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Schwerpunktthema: Im Umbruch

Kaum etwas hat sich so sehr verändert wie der Zustand der Familien. Die Kleinfamilie gibt es noch, aber daneben gibt es neue Formen: Alleinerziehende, Patchworkfamilien und gleichgeschlechtliche Paare, die Kinder erziehen. Wir haben uns die Familie von heute näher angeschaut.

Von Ingeborg Breuer |
    "Geheiratet wird nur noch auf Zeit. Kinder werden vom Staat betreut. Der neue, erfolgreiche Mensch wird nie und nirgends von der Liebe berührt." Dies schrieb Ex-CDU-Minister Norbert Blüm im Mai dieses Jahres in der "Süddeutschen Zeitung". Er fürchtet, dass von Ehe und Familie nur noch eine "ausgelaugte Hülle" übrig bleibt. Wie eine Entgegnung auf Blüms Pessimismus klang dagegen das kürzlich erschienene Positionspapier der evangelischen Kirche: Alles sei Familie, so ist da zu lesen, ob alleinerziehend, Patchwork, kinderlose Paare oder homosexuelle Lebensgemeinschaften. Familie ist im Umbruch – oder ist sie gar im Untergang begriffen? Elisabeth Beck-Gernsheim, Professorin für Soziologie an der Universität Trondheim:

    "Es gab auch in der Vergangenheit glückliche Familien. So wie in der Gegenwart auch nicht das reine Glück ausgebrochen ist. Trotzdem glaube ich, dass die Zunahme der Lebensmodelle trotz der Schwierigkeiten auch einen positiven Aspekt hat. Dass die Hierarchien der alten Gesellschaft, die Ungleichheiten, die unbarmherzige Ungleichheit der früheren Gesellschaft zurückgegangen ist. Das ist eine Entwicklung, für die ich dankbar bin."

    Auch wenn immer noch 70 Prozent der Kinder in traditionellen Ehen aufwachsen, hat sich das Verständnis von Familie in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert. Der "biologische Kern", der eine Familie traditionell ausmacht – Vater, Mutter und leibliche Kinder – tritt in den Hintergrund. Familie wird zunehmend zu einer sozialen Konstruktion. Familie ist da, so die evangelische Kirche, wo "Menschen liebend und fürsorglich füreinander einstehen". Allerdings, so Elisabeth Beck-Gernsheim, war Familie auch früher nie etwas rein Natürliches.

    "War das denn normal, dass man in den 50er Jahren drei Kinder hatte? Im 17., 18. Jahrhundert haben Familien acht, zehn, zwölf Kinder bekommen. War das dann Natur? Was ist Natur? Familie war immer ein soziales Gebilde!"

    Liebe statt ökonomischer Sicherheit
    Wie werden sich Familien künftig entwickeln – und welche Herausforderung bedeutet das für die Familienpolitik? Das waren Fragen, die auf einem kürzlich in Bamberg veranstalteten Fachkongress erörtert wurden. Heute ist die Liebe – und nicht länger ökonomische Sicherheit oder gesellschaftliche Norm - der maßgebliche Grund für eine partnerschaftliche Bindung, mit dem Ergebnis hoch individualisierter Lebens- und Gemeinschaftsformen. Das klingt nach Freiheit, nach einem Zugewinn an Optionen in einer schönen, bunten, pluralen Welt.

    Doch diese Freiheit bricht sich an den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Spätmoderne - mit ihren Mobilitätsanforderungen, ihren flexiblen Arbeitszeiten, ihren teilweise prekären Beschäftigungsformen. Der in Florenz lehrende Soziologe Professor Hans Peter Blossfeld:

    "Wir haben eine Untersuchung gemacht, dass durch die Veränderung des Arbeitsmarktes, durch die Flexibilisierung für die junge Generation nach einer langen Ausbildung noch einmal ein Moratorium kommt, in dem die jungen Leute keine Familiengründung vornehmen können, weil sie in befristeten Beschäftigungsverhältnissen sind. Das hat mit Individualisierung gar nichts zu tun, sondern das führt dazu, dass diese jungen Leute weniger Optionen haben, sozusagen ihre Wünsche aufschieben und dann eventuell realisieren, wenn der Partner noch da sein sollte."

    Da, wo heute Familie gelebt wird, ist sie nicht länger etwas selbstverständlich Vorgegebenes. Man hat eine Familie nicht mehr einfach, meint Dr. Karin Jurczyk, Soziologin am Deutschen Jugend-Institut in München. Sondern jede Familie erfindet sich gewissermaßen selbst, sie wird, so der Terminus technicus, zu einer eigenständigen "Herstellungsleistung".

    "Und jetzt sieht man, dass durch die Kompliziertheit der gesellschaftlichen Umstände diese Gleichzeitigkeit der Veränderung von Arbeitswelt und Familienverhältnissen, dass das zu einem sehr großen Gestaltungs- und Koordinierungsaufwand führt. Und dass deshalb immer mehr Gemeinsamkeit bewusst aktiv reflexiv hergestellt werden musste."

    Familienzeit muss besser geplant werden
    Nicht länger werden heute Entscheidungen durch elterliche Autorität getroffen, sondern sie werden interfamiliär ausdiskutiert. In Patchworkfamilien müssen Rollen neu tariert werden. Und wie erst sollen gleichgeschlechtliche Elternpaare ihr Familienleben gestalten? Familie, so Karin Jurczyk, wird zu "doing family", zu einer aufwendigen Aktivität aller an ihr Beteiligten. Stärker als früher muss das, was Familien tun, um Familie zu sein, geplant, verhandelt und hergestellt werden, selbst da, wo nur berufliche Mobilitäts- oder Flexibilitätsansprüche koordiniert werden müssen.

    "Wer übernimmt dann die Betreuung, weil die Betreuungseinrichtungen in der Regel nicht so flexibel sind? Und dadurch dass die Männer gleichzeitig auch und massiver als die Frauen von Flexibilität und Mobilität betroffen sind, muss man einfach schauen, wie verteilt man die Aufgaben, wer ist wann da, wer holt das Kind ab, wer kauft ein. Da sind kleine Dinge, die man regeln muss, immer wieder neu regeln muss."

    Die Ausbildung von Routinen und Ritualen hält Karin Jurczyk deshalb für ein entlastendes Element der Alltagsorganisation. Sowohl Alltags- als auch Festrituale sind verlässliche Ankerpunkte und signalisieren zugleich "Wir sind eine Familie". Zum Beispiel regelmäßige Mahlzeiten. Dafür nehmen sich Familien heute sogar mehr Zeit als noch vor 25 Jahren.

    "Da werden die unterschiedlichsten Wege genommen, um vor sich und den andern zu zeigen, ja wir gehören zusammen, von der Kleidung, über bestimmte Rituale, wo man sich abgrenzt gegen andere Familien. Es ist das Stiften von Identität. Die Familien versuchen mit Routinen, mit Ritualen ihren Alltag zu strukturieren, dass sie sagen, es ist immer so, dass wir sonntags um zehn Uhr frühstücken oder was immer man sich einfallen lassen kann, und das hält natürlich den Alltag stabil."

    Erstaunlich allerdings ist, dass dieses spätmoderne "doing Family" eben doch stark an traditionelle Geschlechterrollen gebunden bleibt. Gerade veröffentlichte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung eine Untersuchung, der zufolge Frauen durchschnittlich weniger als ein Viertel zum Gesamteinkommen eines Paarhaushaltes beitragen. Bei Familien mit einem Kind zwischen drei und sechs Jahren sind es in Westdeutschland sogar nur 18 Prozent. Und: Nur in zehn Prozent der Familienhaushalte verdienen Frauen mehr als ihre Männer – und keineswegs ist das immer so gewollt.

    "Es gibt ein kleines Segment der sehr gut qualifizierten Frauen, die dann mehr verdienen als ihre Männer und die möchten das auch gerne, das sind die sogenannten Karrierefrauen. Aber es gibt den deutlich größeren Anteil der Familienernährerinnen, die in so eine Situation reingerutscht sind, die weder sie noch ihr Partner wollten. Und dann hat der Mann entweder ein sehr prekäres Einkommen oder ist erwerbslos oder die Frau ist in einer Gruppe, wo sie mehr verdient. Und das sind Konstellationen, wo sie beide sagen, sie wollen das eigentlich nicht."

    Auch Hans Peter Blossfeld kann berichten, dass sich die Geschlechterverhältnisse oft erstaunlich traditionell entwickeln, wenn aus einem Paar eine Familie wird.

    "Es gibt mehr Gleichheit, solange keine Kinder da sind. Aber wo ein Kind kommt, fällt das System quasi automatisch zurück in ein traditionelles Muster. Die Muster sind klar, dass Frauen, wenn sie erwerbstätig sind, zwar weniger machen, aber die Männer nicht mehr. Also es ist keine symmetrische Entwicklung, sondern die Frauen verändern sich und haben eine Doppelbelastung, während die Männer ihre traditionelle Rolle weiter pflegen und sich nicht einklinken."

    Vor allem in Westdeutschland lassen sich Beruf und Familie für Frauen nach wie vor schwer vereinbaren. Möglicherweise ist das zumindest ein Grund für die seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenraten in Deutschland. Denn Umfragen ergeben mit großer Regelmäßigkeit, dass der Kinderwunsch der Deutschen deutlich höher ist als die Zahl der wirklich geborenen Kinder. Daniela Grunow, Professorin für Soziologie an der Universität Frankfurt:

    "Ich glaube, diese Differenz zwischen denen, die doch gern Kinder hätten, aber das nicht können, sei es aus ökonomischen Gründen oder weil sie es so lange aufgeschoben haben, das es die Fertilität nicht mehr hergibt, das sind einfach Punkte, wo man sieht, da kommen die Bedürfnisse von Menschen und die äußeren Rahmenbedingungen nicht zusammen. Das ist der Bereich, wo man noch dran arbeiten kann."

    Kritik an familienpolitischen Leistungen
    Niedrige Geburtenraten führen zu demografischen Problemen. Die Gesellschaft schrumpft und altert, die Sozialsysteme geraten in die Krise, es drohen Pflegenotstand und Fachkräftemangel. Die Politik muss also ein Interesse daran haben, aus Kinderwünschen Kinder werden zu lassen.

    "Ich denke, diese Erkenntnis, dass Deutschland enorme Massen von Geld in Familienpolitik steckt und trotzdem sehr geringe Fertilitätsraten hat, das wirft natürlich Fragen auf und das wirft auch den Bedarf auf, rauszufinden, ist das Geld gut angelegt und trifft das die Bedürfnisse der Familien so, wie sie heute sind."

    200 Milliarden Euro gibt der Staat jährlich für diverse familienpolitische Leistungen aus, das sind immerhin fünf Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung, für den Ausbau von Krippenplätzen, für Elterngeld, Witwen- und Waisenrenten, beitragsfreie Mitversicherung von Familienmitgliedern, Ehegattensplitting, Kindergeld, und so weiter, und so weiter. Und es soll noch mehr werden: Als Schritt in Richtung "Familiensplitting" will die Union Kindergeld und Kinderfreibetrag erhöhen.

    "Wir reden im Augenblick von einem Ausgabenvolumen für familienpolitische Leistungen von 125 Milliarden Euro, hinzukommen ehebezogene Leistungen von weiteren 75 Milliarden, also wir reden über 200 Milliarden Euro, im internationalen Vergleich viel, Deutschland liegt im oberen Bereich der Rangliste. Es sind mehr als 150 verschiedene Leistungen",

    so Hans Peter Klös, Leiter des Wissenschaftsbereichs Bildungspolitik und Arbeitsmarktpolitik beim Institut der deutschen Wirtschaft. Von vielen Seiten wird moniert, das sei ein Wirrwarr von Leistungen, ineffektiv und zum Teil gegensätzliche Ziele verfolgend. Und volkswirtschaftlich, so Hans Peter Klös, kontraproduktiv. Denn die Leistungen dienten gerade nicht dazu, die sich abzeichnenden demografischen Probleme Deutschlands abzufedern.

    "Wenn man die 150 Leistungen, die es gibt, untersucht im Hinblick darauf, ob von der Summe der Leistungen eher erwerbsanreizfördernde oder eher erwerbsanreizbeeinträchtigende Effekte ausgehen, wird man zu dem Ergebnis kommen, dass ein deutlich größerer Teil der bisherigen Leitungen eher das Zuhausebleiben unterstützt als das Erwerbstätigsein."

    Während das Auszahlen von Leistungen - wie Kindergeld - oder das vor Kurzem beschlossene Betreuungsgeld - Frauen nicht unbedingt zur Berufstätigkeit motivierten, habe der Ausbau von Infrastruktur – also vor allem Investitionen in eine verbesserte Kinderbetreuung –volkswirtschaftlich den größeren Nutzen.

    "Infrastruktur wirkt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine ganze Reihe von verschiedenen demografiepolitischen Zielen aus. Das ist zum einen das Wohlergehen der Kinder über die Kompetenzen, die man auch mit frühkindlicher Bildung nachgewiesenermaßen erhöhen kann. Zum Zweiten, wenn ich mir die Eltern anschaue, auch die Reduzierung von relativen Einkommensrisiken, die mit Familie verbunden sind, über die Beschäftigungswahrscheinlichkeit abzufedern. Für die Volkswirtschaft ist das verbunden mit dem Fachkräftethema. Und last but not least für den Staat, der ja auch auf der Einnahmeseite davon profitiert, dass mehr Menschen, mehr Mütter Sozialversicherungsbeiträge zahlen und damit auch die öffentlichen Sozialkassen stabilisieren können."

    Kindergärten noch vor Jahrzehnten verpönt
    Zu Recht kann man einwenden, dass Familienpolitik nicht von volkswirtschaftlichen Erwägungen bestimmt sein dürfe, dass sie, wie es der CSU-Politiker Hermann Imhof kürzlich nannte, kein "Zuchtprogramm für neue Kinder" sei und ebenso wenig der Optimierung von "Humankapital" diene. Doch Mütter, so Hans Peter Klös, würden sogar gern mehr arbeiten, wenn sie dies mit ihrer familiären Situation vereinbaren könnten.

    "Sollten wir realisieren, dass wir auch den mehrheitlichen Wunsch der Mütter nach Teilzeit haben, dass wir eine Wunscharbeitszeit von etwa 27 Wochenstunden haben. Und da scheint mir der Punkt zu sein, dass wir in Deutschland über die Konsolidierung der Infrastrukturleistungen einen Beitrag dazu leisten können, dass Erwerbswünsche von Müttern mit Kindern, die eher größer sind als bisher, mit höherer Wahrscheinlichkeit als bisher in Erfüllung gehen können."

    Stellt also, wie Norbert Blüm es formulierte, das "Outsourcing" von Kinderziehung die Familie wirklich unter die "Fuchtel des Neoliberalismus"? Ende der 50er-Jahre wollten, so damals eine Allensbach-Umfrage, 60 Prozent der Bundesbürger das "Doppelverdienertum" verboten wissen, um die "Verwahrlosung" des durch die Tränen der Schlüsselkinder erkauften "Elternluxus" zu beseitigen. Und Vorbehalte gab es damals auch gegen den Kindergarten, der sich allmählich durchzusetzen begann. Doch der hat sich mittlerweile durchgesetzt, ebenso wie die Berufstätigkeit von Frauen. Die Familie hat sich seither zwar immens gewandelt. Aber untergegangen ist sie immer noch nicht. Und so wird es wahrscheinlich auch in Zukunft bleiben.

    "In den 50ern war schon der Kindergarten eine Revolution, es mussten damals sozialwissenschaftliche Studien gemacht werden, um zu zeigen, dass Kindergarten nicht nur eine Vernachlässigung des Kindes bedeuten, dass Kindergarten für das Kind und die Frau was Positives bedeuten können. Das war eine Tat, das zu sagen!"