
Caitlin lebt in ihrer eigenen Welt. Sie liebt die Stille. Wenn es laut ist auf dem Schulhof, verzweifelt sie. Die Bilder, die sie malt, sind schwarz-weiß. Das ist klar, das ist eindeutig. Ihre Gefühle kann sie nicht zeigen und die der anderen nicht deuten. Sie soll es lernen mithilfe einer Tafel, auf die Gesichter mit verschiedenen Ausdrücken gemalt sind. Die zehnjährige Catlin hat das Aspergersyndrom, eine leichte Form von Autismus.
"Meine Tochter hat Asperger und ich wollte vor allem jüngeren Kindern zeigen, was solche Kinder durchmachen. Denn wenn Kinder einmal verstehen, warum manche Menschen anders sind, dann sind sie offen und tolerant. Ich sehe von zwei Seiten, wie das ist. Ich verstehe das Unbehagen eines Kindes mit Aspersyndrom, aber ich weiß auch, wie schwer es für Außenstehende ist, mit frustrierendem Benehmen umzugehen."
In Kathryn Erskines Roman "Schwarzweiß hat viele Farben" gibt es jemanden, der Caitlin versteht, der ihr hilft, der ihr Tor zur Welt ist: ihr Bruder Devon. Er hat Caitlin Schreinern und Schnitzen beigebracht und ihr gesagt, wie sie sich benehmen soll, er hat Basketball mit ihr gespielt und ist mit ihr einkaufen gegangen. Jetzt ist Devon tot. Caitlin helfen die Beteuerungen der Erwachsenen herzlich wenig. Sie sagen, dass Devon ein Teil von ihm sei bei ihr, dass er, gemeinsam mit der verstorbenen Mutter, über sie wache, dass er jetzt auf eine andere Weise mit ihr zusammen sei.
"Ich will nicht, dass wir auf eine andere Weise zusammen sind. Ich will, dass wir so zusammen sind wie immer. Wenn er mir Popcorn und heiße Schokolade macht. Und mir sagt, welche Klamotten ich tragen soll ... Diesen Devon möchte ich. Und keinen, der in der Luft herum schwebt."
Als der Vater sie fragt, was sie sich zum Geburtstag wünsche sagt sie; dass sie mit Devon shoppen gehen wolle, wie im vergangenen Jahr. Der Vater seufzt und erklärt ihr traurig, das dies unmöglich sein. Das weiß Caitlin, aber der Vater hat sie doch gefragt, was sie sich wünscht!
Empathie erlernen
Auch für Devon gibt es ein reales Vorbild, Kathryn Erskines Sohn.
"Ein Autor fragt immer, was wäre wenn. Und so habe ich mir vorgestellt, was wäre, wenn sie ihren großen Bruder verlieren würde, der ihr Bindeglied zur Außenwelt ist. Der sie gelehrt, wie sie sich verhalten soll, was man sagt und was man besser nicht sagt. Ohne ihn wäre sie wirklich ganz allein."
Nicht nur das Devon tot ist, er ist tragisch gestorben, ist ermordet worden. In seiner Schule, von einem Amokläufer. In "Schwarzweiß hat viele Farben" hat Kathryn Erskine also zwei schwere Themen auf einmal verarbeitet. Und es gelingt ihr. Denn ihre Protagonistin Caitlin reift im Laufe des Romans. Sie ist es, die die Menschen zusammenbringt, zum Beispiel den Sohn einer Lehrerin, die bei dem Attentat ums Leben kam mit einem Jungen, der mit dem Attentäter verwandt ist. Kathrine Erskine gibt keine Erklärungen, wie es zu so einem Massaker gekommen ist. Vom Attentäter erfahren wir nichts. Sie konzentriert sich ganz auf die Entwicklung ihrer Hauptfigur Caitlin. Im Laufe des Romans lernt Caitlin wie man sich andere Menschen einfühlen, wie man sie verstehen kann. Und dieses Einander Verstehen wird zur Metapher. Die einzige Möglichkeit, solche Massaker, solche Morde zu verhindern, ist es, einander zu verstehen.
In Rollenspielen lernt Caitlin, wie sie sich verhalten muss. Die Sozialpädagogin an der Schule hilft ihr dabei. Das ist bisweilen erfrischend, wie bei Paul Maars Sams:
"'Wenn eine Lehrerin dir sagt, was du zu tun hast, dann heißt das, dass du das auch tun musst. Wenn sie ‚möchte' sagt, meint sie, du musst es tun.'
‚Warum sagt sie es dann nicht?'"
‚Warum sagt sie es dann nicht?'"
Dann wieder führen die beiden eine Diskussion wie aus Wittgensteins "Philosophischen Untersuchungen". Caitlin soll Empathie erlernen. Die Sozialpädagogin erklärt es ihr am Beispiel einer verletzten Mitschülerin. Caitlin bleibt skeptisch.
"'Empathie bedeutet, man versucht sich in die Gefühle der anderen einzufühlen. Du löst dich von deinen eigenen Gefühlen und versuchst die Gefühle des anderen zu erspüren, in dem du für einen Augenblick der andere bist!'" "'Das geht aber nicht, denn es ist ja nicht mir passiert. Ich habe keine Verbände und kein rot zerkratztes Gesicht, wie soll ich wissen, wie sich das anfühlt?'"
Kann man Empathie wirklich lernen?
"Ja, das glaube ich. Ich glaube, dass man es intellektuell lernen und verstehen kann, was nicht heißt, dass man es auch fühlen kann. Aber selbst wenn jemand Empathie nur intellektuell begreifen kann, so kann er sich doch besser in der Welt zurechtfinden."
Ein versöhnliches Ende
"Schwarzweiß hat viel Farben " ist aus Caitlins Perspektive geschrieben. Kathryn Erskine findet wunderbare Worte, um Caitlins Gefühlsleben darzustellen: Manchmal schmerzen Caitlin, die Dinge, die sie sieht, weil sie ihr kalt und hart erscheinen. Dann "verplüscht" sie sie, verwandelt sie in etwas Weiches und Warmes. "Stuffed animaling" heißt das im englischen Original. Manche Worte schreibt Caitlin nur in großen Lettern. HERZ ist ein so Wort, dass man nur in Großbuchstaben schreiben kann. Devons Todestag ist der Tag-an-dem-unser-Leben-auseinandergebrochen-ist mit Bindestrichen zwischen jedem Wort. Und Devon ist für sie Devon-der-tot-ist. Alle andere finden diese Bezeichnung furchtbar. Caitlin gibt sie Halt.
Schritt für Schritt geht Caitlin auf die anderen zu. Manchmal ist Caitlin unbeholfen wie in der Cafeteria, als sie eine Freundin finden will und sehr direkt wird.
"Sie geht sehr linkisch auf Menschen zu, mit denen sie befreundet sein will. Aber ich denke, auf eine gewisse Weise könne wir uns alle mit ihr identifizieren, weil wir alle schon einmal in einer Situation waren, die neu für uns war, eine neue Schule, eine neue Gruppe, irgendetwas, wo wir die Leute noch nicht kennen. Die meisten von uns können damit besser umgehen als sie, aber wir wollen alle Freunde haben."
Caitlin trifft eine Entscheidung. Ihr Bruder hat angefangen, eine Truhe zu bauen und mit Schnitzwerk zu verzieren. Der Vater hat diese Truhe mit einem Tuch verhangen. Caitlin will die Arbeit des großen Bruders zu Ende bringen. Und sie malt ein Porträt des Bruders. Am Ende wird es das erste farbige Bild sein, dass sie je gemalt hat. Und sie kann um ihn weinen.
Kathryn Erskines Roman endet versöhnlich, mit einer Feier in der Schule, in der es das Massaker gegeben hat. Die Truhe, die erst Devon und dann Caitlin geschnitzt haben, steht auf dem Podium in der Aula. Alle sind gekommen. Und Caitlin gehört dazu:
"Ich möchte jedes Buch hoffnungsvoll enden lassen. Dass ist wichtig, gerade für junge Menschen. Ich sage ihnen: Diese furchtbaren Dinge können passieren. Vielleicht machst du sehr schwierige Zeiten durch. Manche von uns haben auch so etwas erlebt. Und wir haben das überstanden. Und das wirst du auch. Du verstehst und du wirst überleben."
Kathryn Erskine: "Schwarzweiß hat viele Farben." Aus dem Amerikanischen von Ingrid Ickler. Knesebeck. 225 Seiten. 14.95 Euro.