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Schwerpunktthema: Die Faszination der Macht

Macht kann missbraucht werden und zerstörerisch wirken. Aber zugleich ist sie unerlässlich, um Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu gestalten, sagen Wissenschaftler. Macht - ein ambivalentes Phänomen.

Von Ingeborg Breuer | 20.06.2013
    "Also zum einen ist auffallend, dass es in Deutschland ganz besonders schwierig ist, über das Thema Macht zu sprechen. Das hat natürlich naheliegende Gründe, die mit unserer Vergangenheit zu tun haben."

    "Entweder wird sie idealisiert, wir brauchen den starken charismatischen Führer. Oder, auf gar keinen Fall sollte man Macht haben und alles sollte egalitär sein. Beides funktio-niert nicht."

    "Im politischen Geschäft, wenn da jemand zu erkennen gibt, dass er keine Macht er-strebt, dem traut man auch nicht zu, dass er sich durchsetzen kann, dass er Interessen vertreten kann."

    Wie ist Macht zu bewerten? Gut oder schlecht? Als Fluch oder Segen? Gehört das Streben nach Macht zur menschlichen Natur – oder ist ein solches Streben Ausdruck einer gesell-schaftlichen Fehlentwicklung? Anders als in der angelsächsischen Welt, wo das Wort "Power" Macht und ebenso Kraft bedeutet, verbindet man in Deutschland gewöhnlich mit Macht nichts Gutes. Menschen, die sie von Berufs wegen ausüben, sind oft unbeliebt und vielen suspekt. "Keine Macht für niemand" – sangen Ton Steine Scherben in den Siebziger Jahren. Die deutsche Rockband träumte von Anarchie im Wortsinn – von einer Gesellschaft, in der Herrschaft abwesend ist, von einer Gesellschaft der Gleichen.

    "In diesem Lied von Ton Steine Scherben, da steckt ja eine doppelte Verneinung, dass man nämlich auf keinen Fall Macht möchte. Und nun kann man darüber spekulieren, ob es eine Gesellschaft gibt, in der es keine Machtausübung gibt."

    Prof. Andreas Anter veröffentlichte im vergangenen Jahr ein Buch über "Theorien der Macht". Es gebe, meint der Politikwissenschaftler an der Universität Erfurt, keine Gesell-schaft, die ohne Machtausübung funktioniert.

    "Die Erfahrungen sprechen dagegen, weil immer dann, wenn man es versuchte, sich zeigte, dass das Gegenteil dabei herauskam, nämlich eine diktatorische und tyrannische Form des Zusammenlebens. Das heißt nicht, dass man das nicht im privaten Leben versuchen kann, Macht zu minimieren oder ohne Macht auszukommen. Aber es ist eben keine Option für große Verbände, politische Gemeinschaften, da ist es eher unwahrscheinlich."

    Macht, so Andreas Anter, sei ein unausweichliches Element menschlichen Handelns und menschlicher Beziehungen. Wann immer Menschen zusammenkommen, entstehen soziale Gefüge, die auch Machtbeziehungen enthalten. Und auch auf einem Kolloquium zum Thema Macht, das Anfang Juni in Berlin stattfand, waren sich die Teilnehmer einig: Natürlich ist Macht ambivalent. Sie kann missbraucht werden und zerstörerisch wirken. Aber zugleich sei sie unerlässlich, um Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu gestalten. Um "Akteur" zu sein, brauche man Macht, so Prof. Fritz Simon, Organisationspsychologe an der Universität Witten Herdecke.

    "Immer da, wo es schwer ist, wo Fragen unentschieden sind, wo man sich nicht leicht einigt, da muss entschieden werden. Wie immer man das macht, muss man sagen, ok, wir stehen an einer Wegkreuzung und wir wissen nicht, was der richtige Weg ist. Dann muss man handlungsfähig sein und nicht da stehen, sondern losmarschieren. Das heißt, Konsens ist nicht nötig, sondern eine Akzeptanz der Macht."

    Wer Möglichkeiten besitzt, das Denken und Handeln anderer zu beeinflussen und die eigenen Vorstellungen und Ziele durchzusetzen, besitzt Macht. Macht bringt andere dazu, ihr Verhalten zu verändern – auch gegen ihre eigenen Überzeugungen. Prof. Hans Maull, Politikwissenschaftler und Veranstalter der Berliner Tagung:

    "In der Sache gibt es das berühmte Diktum von Max Weber: Was ist Macht? Die Fähigkeit, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen."

    In Berlin ging es vor allem um die Fragen, ob es zu viel, aber ebenso, ob es zu wenig Macht geben könne. Beides nämlich kann die gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten lähmen.

    "Aus meiner Definition ist Macht eine Möglichkeit, Konflikte zu beenden, für Entscheidungen zu sorgen, und sie durchzusetzen. Und ob wir genug davon haben oder nicht, merkt man daran, ob es gelingt, Entscheidungen zu treffen und auch durchzusetzen. Wenn über Jahre keine Entscheidungen getroffen werden und das Folgen hat, dann wird man sagen, wir hatten nicht genug davon. Und wenn Entscheidungen getroffen werden, zu schnell, zu viele, die dann nicht durchgesetzt werden können, weil, wie in der Türkei, das Volk nicht mehr mitspielt, dann hat man zu viel davon."

    Den Beginn des abendländischen Nachdenkens über Macht datiert man gewöhnlich bei dem antiken griechischen Geschichtsschreiber Thukydides. Zweifellos beschreibt er ein Zuviel an Macht, wenn er das politische Geschehen als einen quasi naturgesetzlichen, unerbittlichen Machtkampf schildert, in welchem sich der Stärkere behauptet. Zur Zeit des Peloponnesischen Krieges vor nahezu 2500 Jahren belagerte die Großmacht Athen in ihrem Krieg gegen Sparta die kleine Insel Milos, um sie zur Aufgabe ihrer Neutralität zu zwingen. Die Bürger von Milos aber wollten sich nicht einmischen.

    "Dann sagen die Athener, es war schon immer so, dass der Mächtige nimmt, was ihm zusteht. Und Thukydides beschreibt den Dialog und er beschreibt auch, was passiert. Die Athener töten alle Männer und die Frauen und Kinder werden als Sklaven verkauft. Die Athener sagen, gut, es liegt im Wesen des Menschen, dass der Mächtige sich nimmt, was ihm zusteht."

    Bereits Platon allerdings widersprach diesem unbedingten Recht des Stärkeren und wollte politisches Handeln dem Ideal der Gerechtigkeit unterstellen. Und einem höheren Ziel diente nach Thomas Hobbes auch die absolute Macht des Staates. Zwar stellte der englische Philosoph die Staatsmacht als "Leviathan", als schreckliches, furchterregendes Ungeheuer vor. Doch nur so könnten die Untertanen voreinander geschützt werden, die sich sonst wie Wölfe zerfleischen würden. Hobbes, der entscheidende Machttheoretiker der Moderne, "erfand" zur Zeit der Religionskriege im 17. Jahrhundert das Ge-waltmonopol des Staates.

    "Sein Plädoyer ist, eine neutrale Instanz zu schaffen, die den unentscheidbaren Krieg um die Wahrheit des Glaubens beendet. Und jeder muss sich dieser Macht unterwerfen, sonst funktioniert das Spiel nicht. Und da gibt es etwas Neues, diese moderne Theorie des modernen Staates, der die Gewalt monopolisiert. Und dem ist eigentlich egal, was die Leute glauben, solange sie nur gehorchen."

    Dass der Staat selbst aber einer Grenze bedarf, um nicht zur Willkürherrschaft zu entarten, war die Idee, die im politischen Denken der Aufklärung entstand. Deshalb muss sich die Macht, so die Konsequenz, selbst einer Verfassung unterwerfen. Zudem bedarf es der Verteilung der Staatsgewalt auf mehrere unabhängig voneinander agierende Staatsorgane. Und so entwickelte sich der Rechtsstaat als Antwort auf die Machtkonzentration im absolutistischen Staat.

    "Man kann den parlamentarischen Verfassungsstaat nur als Kunstwerk bewundern, weil es ganz unwahrscheinlich ist, dass eine solche Struktur entsteht, wo die Machtstrukturen schon ausbalanciert sind in Form von Grundrechten und Gewaltenteilung und da würde man sagen, da hat sich so etwas wie Machtkontrolle schon so etabliert, dass es schwer ist, sich vorzustellen, dass ein Diktator das von heute auf morgen ändern könnte."

    In modernen Zivilgesellschaften kommt die Macht sozusagen auf Samtpfoten daher. Autoritärer Einsatz von Macht steht der Idee der Menschenwürde und der Gleichheit entgegen. Es kommt zu einer "Minimalisierung von Herrschaft", so stellte schon der Soziologe Max Weber fest, die damit einhergehe, dass "Konsens" eingefordert wird. Einigung durch den Dialog aller, statt hierarchischer Entscheidung. So stimmen etwa die Mitarbeiter dem Chef – nach außen zumindest – nicht zu, weil er der Chef ist, sondern weil er den besten Vorschlag zum Vorankommen der Firma gemacht hat. So wird der Vorschlag eines Mitarbeiters – offiziell – nicht etwa abgelehnt, weil er tiefer auf der Hie-rarchie steht, sondern weil er für die Organisation nicht zielführend ist. Oft allerdings, so der Politikwissenschaftler Hans Maull mit ironischem Unterton, handelt es sich dabei aber nur um Scheinkonsense.

    "Es ist zumindest eine lohnende Gedankenübung, sich zu fragen, in welchem Ausma-ße das, was in Unternehmungen Konsens genannt wird, in Wirklichkeit Fiktionen sind."

    Solche "Konsensfiktionen" können zwar in Konfliktsituationen durchaus stabilisierend wirken. Ebenso allerdings können sie Ausdruck einer zunehmenden Erosion von Macht sein, die zur Behinderung eines effizienten Handelns führe. Statt des Ideals eines rationalen "Ausdiskutierens" von Problemen, das schließlich zu einem von allen Beteiligten getragenen Konsens führe, plädiert Maull deshalb für einen "erwachsenen" Umgang mit der Macht.

    "Also auch zu akzeptieren, dass es in bestimmten Entscheidungssituationen keinen Konsens geben kann und jemand die Aufgabe hat, das zu entscheiden und dass andere die Aufgabe haben, das auch zu akzeptieren, was nicht heißt, dass sie das nicht auch kritisch reflektieren können. Das ist Teil des Defizitproblems, das wir hier haben, dass wir auch in der Politik dazu tendieren, Konsenslösungen zu finden auf dem kleinsten Nenner. Und das Ergebnis sind Umsetzungsdefizite, Problemlösungsdefizite."

    Eine Erosion von Macht aber meint der Trierer Politikwissenschaftler vor allem in den poli-tischen Institutionen der westlichen Demokratien festzustellen. Der Normalzustand der Politik unter den Bedingungen der Globalisierung sei eher die Ohnmacht politischer Akteure, nicht etwa ihre Machtfülle. Zunehmend verliere Politik ihre Gestaltungsmacht an eine immer größere Zahl weiterer Mitspieler, an internationale Organisationen, Wirtschaftsakteure, transnationale Unternehmen. Zudem werde Politik zunehmend von vermeintlichen Sachzwängen bestimmt.

    "Die Grundidee ist, dass wir als Gesellschaft, als deutsche Gesellschaft auch im internationalen Maßstab zunehmend Probleme haben, dass wir Probleme haben im Umgang mit Macht, auch mit der Gestaltung von Zukunft. Denn das ist das, wozu wir alle Macht brauchen und Macht verwenden, das heißt natürlich nicht, dass jede Form von Machtausübung geeignet ist, um Zukunft zu gewinnen, nachhaltig zu gestalten."

    Insbesondere Deutschland, so schrieb Hans Maull in einem Aufsatz mit dem Titel "Der überforderte Hegemon", wisse seine erstarkte Macht nicht gestaltend zu nutzen. Auf der politischen Bühne spiele die viertgrößte Ökonomie der Welt bloß eine Statistenrolle. Statt Europa neu zu gestalten, überlasse Deutschland diese Aufgabe den Buchhaltern, den Finanzmärkten und den Zentralbanken. Statt eine Vision für Europa zu entwickeln, versuche es lediglich, den anderen Ländern seine eigenen Erfolgsrezepte aufzuzwingen. Leadership also statt muddling through, Führung statt Durchwursteln? Ob eine solche – machtbewusste - deutsche Politik allerdings von den restlichen Ländern Europas goutiert würde, bleibt kritisch zu befragen. Aber auch für Günter Ortmann, Professor für Betriebswirtschaft an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, führt das stete "Fahren auf Sicht", das die derzeitige deutsche Politik bestimmt, zu einem Verharren in der Gegenwart – statt Zukunft zu gestalten.

    "Wir haben einen immer breiter werdenden Rucksack, den wir als Entscheidungsdefizi-te mit uns schleppen, der uns aber auch in die Lage versetzt, keine wirklichen Vorstellungen über Zukunft mehr zu haben. Und das ist eine der gefährlichsten Entwicklungen, die uns treiben. Es gab diesen Ausspruch von Helmut Schmidt, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Den hat er mittlerweile relativiert, gerade im Gegenteil, vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und auch Macht auszuüben, bräuchten wir mehr als je zuvor Vorstellungen darüber, wohin diese Gesellschaften sich entwickeln wollen und welche Art von notwendigen Entscheidungen dafür unbedingt gebraucht werden, um die Gegenwart nicht immer breiter werden zu lassen."

    Während die Macht der traditionellen politischen Institutionen zunehmend erodiere, sieht Hans Maull allerdings eine neue Macht der Bürgerbewegungen entstehen. Durch Bildung, eine Zunahme an Wissen wie auch neuartige Kommunikationsmittel bekomme das Individuum zunehmend Macht, in Geschichte einzugreifen, auch wenn dies das Agieren der herkömmlichen politischen Akteure weiter erschwere.

    "Wenn ich versuche, die internationale Politik zu verstehen, ist die wichtigste Machtverschiebung im Verlauf der internationalen Politik der letzten 30 Jahre die vom Staat zu Individuen. Und wir sehen das in der arabischen Welt, wir erleben das in der Türkei, dass einfach die Erhöhung des Wissensstandards, den Einzelnen auch in die Lage versetzt, sich selbst für seine Belange stärker einzusetzen."

    Der Organisationspsychologe Fritz B. Simon widersprach allerdings dieser Einschätzung. Solange sich solche zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen lediglich als Vetobewegun-gen formierten, könnten sie zwar kurzfristig Einfluss nehmen. Gestalterische Macht aber würden sie erst dann bekommen, wenn sie selbst die Struktur einer Organisation einneh-men würden.

    "Schauen sie sich die Grillini an, die sind nach drei Monaten in Italien schon wieder auf null, die Piraten sind auf null. Macht ohne Organisation ist höchstens private Macht, da kann man seine Kinder verhauen. Sie werden nichts bewirken als Individuen, weder über Facebook noch Flashmobs noch etwas Ähnliches, dann bleiben sie auf dem Level einer Massenbewegung. Und Massenbewegungen beruhen darauf, dass viele Individuen dasselbe tun. Aber in der Organisation haben sie eine Möglichkeit, dass viele Individuen Unterschiedliches tun. Und dazu brauchen sie Macht."