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Schwerpunktthema: Das verlorene Wissen mittelalterlicher Baumeister

Im tiefsten französischen Burgund, inmitten dichter Eichenwälder, läuft seit nunmehr 16 Jahren ein weltweit einmaliges Projekt: in Guédelon entsteht eine Ritterburg, ganz wie im 13. Jahrhundert. Eine verrückte Idee, die der Besitzer des benachbarten Schlosses von Saint Fargeau hatte, eines historisch sehr bedeutsamen Prunkbaus.

Von Suzanne Krause | 17.10.2013
    Als dort Archäologen einen Turm aus dem 13. Jahrhundert entdeckten, hatte der Besitzer spontan Lust, das ursprüngliche damalige Schloss nachzubauen. Einfach, um zu wissen, wie man damals baute. Saint Fargeau als Vorlage war eine Nummer zu groß. Beim Guédelon-Projekt handelt es sich nun um die bescheidene Wohn-Burg eines kleinen Ritters. Die Baustelle ist Abenteuerspielplatz und Freiluft-Labor in einem.

    Hinter einem grob gezimmerten Scheunenbau auf einer Lichtung schlängeln sich schmale Pfade durch ein Eichenwäldchen, hier und da gesäumt von mächtigen Sandsteinbrocken. Eine Landschaft wie aus einer anderen Zeit. Im Hintergrund, auf einer großen Lichtung, sind schemenhaft die Umrisse einer Burg auszumachen. Besser gesagt: einer Burgenbaustelle. Aus rötlichem Stein erhebt sich das schmucke Haupthaus, der ‚Palas', zweistöckig in den blauen Himmel, rechter Hand flankiert vom Wohnturm, der den ‚Palas' schon überragt. Auf der obersten Turmetage steht eine Art riesiges Hamsterrad - ein mittelalterlicher Lastenaufzug. Gehämmert und gemauert wird auch an den beiden Ecktürmen, links und rechts des Hofs zu Füssen der Burg.

    Am Scheunenausgang lehnt ein hoch aufgeschossener Mittfünfziger, mittelalterlich gewandet: hüftlanger heller Leinenkittel mit dickem Ledergürtel, eine weite Hose aus grobem Webstoff. Thierry Müller hat es aus dem Elsass nach Guédelon verschlagen. Hier, im aufgelassenen Steinbruch, wird seit 1997 eine Ritterburg aus dem 13. Jahrhundert nachgebaut. Originalgetreu, mit denselben Baumaterialien, denselben handwerklichen Gesten und Werkzeugen wie damals. Als Steinmetz heuerte Thierry Müller vor einem Jahrzehnt hier an, nun erklärt er Touristen das Guédelon-Projekt.

    "Unser Projekt ist eine Burg aus Stein, hundert Prozent Stein. Das wiegt so viel wie 60.000 Tonnen Material, fast nur Stein. Dafür bräuchten wir einen, wie heißt das wieder, einen Steinbruch! Ja, darum sind wir hier, weil hier war ein verlassener Steinbruch, verlassen seit mehr wie 50 Jahren. Das sieht gar nicht aus wie saubere Felsen, ready to use, wie die Engländer sagen, das sieht aus wie ein Stück Wald hier, überhaupt hier in der Bourgogne. Da wächst es gut, es wächst ganz gut, weil es regnet fast jeden Tag. Wir sind fast wie in Irland. Und was hier wächst, ist Eiche; also dieser Wald war fast wie ein Geschenk. Jeden Baum haben wir gesehen als eine Balke."

    Jeder Baum ein potenzieller Balken. Für Gerüste, fürs Dachgebälk, für die Kamine. Auf dem Terrain von sieben Hektar finden sich außerdem Sandstein und Lehm, Rohstoffe für den Mörtel. Nur der Löschkalk wird aus Sicherheitsgründen andernorts gewonnen. Ausgerechnet im Vorhof der Burgenbaustelle spürte der Wünschelrutengänger eine Wasserader auf. Tonerde kam zufällig im Eichenwäldchen ans Tageslicht. Die Ziegel auf dem "Palas"-Dach, die Kacheln für die künftigen Fußböden: allesamt made in Guédelon, erzählt Thierry Müller stolz:

    "Das ist das Wunder hier, - wir sind nicht autark, aber wir haben fast alles unter der Hand, wie man sagt, in Französisch: sous la main. Aber es ist noch nicht fertig, hier dieser Sandstein ist Eisensandstein. Das heißt, es sind Oxide drin und viel Erze, so was. Also manche Steine, die sind so hart, dass der Steinbrecher nichts mehr damit machen will, das ist zu hart, das macht die Werkzeuge kaputt. Wenn der Schmied das gehört hat, was, soviel Eisen, quasi dreißig Prozent in einer Schicht von unserem Steinbruch - dann sagt er: Jo, ich kann damit was machen. Von zwölf bis fünfzehn Kilo von diesen Steinen, in kleinen Stücken, daraus kann man ziehen bis zu einem Kilo Eisen. Wir wollten Eisen machen wie im Mittelalter. Und das geht."

    Nun, nichts geht unbedingt auf den ersten Schlag. Davon kann Maryline Martin ein Liedchen singen. Im Färberhaus, einer groben Holzhütte inmitten des Handwerkerdorfes im Wäldchen, rechts von der Burg, beäugt die sportliche 53-Jährige gerade Ockerpigmente, gewonnen aus einer Erdschicht neben dem Steinbruch. Sämtliche Farben, die in Guédelon benötigt werden, für Textilien, für Wandmalereien, werden aus lokalen Pflanzen, Mineralien, Erden selbst hergestellt. Maryline Martin spielt in Guédelon das Burgfräulein: Sie leitet das Projekt.

    "Wenn es ein Leitwort in Guédelon gibt, dann wohl Folgendes: Lasst uns neugierig sein und einfach alles ausprobieren. Und wenn wir scheitern, dann macht das auch nichts. Ganz im Gegensatz zu unserer heutigen Gesellschaft, wo immer alles auf Anhieb gelingen muss. Wenn wir mal wieder gescheitert sind, versuchen wir einfach, die Gründe dafür zu finden und es beim nächsten Mal besser zu machen. Und wir haben sehr viel Gelegenheit, zu üben.

    Wir haben vom Projektstart an auch beschlossen, jedes Problem hier selbst zu lösen. Beispielsweise wurden eines Tages Reisigbündel gebraucht und jemand meinte: Da müssen wir losfahren und Seile kaufen, um die Reisigbündel zu schnüren. Ich sagte: Nichts da - wir nehmen Lianen, Brennnesseln oder was auch immer als Seile, die stellen wir hier selber her. Und wenn man mal damit anfängt, stellt sich heraus: für alle Probleme gibt es eine lokale Lösung."

    Neugier, ein offener Geist, eine gute Beobachtungsgabe allerdings würden kaum ausreichen beim Projekt, eine Ritterburg originalgetreu nachzubauen. Das Guédelon-Projekt basiert auf einer Art Drehbuch, an dem Wissenschaftler, Burgenexperten, Mediävisten, mitschrieben. Der Bauplan der Burg stammt aus der Feder des Chefs der französischen Denkmalschutzbehörde. Projektinitiator Michel Guyot, Besitzer eines tausend Jahre alten Schlosses, klapperte zwei Jahre lang im Land alle Burgen aus dem 13. Jahrhundert ab, um sie detailliert zu erfassen. Die Annalen der Region wurden durchforstet, um den virtuellen Burgherrn historisch getreu zu erschaffen. Guilbert von Guédelon, ein kleiner Adliger, der in die regionale Herrscherfamilie einheiratet. Dann begann das eigentliche Abenteuer: eine Baustelle so zu errichten, wie sie vor einem knappen Jahrtausend ausgesehen haben mag. Guyot und seine Mitstreiter wälzten aktuelle wissenschaftliche Schriften und Stundenbücher aus dem Mittelalter. Studierten die Kathedralenfenster in Chartres, auf der Suche nach Abbildungen von Werkzeugen, von Handwerkern bei der Arbeit. Bei der Grundsteinlegung, 1997, wurde die Uhr im Steinbruch im Burgund konsequent zurückgestellt: auf das Jahr 1228. Mittlerweile schreibt man das Jahr 1244, in zwölf Jahren soll die Burg fertig sein.

    Die Baustellenleitung obliegt Florian Renucci. Er studierte Kunstgeschichte und Archäologie und arbeitete Jahre auf dem Bau im Bereich Denkmalschutz. Das Guédelon-Projekt sei eine einmalige Herausforderung, sagt Renucci:

    "Um die Arbeitsgesten der Vergangenheit wiederzufinden, müssen wir die Reflexe des 20. Jahrhunderts ablegen. Das ist das Schwierigste. Unsere Ausbildung hat uns einfach formatiert, was die Arbeitstechnik anbelangt. Nehmen wir mal den Steinmetz: In der heutigen Ausbildung wird uns beigebracht, dass ein sauber gehauener Stein glattgehauen zu sein hat, perfekt gradlinig und über und über mit Schlägen verziert. So etwas gilt seit dem 18. Jahrhundert als gute Arbeit. Mit dieser Philosophie allerdings sind wir in Guédelon ein bisschen aufgelaufen.

    Wir haben uns anfangs bemüht, die Steine so glatt und sauber wie möglich zu schlagen. Allerdings haben uns die Grundmauern der Burgkapelle eine ganze Arbeitssaison gekostet. Und wir waren auf dem besten Weg, die Bauzeit um das Drei - oder Vierfache auszudehnen. Als wir uns daraufhin die realen Burgenvorbilder nochmals anschauten, wurde uns bewusst, dass dort längst nicht alle Steine perfekt geschlagen sind. Beim Mauerwerk werden vielmehr grob gehauene Steine verwendet, um Arbeit zu sparen. Dekorativ ausgearbeitet hingegen sind die Fenstersteine, die Kamine. Die gelten als Luxus. Ein bisschen dekorativer Luxus ist erwünscht, aber bei all dem darf man die wirtschaftliche Tragbarkeit der Baustelle nicht aus dem Auge verlieren."

    Die Steinmetze residieren zu Füssen der Burg, unter einem großflächigen Sonnensegel. Einige Brocken aus dem Steinbruch einige Meter weiter liegen herum, die Luft ist staubgeschwängert. Ein halbes Dutzend Männer und eine Frau, alle mittelalterlich gewandet, sind bei der Arbeit. Vorarbeiter Matthieu, Ende dreißig, Pferdeschwanz, kniet vor einem mächtigen weißen Mühlstein und meißelt Ausbuchtungen um das Mittelloch: für die vierzackige Haue, die den Mahlstein hält und die der hiesige Schmied anfertigte. Daneben steht eine junge Frau in Jeans und T-Shirt: Sie greift immer wieder zum Fotoapparat, um jede Geste von Matthieu zu dokumentieren. Stéphanie Lepareux-Couturier kommt vom INRAP, dem nationalen Institut für archäologische Rettungsgrabungen, die Wissenschaftlerin ist spezialisiert auf historische Mühlsteine:

    "Der Mühlstein hier ist aus einem sehr harten Material gefertigt, einem Silex, der aus dem Pariser Becken stammt. Wir wissen, dass dieser Silex Ende des 19. Jahrhunderts in jeder zweiten Mühle in der Welt zum Einsatz kam, von den Vereinigten Staaten über Australien bis hin nach Neuseeland. Und wir haben schon mehrmals Reste davon in Mühlen aus dem 13. Jahrhundert gefunden. Dieser sehr harte Stein ist bekannt dafür, dass er keinen Quarzstaub im Mehl hinterlässt. Es heißt, dass ein Paar solcher Mühlsteine eine ganze Generation lang überdauerte."

    Der Mahlstein, den Matthieu bearbeitet, wird in der derzeit im Bau befindlichen Mühle von Guédelon zum Einsatz kommen. Die Teamarbeit zwischen der Archäologin und dem Steinmetz, der auf Müller umsatteln will, wird somit auf Jahre hinaus weitergehen. Die Wissenschaftlerin bringt ihre Forschungsergebnisse ein, der Handwerker die Erkenntnisse der alltäglichen Nutzung.

    "Das Guédelon-Projekt ist insofern einmalig, als wir hier die gesamte Kette im Leben eines Mahlsteins verfolgen können. Wir Archäologen müssen uns ja normalerweise mit dem Ende der Kette zufriedengeben, wir finden bei Grabungen zumeist nur das kaputte, weggeworfene Werkzeug. Hier aber war ich von Anfang an dabei, als der Silexblock aus dem Steinbruch gehauen wurde, ich habe gesehen, wie er mit welchen Werkzeugen gefertigt wurde. Und ich kann ebenso verfolgen, wie er sich beim täglichen Gebrauch abnutzen wird."

    Der Steinbruch im Burgund dient als Bühne für ein Freiluftlabor - in Lebensgröße. In dem experimentelle Archäologie betrieben wird, im Rahmen eines das gesamte mittelalterliche Burgbauwesen umfassenden Gesamtkonzepts. Und dies ist weltweit einmalig.

    Vor der Steinmetz-Werkstatt, von einer Kordel abgetrennt, recken zahllose Touristen die Hälse. 360.000 Besucher zählt Guédelon jährlich. Dank der Erlöse aus den Eintrittskarten, aus Souvenirshop und Restaurant finanziert sich die Baustelle heute selbst. In der strukturschwachen Region hat das Projekt 70 Arbeitsplätze geschaffen, darunter für 50 Handwerker. Die auch mit Engelsgeduld Touristen Auskunft geben. Gerade erklärt Ralf Scharnagl einem Zaungast seine Arbeit. Scharnagl ist ein sogenannter Erbauer, einer von rund 700 ehrenamtlichen Helfern in Guédelon. Seit fünf Jahren arbeitet der Deutsche in den Sommerferien regelmäßig ein, zwei Wochen als Steinmetz mit.

    "Weil es mich an meinen alten Beruf ziemlich nah heranbringt. Also ich bin gelernter Stuckateur und Kunsthistoriker. Und hier verbindet sich halt beides, Kunstgeschichte und Handwerk. Und ich finde es faszinierend, dass hier Sachen so gebaut werden wieder, wie sie ursprünglich gebaut wurden. Also auch die Wissenschaftlichkeit hinter dem Ganzen finde ich einfach klasse."

    In Deutschland war Scharnagl zwanzig Jahre auf dem Bau als Restaurator. Dann musste er den Job wechseln: Beim Tempo, dass die Maschinen vorgaben, kam er nicht mehr mit. In Guédelon jedoch bestimmt er selbst den Härtegrad seiner Arbeit. Und es bleibt immer Zeit zum Fachsimpeln mit anderen Experten, die aus der ganzen Welt zum Burgbau ins Burgund kommen. Ein ganzes Jahr lang wurde beispielsweise an der richtigen Mischung für den Mörtel getüftelt. Scharnagel:

    "Der Brennofen, der im Handwerkerdorf steht, wurde dreimal gebaut. Weil niemand mehr wusste, wie baut man so einen Ofen. Es gibt zwar die eine oder andere Buchmalerei, aber die zeigt natürlich nur das Äußere, die zeigt nicht, wie ist der Ofen innen aufgebaut, wie muss er befeuert werden oder so was. Der wurde dreimal gebaut. Bis er jetzt wirklich.., er funktioniert, seit Jahren jetzt. Die Gewölbe, die Kreuzgrat-, Kreuzrippengewölbe - ... sind die Ersten seit Jahrhunderten, die gebaut worden sind. Das war nicht sicher, ob die nicht einstürzen, es war ein echtes Experiment. Mittlerweile..- sie wissen, aha, so wird das gebaut, so muss das gemacht werden. Und jeder, der an so einem Gewölbe mit gebaut hat, kann heute europaweit Gewölbe bauen, kann es Leuten zeigen. Das ist ein wiederentdecktes Wissen, das verloren gegangen war."