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Schweiz vor der Parlamentswahl
"Schweizer Kritikfähigkeit ist nicht groß"

Das politische System in der Schweiz stecke in einer Krise und könne derzeit keine Handlungsfähigkeit mehr garantieren, sagte Stephan Märki, Präsident des schweizerischen Bühnenverbands, im Deutschlandfunk. Die Mehrheit der Bevölkerung sei für eine liberale und offene Schweiz. Allerdings sei nicht klar, ob sie bei der Parlamentswahl auch ausreichend zur Urne gingen.

Stephan Märki im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich |
    Die Schweizer Flagge weht nahe dem Jungfraujoch in den Berner Alpen
    Schweizer Flagge: Die Parlamentswahl könnte die SVP weiter stärken. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    Burkhard Müller-Ullrich: Irrsinnig ist ein beliebtes Wort in der Schweizer Mundart und dient einfach zur Verstärkung einer Aussage. Zum Beispiel: Die Schweiz ist irrsinnig schön. Das sollte man vielleicht im Hinterkopf haben, wenn man den gestern in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschienenen Artikel von Lukas Bärfuss mit dem Titel "Die Schweiz ist des Wahnsinns" liest. Ein wütender Rundumschlag gegen die angeblichen Zustände im Lande und vor allem gegen die Partei, die immerhin die meisten Wähler hat. Übermorgen wird sich zeigen, wie viele Wähler sie noch dazubekommt. Immerhin hat der Artikel dazu geführt, dass man sich auch in Deutschland für die bevorstehende Schweizer Nationalratswahl interessiert.
    Und wir sprechen darüber mit Stephan Märki, der mehr als zehn Jahre lang das deutsche Nationaltheater in Weimar geleitet hat und inzwischen in die Schweiz zurückgekehrt ist als Schauspiel- und Opernintendant in Bern. Außerdem ist er seit einem Jahr Präsident des Schweizerischen Bühnenverbands. Herr Märki, wenn Sie so auf Ihr Land schauen, empfinden Sie mehr Stolz oder mehr Scham?
    Stephan Märki: Eines der großen Schweizer Probleme, finde ich, ist das mangelnde Selbstbewusstsein. Die Schweizer Kritikfähigkeit ist nicht groß. Es gibt keine öffentliche Souveränität im Umgang mit den Problemen, die die Schweiz zu bewältigen hat. Und der Kern jetzt aktuell liegt natürlich in der Abstimmung vom Februar 2014, also die Masseneinwanderungsinitiative. Und vielleicht ist auch noch nicht das Bewusstsein der Verantwortung, die mit einer halbdirekten Demokratie einhergeht, in der Krise. In der Krise ist eher die andere Hälfte der direkten Demokratie, nämlich der Parlamentarismus, Classe Politique, die sich in Handlungslähmung befindet. Und der Bundesrat hat noch immer keine Lösung gefunden, das Dilemma zwischen dem Abstimmungsergebnis und den internationalen Verträgen zu lösen. Denn es würde konsequenterweise bedeuten, das Volk tatsächlich noch mal abstimmen zu lassen. Es ist tatsächlich eine Krise des politischen Systems, das in der heutigen Zeit keine Handlungsfähigkeit mehr garantieren kann. Ich glaube, das ist für mich der Kern.
    Müller-Ullrich: Ist es nur die mangelnde Handlungsfähigkeit oder auch ein mangelnder Handlungswille?
    Märki: Das Schweizer Selbstverständnis, das beruht ja darauf - und da ist die Schweiz auch sehr stolz -, auf diese Konsensgesellschaft, den Interessensausgleich für alle. Und die in der Schweiz so ausgeprägte Berufung auf das Wir, das Nationale, das Gemeinschaftliche, das was im Guten die Schweiz so stark, im Schlechten so schwach macht. Und wenn sich ein gesellschaftliches Selbstbewusstsein nur auf Basis von Gemeinschaft halten kann, dann schwächt das die Gesellschaft, weil sie keine Kritik mehr zulassen kann. Wer Gemeinschaft propagiert, behauptet Einigkeit. Und eine Gesellschaft kann nicht einig sein. Sie kann sich nur darauf einigen, dass man sich mit Uneinigkeit auseinandersetzt. Und das geschieht aktuell und mindestens seit der Masseneinwanderungsinitiative nicht mehr. Deswegen finde ich es wichtig, dass Lukas Bärfuss diese Polemik geschrieben hat.
    Müller-Ullrich: Sie haben ja gerade diese Dichotomie angesprochen, dass ein und dieselbe Ursache sowohl Stärke als auch Schwäche begründen kann. Ist es dann vielleicht immer eine Frage der Perspektive? Wenn man ewig auf die Schwäche schaut, wird man auch schwach. Und möglicherweise sollte man die Stärken auch mehr ins Bewusstsein heben?
    Märki: Genau! Ich könnte das gar nicht besser ausdrücken. Aber leider - das war ja schon bei Dürrenmatt und Max Frisch so - reagiert eine konservative Öffentlichkeit meistens, wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Und daraus kann man keine politisch verantwortliche Strategie erwachsen lassen. Das Problem eigentlich in der Schweiz empfinde ich nicht als die starke Schweizer Volkspartei, die SVP, die sich ihrer Haltung sehr sicher ist und jetzt gerade vor den Wahlen eine Kampagne von Sieges- und Selbstbewusstsein fährt. Das Problem ist die schweigende Mehrheit, die ängstlich darauf hofft, dass es nicht so kommt. Aber ich sehe nicht ein wirksames Rezept oder Reaktionen, dass es eben nicht so kommt. Ich glaube, dass es eine Mehrheit wirklich für eine offene und liberale Schweiz ist. Aber die Frage ist, ob die auch wirklich zu den Urnen gehen und auch wirklich stimmen gehen. Das einzige, was in allen sozialen Medien und bei Facebook und was man auf der Straße hört: geht wählen. Da ist auch spürbar die Angst, dass es vielleicht so kommt, wie eine Mehrheit gar nicht will.
    Müller-Ullrich: Denken wir doch mal einen Augenblick ganz positiv und besinnen uns auf die Stärken der Schweiz. Was wäre das in Ihren Augen?
    Märki: Die Suche nach einem Interessensausgleich für alle. Und das heißt ja, dass eine Mehrheit sich um die Interessen auch von Minderheiten kümmert und sich verantwortlich fühlt. Das zeigt ja dann auch eine Firmenstruktur, flache Hierarchien, Kommunikation und Interessensausgleich. Das empfinde ich nach wie vor in der Schweiz, dass das so ist, und das empfinde ich auch als Stärke. Was mir fehlt ist die Kritikfähigkeit, sowohl die Selbstkritik wie auch das selbstbewusste Auftreten nach außen.
    Müller-Ullrich: Vielen Dank, Herr Märki. Der Schweizer Theatermann Stephan Märki war das über die Stimmung in seinem Land zwei Tage vor den von einigem politischen Getöse begleiteten Parlamentswahlen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.