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Schwankender Boden

Wenn Jugendliche in die Pubertät kommen, dann ist das für keinen leicht. Eltern, Lehrer, aber auch die Betroffenen leiden. Wie sich das genau anfühlt, davon handeln drei Bücher über den schmalen Grad vom Jugendlichen zum Erwachsenen.

VON FLORIAN FELIX WEYH |
    "Als ich gegen elf am Samstagmorgen beim Frühstück saß, fragte mich mein Vater, wie ich geschlafen hätte. »Schlecht«, sagte ich. Henri sah auf. Er hatte einen besorgten Blick. »Fühlst du dich krank?«, fragte er. »Ein bisschen«, log ich. »Mir ist so schwindlig«, schummelte ich einfach weiter und stierte auf meinen Teller. »Maria!«, rief mein Vater in die Küche. »Hagen scheint es nicht gut zu gehen.« Ich bekam einen roten Kopf und schämte mich dafür, dass mein Vater auf meine Lüge hereingefallen war. Meine Mutter kam sofort angerannt, starrte mir ins Gesicht, legte mir die Hand auf die Stirn und sagte: »Er hat einen ganz roten Kopf. Vielleicht hat er Fieber. Es geht eine Grippe um. Leg dich mal lieber ins Bett, Hagen, ich bring dir den Tee hoch."

    So geht es in vielen Familien zu. Allmorgendlich trifft der musternde Elternblick die Kinder, kein Unwohlsein wird übersehen, umgekehrt aber auch keine Gelegenheit ausgelassen, Krankheit vorzutäuschen, um den Tag nicht in der Schule verbringen zu müssen. Der zwölfjährige Hagen hat diese Ausflüchte oft benutzt, er ist ein begnadeter Schwindler, ein Virtuose virtueller Beschwerden. Doch warum ausgerechnet an einem schulfreien Samstag? Bloßer Mutwille oder doch eine echte Krankheit, deren innere Auswirkung sich nicht in äußeren Symptomen spiegelt? Drei Tage bleibt Hagen jedenfalls im Bett. Dann ändert sich die Lage:

    "Am Montagabend, noch bevor Mam ihr »bettfertig« durch den Treppenflur rief, fragte mich Malte: »Wie hoch ist eigentlich dein Fieber, Hagen?« Er fragte mich genau in diesem hinterlistigen Tonfall, als würde er wissen, dass ich gar keins hatte.
    »58 Grad«, murmelte ich.
    Wenig später stand meine Mutter im Zimmer, an ihrer Seite Malte. »Wenn Hagen 58 Grad Fieber hätte«, hörte ich sie zu Malte sagen, »wäre er schon längst tot. Aber morgen geht's wieder ab in die Schule.«
    Ich hatte mir die Bettdecke über den Kopf gezogen. Trotzdem hörte ich nur allzu deutlich die Worte meiner Mutter und ihr Lachen. Tot, hatte sie gesagt und dabei ins Schwarze getroffen. Ich wäre gern tot gewesen. Am Mittwoch schrieben wir eine Englischarbeit, am Donnerstag Mathe, und am Freitag war wieder die Basketball-AG. Den Hausaufsatz für Deutsch hatte ich noch nicht einmal angefangen. Mam sagte als Nächstes: »Weißt du, Malte, gegen so hohes Fieber gibt es ein gutes Mittel. Wir wollen mal sehen, ob wir Hagen durch ein bisschen Kitzeln unter den Armen wieder zum Leben erwecken können.«
    Kitzeln – deswegen konnte ich schon lange nicht mehr lachen, aber meine Mutter schien das nicht mitbekommen zu haben. Als ich hörte, wie unten die Haustür ging, und dann die Stimme meines Vaters, der irgendetwas rief, dachte ich, jetzt bleibt mir zum Glück das alberne Kitzeln erspart. Da merkte ich, wie mir die Bettdecke vom Körper weggezogen wurde, und ich spürte die Hände meiner Mutter unter meinen Achseln. Ganz kurz nur. Dann waren die Hände plötzlich weg, und ein spitzer Schrei meiner Mutter gellte durchs Zimmer, aber es war fast so, als hätten die Hände selbst geschrieen. »Mein Gott!«, hörte ich Mam aufstöhnen. »Er ist ja eiskalt. Henri!«, rief sie mit erstickter Stimme, »Henri, komm sofort her, Hagen...!"

    "Er tut so, als wäre er sterbenskrank. Und plötzlich in dieser Erzählung kippt das Ganze um, indem er tatsächlich nicht mehr nur so tut, sondern er ist es, und er liegt da und ist tot. Und die Eltern und die Familie entdecken das und sind natürlich völlig entsetzt."

    Ein falsches Wort, eine flapsige Entgegnung – und Hagen ist wirklich tot. Sein Unterleib sieht aus wie vom Höllenfeuer gezeichnet, 58 Grad Fieber übersteht kein menschliches Gewebe. Der Arzt kann nur noch kondolieren, die Eltern und die Geschwister Malte und Ulla bleiben fassungslos zurück. Ganz rasch verlässt Martin Grzimeks beklemmende Novelle »Die unendliche Straße« den sicheren Raum des realistischen Erzählens. Zunehmend werden die Situationen grotesker, in die der bewegungsstarre, aber noch alles registrierende Hagen gerät. Weil der kleine Malte seinen Kummer wie traumatisiert auf der Gartenschaukel zu beruhigen sucht, bugsiert die Schwester Ulla den steifen Hagen dorthin – in der Hoffnung, er habe noch Einfluss auf den kleinen Bruder. Ein unglücklicher Fußtritt des schaukelnden Malte befördert Hagen aber in hohem Bogen in die Stadt hinaus. Auf einem Spielplatz fällt er Jugendlichen zu Füßen.

    "»Hey!«, sagte eine andere Stimme. »Wo kommt der denn her? Ist der aus einem Flugzeug gefallen?« In diesem Moment sah ich unten zwei Jungs stehen, die zu mir hinaufschauten. Sie waren ein bisschen älter als ich. Der eine trug eine Baseballkappe, den Schirm in den Nacken gedreht, der andere hatte kurze blonde Haare mit leuchtend lila Strähnen. Ohne dass ich sehen konnte, woher sie kam, stellte sich noch eine dritte Person dazu und schaute zu mir hoch. Es war ein Mädchen. Ihre Haare waren knallrot gefärbt.
    »Mensch, das gibt's doch nicht!«, sagte sie. »Träum ich, oder was?«
    »Das sehen wir uns erst mal etwas genauer an«, sagte der mit der Kappe. »Vielleicht ist das nur 'ne Puppe vom letzten Faschingsumzug.«
    »Komische Puppe«, sagte das Mädchen. Der mit der Kappe begann, am Netz zu mir hochzuklettern. Er kam mir immer näher, Stück für Stück wurde sein Gesicht größer.
    »Und, Holli, was isses?«, rief der andere Junge.
    Holli war mir jetzt ganz nah. Er blickte mir direkt in die Augen. »Das ist 'ne richtige Leiche«, flüsterte er.
    »Was?«, rief das Mädchen.
    »Das ist 'ne Leiche!«, sagte Holli jetzt laut."

    "Man könnte sagen, es ist vielleicht ein Tagtraum, also wenn man es irgendwie kategorisieren will. Ich denke aber, dass es gar nicht darum geht. Sondern es ist die Erzählung einer Selbstempfindung, bei der in einer Zeit irgendwann die Zeit aussetzt. In diesem Aussetzen geschieht etwas, was möglich wäre, dass es geschieht. Es ist wie ein Traum – aber es ist kein Traum! Es ist wie die Wirklichkeit, aber es ist nicht die Wirklichkeit. Ich habe immer so die Pubertät empfunden. "

    Der Text setzt freilich geübte Leser voraus, die schon gelernt haben, mit Brüchen, Zeitschleifen und perspektivischen Überraschungen fertig zu werden. Dann allerdings liegt vor ihnen ein Stück Literatur, das ohne jegliches Psychologisieren allein durch die Kraft des symbolischen Erzählens jenen Lebensabschnitt transparenter macht, in dem alles aus den Fugen gerät: Körper, Geist und Seele.

    "Also das Wichtige ist, dass er irgendwann feststellt, sie sprechen nicht mehr mit ihm, sondern sie sprechen nur noch über ihn. (…) Wenn man in der Pubertät ist, diesem Zustand zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, gibt es eigentlich man selbst nicht mehr. Man wird nicht so wahrgenommen, wie man sich selbst wahrnehmen möchte, das heißt, man ist nur noch ein Er, kein Ich mehr. Das ist eine kurze Zeit, vielleicht ein, zwei Jahre, und das ist im Prinzip das, was ich im Buch schildern möchte. "

    In einen existenzieller Sog gerät der zwölfjährige, sich tot fühlende Hagen hinein – und den Sog von Sprache und Handlung verdichtet der Verlag durch ein weiteres Kunstwerk. Die Radierungen des Schweizer Grafikers Hannes Binder sind fast noch dunkler, unheimlicher als die Geschichte Grzimeks. Sie erinnern an die Holzschnitte Frans Masereels aus den Zwanziger Jahren, auch dort, wo sie moderne Motive zeigen.

    "Ich fand das wunderbar, weil die Verwaschenheit der Identität dieses Jungen bricht sich in der Klarheit und in der Schärfe dieser Konturen in den Zeichnungen. Und Binder hat vor allen Dingen versucht (…) immer in der Bewegung zu bleiben, die Bewegung mitzugestalten. Also Kreisel zu gestalten, sich auflösende Momente, etwas was weghuscht, was nicht zu fassen ist und so weiter."

    Bewegung – die steckt schon im Titel der Novelle von der »großen Straße«, auf der der heranwachsende Hagen auch die metapherntypische Einsamkeit des Wanderers erfährt. Verblüffenderweise war das ursprünglich gar nicht beabsichtigt:

    "Dieser Titel ist aufgrund eines Lesefehlers entstanden. Und zwar gibt es ein Gedicht von Gryphius, »die Hölle«, das mich immer fasziniert hat, weil es ein wunderschönes, hartes Gedicht ist, mit sehr vielen eindrücklichen Wörtern, die zackzackzack hintereinander kommen, was ich dann auch im Stil des Buches auffangen wollte, also dieses Immerweitermachen und keine Ruhe haben … da gibt es eben einen Satz, der heißt: »die unendliche Strafe«. Aber ich habe es in den Internetseiten gesehen, in den deutschen Schulprogrammen steht dann immer: »die unendliche Straße«, weil man dieses alte »f« als »ß« gelesen hat. Und so gibt es viele Übersetzungen oder Verdeutschungen in die neue Schriftsprache, und da steht immer »die unendliche Straße«. (…) Aber ich dachte mir, ich lass das, denn mittlerweile empfinden wir ja die unendliche Straße als unendliche Strafe."

    Wie eine Strafe empfindet der Held des nächsten Buches seine derzeitigen Lebensumstände. Umziehen muss er, weil seine Mutter in einer Kleinstadt Südenglands den lang ersehnten Job der Schuldirektorin bekommen hat. Zu allem Unglück an der besten Schule der Gegend, weswegen auch Daniel dieses Institut besuchen muss. Etwas Schlimmeres kann es für einen Zwölfjährigen kaum geben: Vor acht Uhr der Mutter als Familienmitglied gegenüberzutreten, nach acht als allmächtiger Respektsperson. Zumal diese Mutter keine ganz gewöhnliche Mutter ist:

    "Ich finde, Mum sieht eigentlich immer richtig gut aus. Sie hat tiefblaue Augen – Dad sagt, die hat sie von ihren irischen Vorfahren geerbt – und ganz dicke, dunkle Haare, die sie, außer in der Schule, immer offen trägt. Manchmal drehen sich Leute auf der Straße sogar nach ihr um, aber ich glaube, das merkt sie gar nicht. Sie merkt nur, dass sie ein paar Kilo zu viel wiegt, und glaubt, dass das an den Lithium-Tabletten liegt. Die muss sie täglich nehmen, um nicht wieder so krank zu werden, wie sie es schon einmal war. Das Lithium sorgt dafür, dass die chemischen Stoffe in ihrem Gehirn im Gleichgewicht bleiben. Alle Menschen produzieren solche chemischen Stoffe im Gehirn, aber bei manchen ist die Mischung nicht so ausgewogen wie bei anderen. So hat Mum es mir mal erklärt. Eigentlich komisch, dass ich das nicht von Dad weiß, der doch der Arzt in unserer Familie ist, aber er reagiert immer gereizt, wenn ich ihn nach Mums Krankheit frage. "

    Daniels Mutter ist manisch-depressiv. Ihre letzte klinische Episode liegt allerdings ein Jahrzehnt zurück, so dass sich der Zwölfjährige kaum noch daran erinnern kann. Seither führt sie dank kontrollierter Medikation ein normales Leben, das allerdings selten zuvor so vielen Stressfaktoren auf einmal ausgesetzt war: der Umzug, die neue Karriere – und zu allem muss nun auch noch Daniels Vater nach Neuseeland fliegen, wo dessen Mutter im Sterben liegt.

    "Im vergangenen Jahr hatten sie bei ihr Krebs festgestellt und wir waren in den letzten Sommerferien mit der ganzen Familie in Neuseeland zu Besuch bei ihr gewesen. Damals sah sie total gesund aus. Ich war darüber ziemlich erschrocken, weil ich das nicht erwartet hatte, und überlegte mir die ganze Zeit, wie viele der gesund aussehenden Leute um mich herum dann wohl in Wirklichkeit auch Krebs hatten. Ich fragte Dad immer wieder, woran ich erkennen könnte, ob ich selbst vielleicht Krebs hätte, bis es ihm zu viel und er richtig wütend wurde. "

    Das sind normale Fragen, wenn einem die Umwelt langsam zu entgleiten beginnt, weil kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Und sie entgleitet Daniel schneller, als ihm lieb sein kann. Kaum ist der Vater weg, beginnt sich die Mutter sonderbar zu verhalten. Die gestrenge Lehrerin entpuppt sich als Freak, kleidet sich aufreizend statt direktorinnengemäß und will die dunkelblauen Schuluniformen durch leuchtendrote ersetzten. Damit wird die ohnehin schwierige Außenseitersituation Daniels nachgerade prekär, und gäbe es nicht Abby, die ihrerseits eine peinliche Mutter besitzt, hätte er gar keine Verbündeten in der neuen Heimat. Doch die Schicksale ähneln sich nur, und in diesem Alter braucht es einen auslösenden Moment, um aus der trennenden Differenz die Erfahrung gemeinsamer Stärke zu gewinnen. Abbys Mutter ist Alkoholikerin, sozial damit noch weitaus tiefer angesiedelt als die »durchgeknallte« Schuldirektorin. Diese allerdings steigert sich immer mehr in ihren Zustand hinein. Als sie eine Klinikgefährtin von früher trifft, glaubt sie, Daniels kleine Schwester Martha sei mit dem Kind dieser Patientin vertauscht worden. In höchster Not holt Daniel den Vater aus Neuseeland zurück. Der schenkt ihm reinen Wein ein:

    ""Manische Phase?" Ich hörte diesen Begriff zum ersten Mal.
    Dad nickte. "So nennt man die Zeit, in der ihre Krankheit sich äußert. Sie war auch manisch, als sie mit Martha schwanger war. Deshalb musste sie damals in die Klinik. Eine Manie ist das Gegenteil von einer Depression. Statt todtraurig zu sein, ist man himmelhoch jauchzend, nur fühlt sich das nicht immer gut an, weil man nicht schlafen kann und die Gedanken rasend schnell durch den Kopf schießen. Manchmal verliert man dann den Bezug zur Realität und kommt sich zum Beispiel unheimlich wichtig vor. So war das jetzt auch bei deiner Mutter."
    "Dann hat sich Mum in der Schule deswegen so wichtig gemacht?"
    "Genau. Je kränker sie wurde, desto mächtiger fühlte sie sich. Am Ende hat sie sich anscheinend eingebildet, sie sei die Königin der Schule und nicht bloß die Direktorin. Medizinisch heißt die Krankheit, die Mum hat, manische Depression. Das bedeutet, dass ihre Stimmungen nicht so stabil sind wie bei anderen Menschen. (…)
    Ich runzelte die Stirn. Ich hatte das Gefühl, es immer noch nicht so ganz zu verstehen. "Ich dachte immer, man würde es jemandem sofort anmerken, dass er geisteskrank ist", sagte ich. "Aber bei Mum hab ich es nicht gemerkt. Ja, okay, sie war schon irgendwie komisch, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie ... du weißt schon." Ich brachte es nicht über mich, verrückt zu sagen."

    »Erde an Pluto» nennt die englische Autorin Gwyneth Rose ihren einfühlsamen und allen versammelten Katastrophen zum Trotz keineswegs überfrachteten Jugendroman. Der Titel erklärt sich gegen Ende, als Daniel seinem schlimmsten Peiniger Calum Paroli bieten kann:

    ""Hey! Na, wenn das nicht Daniel ist. Wie geht's denn deiner Mum? Immer noch ... du weißt schon ...?" Er zeigte auf seine Stirn und malte mit dem Finger Kreise. Laut Plan hätte ich darauf seelenruhig antworten sollen, dass Mum eine Krankheit hat, für die sie nichts kann, oder dass ich lieber nicht mit ihm darüber reden möchte. Ich hätte auch einfach stumm weitergehen können – aber dann kam aus meinem Mund etwas ganz anderes. Ich war selbst total baff. "Ach, der geht's ganz gut, danke. Die Leute vom Planeten Pluto sind alle so. Daran gewöhnt man sich." Calum starrte mich eine Sekunde lang an, als wäre ich verrückt geworden. Abby genauso. Seine Freunde fingen an zu lachen, aber nicht fies – eher, als fänden sie meine Antwort lustig. "

    Auf literarisch ganz andere Weise als bei Martin Grzimek wird hier ein schwieriger Lebensabschnitt mit seinen schier unüberwindlichen Herausforderungen geschildert. Daniel gleitet genauso wenig problemlos wie Hagen ins Erwachsenenalter hinüber, sondern gerät in einen Strudel aus überzogenen Anforderungen einerseits und beglückenden Solidaritätserfahrungen andererseits. Am Ende geht er aus dem Wechselbad der Gefühle gestärkt hervor. Mit ihm der Leser, der verblüffende anatomische Erkenntnisse erhält:

    "Und ich erinnerte mich an den Muskel, über den wir in der Gruppe geredet hatten. Den Abprallmuskel. Ich weiß noch, dass ich es ziemlich albern fand, als die Therapeutin das erste Mal davon anfing. Ich hab gelacht und gesagt, dass es so einen Muskel überhaupt nicht gibt. Aber dann hat einer aus der Gruppe gesagt, dass man schon ziemlich stark sein muss, damit die blöden Sprüche von manchen Leuten an einem abprallen. Also haben wir beschlossen, dass wir versuchen würden, fiese Leute einfach zu ignorieren und mal zu gucken, ob wir unseren Abprallmuskel dadurch stärken können. (…) Da fühlte ich mich schon sehr viel besser."

    Erinnern wir uns an die Schaukel, von der aus die Reise des scheintoten Hagen begann? Auch das dritte Buch - »Auf einem schmalen Grat« von Nicky Singer – schwingt im Auf und Ab, Hin und Her, Vor und Zurück des vertrauten Spielgeräts.

    "Die Schaukel hat mein Vater gebaut. Ringe an einem vorstehenden Ast festgeschraubt und die Ketten eingehängt. Die Ringe waren damals immer eingefettet, jetzt sind sie stumpf und rostig. Sie quietschen. Ein rhythmisches Quietschen, im Takt meines Schaukelns. Meine nackten Arme um die Ketten gelegt, als würde ich sie umarmen. Das Eisen ist kalt, kalt wie der Nachtwind. Die Haare auf meinen Unterarmen stehen senkrecht, wie aus Protest. Aber die Kälte ist mir egal. Ehrlich gesagt, ich bin froh über die Kälte. Sie gibt mir das Gefühl zu leben. Unter meinen Füßen ist der Boden feucht. Als ich sechs war, trat ich so lange auf der Stelle herum, dass sich Matsch bildete. Ich schaukelte und schaukelte und erzählte mir selber Geschichten. Damals hatten alle Geschichten ein glückliches Ende. "

    Warum die Schaukel? Vielleicht weil nichts anderes den schwankenden Boden besser verkörpert, auf dem sich junge Menschen in problematischen Lebenslagen bewegen. Der vierzehnjährigen Tilly geht es noch schlechter als den Protagonisten der beiden anderen Romane, denn ihre Mutter ist jüngst gestorben. Tilly lebt bei der Großmutter und klammert sich an ihre einst von der Mutter gebastelten Puppe Gerda fest. Doch das verleiht nur schwachen Halt. In Tillys Innerem brodelt es gewaltig:

    "Ich kann Dinge von mir fern halten, sie in eine Schachtel schließen und sicher verwahren. Manchmal glaube ich, mein Kopf ist voller verschlossener Schachteln. Und dass es eines Tages zu viele Schachteln sein werden und mein Kopf explodiert. Dann werden alle gruseligen Dinge aus vierzehn Jahren zu Boden stürzen und ich werde endlich hinschauen müssen. Aber jetzt nicht. Noch nicht."

    Dieser Tag kommt jedoch, als sie bei einem Suizidversuch Jan kennen lernt. So ganz wird nicht klar, ob ihr riskantes Verhalten auf einer Eisenbahnbrücke wirklich den eigenen Tod ins Auge fasst oder doch nur eine Koketterie darstellt. Dort, am Bahndamm, spielt der gleichaltrige Junge Flöte. Panflöte, denn er ist der Herkunft nach Chilene. Von englischen Eltern als Baby adoptiert, brechen bei ihm gerade alle Zweifel an der eigenen Existenz auf: Warum hat ihn seine Mutter zur Adoption freigegeben? Wer ist sein Vater? Warum fühlt er sich trotz der Liebe seiner Adoptiveltern so einsam und verlassen? Tilly ist nicht der Mensch, der ihm diese Fragen beantworten kann, ja nicht einmal das Mädchen, dem man sich unbefangen nähert. Dennoch finden beide in trauriger Mutterlosigkeit zusammen. Die allerdings sieht bei Tilly anders aus, als es sich der irregeführte Leser lange gedacht hat:

    "»Meine Mutter hat Puppen gemacht«, erzähle ich Jan. »Damit hat sie ihr Geld verdient. Aber mir hat sie nie eine Puppe gemacht, nicht mal, als ich ein Baby war.«
    »Bis auf Gerda«, sagt Jan.
    »Nein«, sage ich. »Gerda hat auch nicht sie gemacht. Das war ich.«
    Er stößt einen kurzen Atemzug aus, was ich zuerst für ein Zeichen halte, dass er überrascht ist, aber dann wird mir klar, nein, er hat etwas begriffen, ihm ist durch diese Tatsache etwas verständlich geworden, was ihn die ganze Zeit umgetrieben hat. Aber ich unterbreche mich nicht, um nachzufragen, denn ich will es jetzt aussprechen, will es ihm jetzt erzählen.
    »An dem Abend, als meine Mutter starb ...«, fahre ich fort, dann stocke ich, ich muss den Satz in meinem Kopf noch mal neu bilden, »... an dem Abend, als sie versuchte sich das Leben zu nehmen, bin ich zurück in mein Zimmer gegangen. Großmutter war zur Notaufnahme gefahren. Sie hatte gesagt, ich solle nicht in das Zimmer zurückgehen, sondern mich ins Bett legen. Aber wie sollte ich das schaffen? Ich ging zurück, nahm das Messer, das da einfach auf dem Fußboden lag – das Tranchiermesser mit dem Blut meiner Mutter – , und zerschnitt ihre Anziehsachen. Ich stieß die Spitze des Messers durch jedes einzelne Kleidungsstück, das meine Mutter besaß. Ich zerfetzte alles. Und ich überlegte dabei, wie sie so etwas wohl in den Zeitungen darstellen würden. Eine Attacke des Wahnsinns. Erbärmlich. Lächerlich."

    Aus den Stoffresten der mütterlichen Kleidung hat sich Tilly ihr seltsames Woodoo-Püppchen zusammengeschneidert, das Halt bieten soll, wo es nicht einmal den Trost der Endgültigkeit gibt. Denn Tillys Mutter ist nicht tot, sondern nur komplett verwahrlost; eine Schwerstalkoholikerin, die nicht zum ersten Mal in der Suchtklinik gelandet ist. Durch Jans Existenz ermutigt, besucht Tilly die Mutter schließlich im Krankenhaus. Ihre Suche nach Liebe, wenigstens nach einer Spur von mütterlichem Altruismus, wird jäh enttäuscht. Tilly vernimmt die Jammerarie einer egomanen Süchtigen, die nur um die eigene Befindlichkeit kreist:

    "»Sie verweigern einem die Medikamente. Ich soll eigentlich viermal am Tag Medikamente bekommen. Aber sie haben auf dreimal reduziert. Auf zweimal. Sie sagen, sie haben das im Griff, alles unter Kontrolle. Aber sie müssen ja auch nicht hier liegen und schwitzen. Hast du eine Vorstellung, wie sehr ich hier schwitze? Manchmal ist mein Rücken klatschnass. Klatsch-nass. (…) Und man kann nicht schlafen. Ich habe noch kein Auge zugemacht, seit ich hier bin. Nicht eine Stunde, nicht mal eine Minute. Aber ich träume. O ja, ich träume, weißt du, was ich träume, Tilly? Ich träume, dass mich die Schwestern aufessen, dass sie mich aufessen und bei den Füßen anfangen. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn dich die Leute, die sich eigentlich um dich kümmern sollten, stattdessen aufessen?"

    Ja, das kann sich Tilly vorstellen, denn das hat sie vierzehn Jahre lang durchgemacht: dass die Frau, die sich um sie kümmern sollte, stattdessen ihre Seele aufaß. Dies ist das stärkste Bild des eindrücklichen Buches, das auf dem schmalen Grat zwischen Hoffungslosigkeit und Selbstbefreiung balanciert. Tilly ist dabei keine einfache Heldin, mit der man sich gerne identifiziert; auch der grüblerische Jan strahlt wenig Herzlichkeit aus. Doch beide zusammen meistern etwas, das der Rest ihrer Bekannten gar nicht so recht begreift. So wenig wie normale Jugendliche die Frage nach der richtigen Haltung umtreibt. Etwa wenn die prinzipienfeste Großmutter zugibt, dass ihr vorbildliches Leben mit dem verstorbenen Großvater auch schon auf einer Lebenslüge aufbaute. Verzweifelt fragt sich Tilly:

    "Wann werden die Bücher ausgeteilt, die einem erklären, welche Gefühle man in bestimmten Momenten haben soll? An diesem Tag war ich anscheinend nicht in der Schule."

    Diese Bücher werden nicht ausgeteilt, schon gar nicht im Unterricht. Aber man kann sie entdecken, wenn man sorgfältig genug danach sucht. Jeder der drei heutigen Titel hat das Potential, jugendliche Grundfragen zu beantworten. Man muss sich nur entscheiden, welches für einen selbst am besten taugt.

    In der Sendung besprochene Titel:

    Martin Grzimek: »Die unendliche Straße«
    Mit Bildern von Hannes Binder
    DTV 2005
    110 Seiten – 6,50 Euro

    Nicky Singer: »Auf einem schmalen Grat«
    Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
    DTV 2005
    190 Seiten – 7,50 Euro

    Gwyneth Rose: »Erde an Pluto oder Als Mum abhob«
    Aus dem Englischen von Katarina Ganslandt
    Ravensburger 2005
    208 Seiten – 10,95 Euro