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Schwenk zum offensiven Krieg

Ein deutscher Offizier forderte in Afghanistan NATO-Luftunterstützung gegen Taliban-Einheiten an. Nach dem Angriff soll es zahlreiche, auch zivile, Opfer gegeben haben. Der Rückhalt der Aufständischen bei den Einheimischen wächst.

Von Marc Thörner |
    Amer Barakzai: "Die versuchen, möglichst eigene Verluste zu vermeiden. Eigene Verluste kann man nur dann vermeiden, wenn man auf Verdacht schießt. (…) Für mich ist das eine Missachtung von Menschenrechten, was nirgendwo auf der Welt zugelassen wird. Dem müsste eigentlich vom Weltgerichtshof nachgegangen sein. Die Amerikaner kämpfen gegen El Kaida, okay. Aber doch nicht auf Kosten der Afghanen."

    So entrüstete sich der deutsch-afghanische Entwicklungshelfer Amer Barakzai in diesem Frühjahr angesichts der blutigen Spuren eines US-Spezialeinsatzes im Raum Kundus. Bisher hatten deutsche Koalitionspolitiker die US-amerikanische Vorgehensweise abgelehnt.

    So groß war die Furcht, mit den dadurch verursachten Kollateralschäden in Verbindung gebracht zu werden, dass die Bundesregierung im November 2008 in Afghanistan aus der US-geführten Operation Enduring Freedom ausstieg. Dass die US-Armee ihre Aktionen im deutschen Regionalkommando dennoch nach Belieben weiter durchführte, dass dabei immer wieder Zivilsten zu Schaden kamen, das wurde vom Verteidigungsministerium ganz einfach abgestritten. Thomas Kossendey, parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium:

    "Die deutsche Beteiligung an diesem OEF-Mandat ist seit der Neuformulierung des Mandats am 15. November im Bundestag beendet worden. (…) Derzeit finden im Bereich der ISAF-Nordregion, also dort, wo Deutschland die Verantwortung trägt, keine OEF-Aktionen statt."

    Gestern nun forderte die Bundeswehr selbst offiziell eine US-Maschine zur Unterstützung gegen Aufständische an. Die Aufbaumission der ISAF. Die Kriegsmission der OEF – diese Trennung schien auf einmal hinfällig. Die ISAF selber koordinierte den Luftschlag und der Kommandeur des deutschen Feldlagers lenkte ihn ins Ziel. Damit hat die Bundeswehr den Schwenk zum offensiven Krieg vollzogen. Bundeswehroffiziere vor Ort hatten das schon lange gefordert. Entweder, man greife selbst zu härteren Mitteln, oder die Amerikaner würden den Deutschen das Heft des Handelns aus der Hand nehmen, so hatte ein Offizier in Kundus vor kurzem gegenüber dem Berliner "Tagesspiegel" durchsickern lassen.

    Wie ist es zu dieser rasanten Verschlechterung der Sicherheit gekommen? Die Ursachen dafür liegen nur zum Teil in der Region selbst, meint Yaqub Ibrahimi, Nordafghanistan-Korrespondent des Institute for War and Peace Reporting, einer Nachrichtenagentur mit Hauptsitz in London:

    Yaqub Ibrahimi: "Als die NATO sich vor kurzem entschied, ihren Nachschub nicht mehr über Pakistan, sondern über Zentralasien abzuwickeln, genauer gesagt: über Tadschikistan, auf der Route, die durch Kundus führt, hat der pakistanische Geheimdienst sich entschlossen, die Taliban-Gruppen aufzurüsten, die in Kundus operieren. Die pakistanischen Geheimdienstkreise wollen die NATO herausfordern und die Zentralasien-Route unsicher machen. Mit anderen Worten: Sie wollen Druck auf die NATO ausüben, die Nachschublinie durch Pakistan beizubehalten. Pakistan spielt mit der NATO und den Amerikanern, damit es schließlich wieder von der alten Nachschubroute profitieren kann."

    Genau auf der Nachschubroute von Tadschikistan nach Kundus entführten Taliban nun zwei Benzintanker. Nach Darstellung der Bundeswehr verfolgte eine deutsche Drohne, ein unbemanntes Aufklärungsflugzeug ihren Weg und ortete, dass sie in einem Flussbett liegengeblieben seien. Als man erkannt habe, dass zahlreiche Aufständische dabei gewesen seien, sie zu entladen, habe der deutsche Kommandeur den Luftschlag angefordert.

    Bewohner des nahegelegenen Dorfes Hadschi Amanullah berichten demgegenüber von zahlreichen Zivilisten. Sie seien durch den Lärm der Laster aufmerksam geworden und zum Ort des Geschehens geeilt. Einige dieser Zivilisten hätten möglicherweise versucht, Benzin mit abzuzwacken und seien zusammen mit den Aufständischen getötet worden. Auch Kinder sollen nach Angaben örtlicher Beobachter unter den Opfern sein.

    Unlängst erst hatte der neue ISAF-Kommandeur General McCrystal betont, man wolle in Afghanistan in Zukunft auf derartige Luftschläge verzichten, weil sie mit hohen Risiken für die Zivilbevölkerung verbunden sind. Aber aus Sicht der Bundeswehr in Kundus spitzt sich die Lage schon seit langem zu: ständige Angriffe auf Patrouillen, verletzte Soldaten – so auch am Vortag dieses Angriffs.

    Jetzt hat ein Bundeswehroffizier vor Ort der deutschen Politik die Richtung vorgegeben. Mit der Anforderung eines Luftschlags hat der Kommandeur des deutschen Feldlagers das Leben seiner eigenen Soldaten geschützt. Das ist nachvollziehbar. Doch viele Menschen in Kundus nehmen den internationalen Truppen inzwischen nicht mehr ab, dass sie im Lande seien, um die Afghanen zu beschützen. Schon nach den "Kollateralschäden" an Zivilisten in diesem Frühjahr hätten die Aufständischen in und um Kundus an Boden gewonnen, sagt Sufi Manan, Bürgermeister von Imam Sahib, unweit von Kundus:

    "Bisher hatten wir in dieser Gegend nicht mehr als 50 Taliban. Aber jetzt fangen einige Leute an, ihnen Unterschlupf zu gewähren. Oder sie verraten den ausländischen Truppen zumindest nicht, wo Aufständische sich aufhalten."

    Diese Tendenz dürfte sich nun verstärken.