von interner Kritik gewesen."
Vor wenigen Tagen hat sich Sauerland erstmals öffentlich bei den Opfern der Loveparade entschuldigt – ein Jahr zu spät, sagen seine Kritiker. Sie sammeln derzeit Unterschriften, um ein zweites Abwahlverfahren gegen den Oberbürgermeister in die Wege zu leiten. Über 30.000 Duisburger sollen bereits unterschrieben haben, doch ob das Quorum am Ende ausreicht, ist fraglich. Sollten ihm Fehler nachgewiesen werden, kündigt Sauerland zwar politische Konsequenzen für sich an, aber sein Umgang mit der Katastrophe bleibt ein Drahtseilakt. Er sei weiterhin überzeugt, dass die Verwaltung korrekt gehandelt habe, erklärt der 55-Jährige, und mit Blick auf das Abwahlverfahren stellt er selbstbewusst fest:
"Wenn diese Abstimmung für die Antragssteller daneben geht, hat man eine bessere zusätzlich demokratische Legitimierung."
Es sind solche Sätze, die seine Gegner zusätzlich provozieren. Die Loveparade sei doch politisch gewollt gewesen, heißt es immer wieder, zumal im Jahr der Kulturhauptstadt, der "Ruhr 2010", in deren Rahmen das Technospektakel stattfand.
Wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung und Körperverletzung ermittelt die Staatsanwaltschaft Duisburg derzeit gegen elf Bedienstete der Stadtverwaltung. Das Bauordnungsamt habe eine rechtswidrige Genehmigung ausgestellt, so heißt es im Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft. Dort ist auch von schweren Verfehlungen des Ordnungsamtes zu lesen, das die Sicherheitsauflagen am Morgen des 24. Juli vor Ort nicht überprüft habe. Adolf Sauerland zählt bislang nicht zu den Beschuldigten. Rolf Haferkamp, Sprecher der Duisburger Staatsanwaltschaft, ist mit Auskünften zurückhaltend und verweist auf die laufenden Ermittlungen. Ganze Waggonladungen an Beweismaterial müssen ausgewertet werden, weit über 3000 Zeugen sind bisher vernommen worden. Bis zu einer Anklage können noch Monate vergehen.
"Es ist eine Herausforderung, vor der die Staatsanwaltschaft Duisburg noch nie gestanden hat. Da kann man mit Fug und Recht sagen, es ist eine Aufgabe, die mit nichts zu vergleichen ist bisher."
"Wichtig ist für die Hinterbliebenen und für die Geschädigten nicht unbedingt, wer hier bestraft wird, sondern dass öffentlich sichtbar Verantwortung übernommen wird",
stellt Opferanwalt Gerhart Baum fest. Viele seiner Mandanten haben eine finanzielle Entschädigung erhalten, sie haben Selbsthilfegruppen gegründet, und einige von ihnen haben darum gebeten, dass der Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller und Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland der Trauerfeier zum ersten Jahrestag der Katastrophe am kommenden Sonntag fernbleiben. Auf den einen Satz von beiden warten sie bislang vergeblich. So spricht Gerhart Baum ihn aus:
"Man hätte eine solche Veranstaltung dort niemals genehmigen dürfen. Punkt."