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Schwerpunktthema: Deutschland wächst wieder

Deutschlands Bevölkerung nimmt wieder zu: Hunderttausende strömen als Arbeitssuchende in die Bundesrepublik. Zudem prognostizieren Wissenschaftler eine steigende Geburtenrate. Während Optimisten hoffen, den demografischen Wandel stoppen zu können, bleiben Statistiker realistisch.

Von Ingeborg Breuer | 18.04.2013
    "Wir haben in den letzten zwei Jahren wieder eine Bevölkerungszunahme gehabt, im Jahr 2011 und voraussichtlich auch im Jahr 2012, wobei uns da noch keine endgültigen Ergebnisse vorliegen. Die Bevölkerung hat zugenommen, um mehrere 100.000. Wir schätzen, dass wir ungefähr auf die 82 Millionen kommen werden."

    Bettina Sommer, Referatsleiterin für den Bereich Demographie am Statistischen Bundesamt in Wiesbaden, informiert über einen erstaunlichen Trend. Vor dem Jahr 2011 schrumpfte die Bevölkerung in Deutschland über Jahre. Doch seit zwei Jahren trotzt Deutschland dem demografischen Wandel. Nicht allerdings, weil es eine Babyboom gäbe. Es sind vielmehr Hunderttausende von Zuwanderern, die als Arbeitssuchende in die Bundesrepublik strömen.

    "Wir haben eine starke Zuwanderung aus Europa. Wenn ich mir das Jahr 2011 ansehe, dann hatten wir einen Wanderungsgewinn aus Polen von rund 66.000 Personen, aus Rumänien von 36.000 und von Bulgarien 22.000 und dann kommen aus Ungarn ungefähr 17.000. Daneben haben wir stärkere Zuwanderungen aus den südeuropäischen Ländern, die von der Finanzkrise besonders betroffen sind … Aus den Krisenstaaten Griechenland waren's 14.000 oder aus Portugal 3000 Personen."

    Über das Bildungsniveau der Neuzuwanderer erhebt das Statistische Bundesamt keine Daten. Ob es also – was durchaus zu vermuten ist – auch die sogenannte "Armutsmigration" aus Osteuropa ist, die Deutschland wachen lässt, geben die Statistiken nicht her. Es gibt aber Studien, die darauf hinweisen, dass auch zunehmend höher qualifizierte Menschen nach Deutschland einwandern. Wie zum Beispiel Rolandas aus Litauen:

    "Litauen ist Europas Peripherie und ich will mich probieren in großem Markt. Ich will hier leben und arbeiten und besser Chancen finden. Arbeit in meinem Fach nach dem Studium. Marketing."

    Rolandas Puolis besucht einen Sprachkurs der Fachhochschule Köln. Er lernt Deutsch, um hier seinen Master in BWL zu machen. Auch einige seiner Mitstudenten wissen jetzt schon, dass sie nach dem Studium in Deutschland bleiben wollen. Zum Beispiel Dae-Ro Won aus Korea:

    "Ich möchte in Deutschland arbeiten und bleiben. Ich denke, in Korea ist es auch gut, aber ich möchte in Ausland arbeiten, weil in Deutschland gibt es viele gute Autos. Ich mag Autos sehr. Ich möchte Fahrzeugtechnik studieren."

    Immer mehr ausländische Studenten zieht es nach Deutschland. Fast jeder zehnte Studierende hat mittlerweile einen ausländischen Pass, am häufigsten einen chinesischen, türkischen oder russischen. Rund ein Viertel dieser Studenten entscheidet sich für ein Ingenieurstudium – der entsprechende Abschluss ist in Deutschland bekanntlich Mangelware. Prof. Dr. Axel Plünnecke, Stellvertretender Leiter für Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln:

    "Das hat Bedeutung, denn gerade die Zahl der Studierenden aus dem Ausland hat in Deutschland deutlich zugenommen. Und das ist eine wichtige Chance, dieses Potential für den deutschen Arbeitsmarkt zu erschließen. Wir beobachten auch, dass die Zuwanderer, die über die deutschen Hochschulen kommen, am Arbeitsmarkt sehr gut Fuß fassen, gleiche Einkommensperspektiven haben wie heimische Absolventen und sich am Arbeitsmarkt gut einfädeln."

    Ausländische Studenten sind gut ausgebildet und mit Deutschland und der deutschen Sprache vertraut. Sie gelten als die ideale Gruppe, um den sich abzeichnenden Fachkräftemangel in Deutschland zu beheben. Denn in den letzten zehn Jahren kam es zu einem Kurswechsel in der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Als im Jahr 2000 die sogenannte "Greencard" eingeführt wurde, mit der IT-Fachleute aus Nicht-EU-Ländern in die Bundesrepublik geholt werden sollten, wurde dies von der CDU noch mit dem Slogan "Kinder statt Inder" konterkariert. Doch seit August 2012 gibt es in Deutschland die sogenannte "BlueCard". Die bürokratischen Hürden für qualifizierte Ausländer aus Nicht-EU-Staaten, die hier arbeiten wollen, sind deutlich gesenkt worden. Flankierend startete die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit dem Institut der deutschen Wirtschaft eine Kampagne "Make it in Germany", ein "Willkommensportal" für ausländische Fachkräfte. Motto: "Deutschland sucht Sie!"

    "Was seit den Änderungen im August letzten Jahres zu beobachten ist, ist, dass auch die Zahl der blauen Karten, der Zuwanderer aus Drittstaaten, zunimmt. Das ist deshalb besonders wichtig, weil wir auch in Europa generell bei unseren bisherigen Zuwanderungsländern demografische Probleme haben, niedrige Geburtenraten, sodass diese Zuwanderungsländer auf Dauer für Deutschland strategisch nicht ausreichen dürften. Wir müssen auch versuchen in Ländern attraktiv zu werden, die hohe Geburtenraten haben, die auf Dauer auch für Deutschland wichtig sein könnten. Daher Indien, Indonesien, wichtige Zielländer, wo man versucht, auch gerade mit dem Portal 'Make it in Germany' Interessenten zu gewinnen."

    Das Werben um Fachkräfte, so eine aktuelle Studie des Wiesbadener Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, habe dazu geführt, dass sich das Profil der Zuwanderer verändert hat. Andreas Ette vom Fachgebiet Migration des Wiesbadener Instituts:

    "Das ist einer der zentralen Befunde unserer Studie, dass sich das Profil heutiger Neuzuwanderer von denen früherer Zuwanderungswellen deutlich unterschiedet, gerade was Herkunftsländer, aber auch Qualifikation betrifft."

    Deutlich erhöht hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre die Zahl der Migranten mit einem akademischen Bildungsabschluss:

    " In den Jahren 1996/97 wanderten auf Basis unsere Studie etwa 31000 Personen mit tertiärem, also Hochschulbildungsabschluss zu. Und der Wert hat sich verdoppelt, er lag 2011 bei 58.000. Schaut man sich das in Relation an, dann ist das Qualifikationsniveau der Zuwanderer angestiegen. Jeder zweite Zugewanderte im erwerbsfähigen Alter hatte einen akademischen Bildungsabschluss. Bei den Deutschen hat nur jeder Vierte einen akademischen Bildungsabschluss."

    Und ein weiteres Ergebnis der Studie: Aufgrund des höheren Qualifikationsniveaus sind zumindest die männlichen Neuzuwanderer auch schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren:

    "Schaut man sich den Vergleich an, 96/97 und 2010/11 dann zeigt sich, dass die Arbeitsmarktintegration der ausländischen Männer deutlich gestiegen ist. Lag sie 1996 noch bei 22 Prozent, dann können wir heute von 53 Prozent sprechen."

    Optimistisch könnte man meinen, die positiven Zuwandererzahlen würden nicht nur dazu beitragen, den Fachkräftemangel, sondern auch die demografischen Probleme Deutschlands zu mildern. Doch anders als bei den Migrationsströmen der 90er-Jahre, als Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge sich dauerhaft in Deutschland niederließen, ist die Mobilität bei den akademisch Qualifizierten hoch. Zudem kommen zunehmend junge Menschen aus den Euro-Krisenländern, die wieder zurück wollen, wenn die Krise ausgestanden ist. Wie zum Beispiel Pablo aus Spanien:

    "Ich arbeite schon in Deutschland. Aber ich will nicht mein ganzes Leben in Deutschland bleiben. Die größte Grenze ist die Sprache."

    Und so manch einer mag sich doch nicht so erwünscht in Deutschland fühlen, wie es das Willkommensportal "Make it in Germany" glauben macht. Yassine Rochdi aus Marokko will Elektrotechniker werden. Doch obwohl Deutschland bessere Berufschancen als sein Heimatland bietet - dauerhaft hier zu leben, kann er sich nicht vorstellen:

    "Deutschland ist schön, aber vielleicht muss man nach seinem Land zurückgehen. Ich habe schon mit vielen Leuten gesprochen und sie haben mir gesagt, dass man hier immer bleibt Ausländer."

    Dringend müsse deshalb, so Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft, daran gearbeitet werden …

    " … Deutschland attraktiv darzustellen, Arbeitsplatzangebote zu machen, damit zunehmend junge Menschen Deutschland als attraktiven Arbeitsplatz auch wahrnehmen. Und dazu gehört auch, die Willkommensstruktur zu stärken, was Behördengänge angeht, alles, was um den Arbeitsplatz herum wichtig ist, dort besser, freundlicher, attraktiver zu werden. Was auch die Vermittlung der deutschen Sprache, Kultur angeht, da sind Strukturen zu stärken, miteinander zu vernetzen, sodass man den Weg möglichst einfach macht für Zuwanderer. Denn die gesetzlichen Regelungen sind eigentlich sehr attraktiv."

    Doch selbst wenn es bei einer dauerhaft hohen Zuwanderung nach Deutschland bliebe, so Bettina Sommer vom Statistischen Bundesamt, wird dies an unserer zukünftigen Bevölkerungskurve kaum etwas ändern:

    "Wir haben dieses Geburtendefizit schon seit vielen Jahren und wir haben eine alternde Bevölkerung. Es gibt sehr viele Menschen im mittleren Alter in Deutschland, und die werden ja auch älter und irgendwann sterben, sodass die Zahl der Sterbefälle die der Geburten überwiegen wird. Und selbst eine hohe Wanderung verhindert unsere Alterung nicht, sondern bremst die ein bisschen."

    Zur Veranschaulichung: Zur Zeit kommen in Deutschland auf Hundert Menschen zwischen 20 und 65 Jahren 34 über 65-Jährige. Bei einem jährlichen Zuzug von 30.0000 Migranten kommen im Jahr 2050 auf 100 Jüngere 56 Alte. Wir bleiben also eine alternde Gesellschaft. Und was, wenn die Geburtenraten in Deutschland wieder anziehen, wie eine Pressemeldung des Max-Planck-Instituts für Demografie in Rostock kürzlich meldete? Dort hieß es nämlich: "Endgültige Geburtenraten werden steigen - Die Zeit sinkender Kinderzahlen pro Frau … geht zu Ende - auch in Deutschland". In Zukunft werde die Geburtenrate bei annähernd 1,6 Kindern pro Frau liegen. Prof. Michaela Kreyenfeld vom Max-Planck-Institut Rostock:
    "In der Vergangenheit hat man Schätzmethoden verwendet, wo man gesagt hat, die Frauen, die jetzt 40 sind, die kriegen genauso viel Kinder wie die Frauen, die letztes Jahr 40 geworden sind. Und das ist eine sehr konservative Methode, weil man nicht berücksichtigt, dass die Frauen auch in höherem Alter mittlerweile noch Kinder bekommen. Meine Kollegen haben da eine Methode entwickelt, dies diesen Trend versucht fortzuschreiben, und wenn man diesen positiven Trend fortschreibt, den wir in den meisten Ländern erkennen, dann sieht man ganz klar einen positiven Trend Richtung steigender Fertilität."

    Manch einer mag sich da verwundert die Augen reiben. Hatte das Statistische Bundesamt nicht noch für 2012 einen "leichte(n) Rückgang der Geburtenziffer auf 1,36 Kinder je Frau" berechnet? Die Sache ist kompliziert. Denn das Statistische Bundesamt veröffentlichte die sogenannte "Periodenfertilität". Diese zählt zusammen, wie viele Kinder von Frauen zwischen 15 und 49 Jahren zum Beispiel im Jahr 2012 geboren worden sind. Doch nicht berücksichtigt wird bei dieser Zahl, dass gerade in westlichen Ländern Kinder immer später geboren werden. Deshalb dürfte die "Periodenfertilität" die tatsächliche Zahl der Kinder pro Frau unterschätzen. Dieser aber versucht sich das Max-Planck-Institut mit einer anderen Rechnung anzunähern:

    "Diese Probleme mit der jährlichen Geburtenzahl, die ja deutlich bekannter ist als andere Geburtenraten, die ist in die Kritik geraten und Forscher haben zunehmend nach Frauenjahrgängen berechnet, das ist für die Jahrgänge, die jetzt mit dem Kinderkriegen fertig sind. Der Jahrgang 1965, für den können wir mit Sicherheit sagen, wie viel Kinder der bekommen hat in Deutschland und in anderen Ländern. Und der ist nicht verzerrt. Für den Jahrgang 1968 haben wir 1,5 Kinder pro Frau und es deutet sich an, dass er eher Richtung 1,6 steigen wird."

    Das Statistische Bundesamt allerdings fühlt sich missverstanden. Man könne, meint Olga Pötzsch, Diplom-Ökonomin, beide Zahlen nicht miteinander vergleichen:

    "Wir vergleichen da Äpfel mit Birnen. Das heißt, wenn man die Vergleiche zum Statistischen Bundesamt ziehen möchte, dann sollte man die Kohortenfertilität mit der Kohortenfertilität vergleichen. Das, was hier gemacht worden ist, ist ein Versuch zu schätzen, wie wäre denn die endgültige Kinderzahl der Frauen, die jetzt aktuell 35 Jahre alt sind? Und mit einem anderen Ansatz haben wir auch versucht, diese endgültige Kinderzahl der jetzt 34-jährigen Frauen zu schätzen. Und hier kommen wir zu praktisch gleicher Schätzung. 1,58 für Osten und für Westen liegen wir etwas konservativer, 1,54."

    Dass die Geburtenraten in Zukunft wieder steigen, vermag Olga Pötzsch aber im Gegensatz zu den Demografen vom Max-Planck-Institut nicht zu prognostizieren:

    "Im Grund haben wir eine Stagnation, das ist das Niveau, was wir jetzt haben. Und ich sehe hier keine Tendenz nach oben und es ist genauso wahrscheinlich, dass nach oben geht wie nach unten."

    Doch auch wenn die Geburtenzahlen leicht zunehmen würden, würde auch dies nicht zu einer Kehrtwende führen. Bettina Sommer rechnet vor: Die Zahl der Alten wird im Verhältnis zu den Jüngeren immer weiter steigen:

    " Wir haben ja gerechnet mit diesen 1,4 als auch mit den 1,6 Kindern pro Frau. Und mit der Annahme 1,4 Kinder pro Frau und jährliche Zuwanderung von 200.000 haben wir für das Jahr 2060 einen Alterungskoeffizienten von 63 Personen über 65 je Hundert zwischen 20 und 65 zu erwarten. Und wenn wir 1,6 Kinder ansetzen, ergibt das einen Altenkoeffizienten von 60, also kein so gravierender Unterschied. Es ist eine Verbesserung, wenn mehr Kinder geboren werden, aber auch das würde sich nicht gravierend auf die Bevölkerungsentwicklung der nächsten Jahrzehnte auswirken. Aus den Verhältnissen, die nun mal gegeben sind, kommt Deutschland in den nächsten Jahren nicht heraus."