"Archäologie ist eines der ganz ganz großen Themen in Berlin. Berlin hat ja eine Sonderstellung im Vergleich zu anderen mittelalterlichen Städten, denn hier ist fast alles Tabula rasa."
Die deutsche Hauptstadt spielte schon im Mittelalter eine bedeutende Rolle, erzählt Berlins Stadtarchäologe Matthias Wemhoff, aber bis vor Kurzem wusste das kaum jemand. Die Ursprünge der Stadt waren praktisch vergessen, weil so wenige Bauten aus früheren Jahrhunderten erhalten sind.
"Das ist die älteste erhaltene Kirche. Die Nikolaikirche war das Zentrum der Stadt Berlin und auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses war die Stadt Cölln, die die Sankt Petrikirche als Mittelpunkt hatte und der letzte Bau der Sankt Petrikirche ist 1965 gesprengt worden. Sodass heute nicht mehr im Stadtbild sichtbar ist, dass Berlin eigentlich aus zwei mittelalterlichen Städten rechts und links der Spree entstanden ist."
Den Ort Cölln an der Spree haben wahrscheinlich Rheinländer gegründet, erläutert Claudia Maria Mehlisch, Archäologin beim Landesdenkmalamt Berlin. Die ersten Siedler gaben der Stadt den Namen ihrer Heimat. Sie benannten wohl auch die Petrikirche nach Sankt Peter, dem Patron ihres Doms in Köln am Rhein.
Der bekannteste Bau der mittelalterlichen Doppelstadt ist heute jedoch die Nikolaikirche, zwischen dem modernen Roten Rathaus und der Spree auf Berliner Seite gelegen. Vor 25 Jahren, anlässlich des 750. Berliner Stadtjubliäums, wurde sie rekonstruiert und mit einem historisierenden Ensemble von Giebelhäusern umgeben. Claudia Mehlisch arbeitet nun daran, auch andere Orte der frühen Stadtgeschichte wieder ins Bewusstsein zu heben.
"Wir stehen hier auf der Brücke über dem Fluss Spree und befinden uns an der Grenze zwischen dem alten Berlin und dem alten Cölln. Und wir laufen jetzt von Alt-Berlin nach Alt-Cölln."
Geblieben ist nur der Straßenname: Mühlendamm. Um 1220 bauten die Bürger der beiden Städte hier einen Damm durch die Spree, um darauf Kornmühlen zu betreiben. Die Folge: Alle Händler, die auf dem Fluss unterwegs waren, mussten erst einmal ihre Schiffe entladen und die Waren zum Verkauf anbieten. Dieses "Vorkaufsrecht" förderte entscheidend die Entwicklung von Cölln und Berlin zum führenden Handelszentrum der Region.
Heute rauscht nur vielspurig der Verkehr zwischen unwirtlichen Hochhäusern über den Mühlendamm. Berlin ist, so wirkt es, immer in Bewegung, immer im Wandel, hat aber keine lange Geschichte. Das beobachtete schon 1804 die französische Schriftstellerin Madame de Stael.
Unter den modernen Gebäuden erheben sich keine gotischen Monumente. Berlin, diese ganz moderne Stadt, bringt keine feierliche, ernste Wirkung hervor. Sie trägt weder das Gepräge der Geschichte des Landes noch des Charakters der Einwohner.
Und 1929, in Berlins größter, urbaner Epoche, hielt ein "Gedenkbuch" bedauernd fest, dass die Stadt...
Überaus arm ist an charakteristischen und zugleich wertvollen Dokumenten ihrer Historie.
Nun scheint die seltsame Tradition vor ihrem Ende zu stehen. Die Vergangenheit Berlins wird wiederentdeckt, weil Archäologen an vielen Stellen des Zentrums Reste von Alt-Cölln und Alt-Berlin freilegen. Auch das genaue Alter der Stadt steht auf einmal infrage: Bei den Stadtjubliäen feiert man traditionell die erste schriftliche Erwähnung der Stadt: Danach galt das Jahr 1237 als Gründungsdatum, Berlin wäre jetzt 775 Jahre alt. Doch die Ausgräber wissen, dass Deutschlands Hauptstadt älter ist . Sie können nur noch nicht sagen, wie alt.
"Wir befinden uns hier am Schlossplatz, diese Hinweistafel, die verloren jetzt in dieser Riesenbaustelle steht, deutet daraufhin, dass noch vor Kurzem hier großflächige Ausgrabungen stattgefunden haben unter Leitung von Michael Malliaris, der hat mit einem großen Team hier drei Jahre lang die Überreste des Berliner Stadtschlosses ausgegraben – und eigentlich muss man sagen: Berliner Stadtschloss ist ja gar nicht richtig. Das Berliner Stadtschloss steht auf der Spreeinsel, das Berliner Stadtschloss steht in Alt-Cölln."
In dem Boden, auf dem rund 500 Jahre lang das Schloss stand, machte Claudia Mehlischs Kollege eine Fülle überraschender Funde. Michael Malliaris ging Schicht für Schicht in die Tiefe und stieß jedes Mal auf repräsentative Zeugnisse der unterschiedlichen Epochen. In der obersten Schicht zum Beispiel auf Scherben eines feinen weißen Porzellans:
"Und zwar meine ich, dass wir hier königliches Geschirr vor uns haben, es sind alles Scherben von kleinen Gefäßen, in denen man vielleicht Zucker aufbewahrt hat. Man sieht hier sehr schön ein kleines dreibeiniges Gefäß mit geschwungenen Beinen, wo eine Frauenfigur den Rand ziert. Wir haben hier den Deckel, der in Blütenform ausgebildet ist, wo die Blätter auch noch mit verschiedenen Farben handbemalt worden sind."
Etwas tiefer haben sich Reste des Dominikaner-Klosters erhalten, das auf der Spreeinsel stand, bevor das Schloss gebaut wurde.
"Ein sehr schönes Stück ist dieser Klosterformatziegel, das ist ein Ziegel, der viel größer ist, als die heutigen modernen Ziegel und der mit der Hand aus der Form geholt wurde. Und hier sieht man noch sehr schön Fingerabdrücke an den Seiten. Also da, wo das herausgeholt wurde und an diesem Stück ist das Besondere, dass jemand beim Trocknen dieses Ziegels da drauf getreten ist, dass wir einen Schuhabdruck noch darauf erkennen können."
Sodass der Ausgräber nun ein originelles Stück aus dem Alltag des 14. Jahrhunderts in der Hand hält.
Über die Klosterkirche wussten die Forscher schon vorher recht gut Bescheid, kaum bekannt waren jedoch Kreuzgang, Wirtschaftsbauten und vor allem die Gräber im Klosterbezirk: An den Knochen der Toten erkannten Anthropologen, dass auch Frauen im mittelalterlichen Dominikanerkloster arbeiteten. Vielleicht können sie bald sogar sagen, aus welchen Regionen die Leute stammten, die zu den Dominikanern in das aufstrebende Städtchen Cölln kamen. Die Mönche waren aber nicht die ersten Siedler auf der Spreeinsel. Noch unter dem Kloster fanden sich weitere Zeugnisse der Stadtgeschichte:
"Wir haben hier einen sogenannten Kugeltopf vor uns, das ist ein Gefäß aus grauem Ton, ziemlich unscheinbar, manch einer würde sogar sagen, hässlich, weil es ein Topf ist mit einem abgerundeten Boden, der in das Feuer gestellt wurde. In diesem Topf hat man gekocht und diese Form ist eben typisch für das 13. Jahrhundert hier in dieser Region. Das ist ein Leitfossil der Mittelalterarchäologie, der Kugeltopf."
In dieser Erdschicht konnten die Wissenschaftler schließlich Baustrukturen des alten Cölln rekonstruieren, die man bisher nicht kannte. Michael Malliaris war begeistert.-
"Dass wir die Stadtbefestigung mit einer Mauer und einem großen Graben und den innerhalb der Stadtmauern befindlichen Resten von Häusern, Brunnen, Gruben und so weiter freigelegt haben und das war für uns die größte Genugtuung, dass wir da sehr viel für die Anfänge der Stadt herausgefunden haben, die dann im wahrsten Sinne des Wortes vom Hohenzollernschloss überlagert worden sind."
Die Funde deuten daraufhin, dass hier Handwerker lebten, Gerber vielleicht, Schmiede oder Färber, die sich am Rand der kleinen Stadt ansiedeln mussten, weil ihre Arbeit viel Lärm, Rauch und Gestank verbreitete. Selbst der zurückhaltende Malliaris findet sensationell, welche Einzelheiten aus den Arbeitsstätten und Wohnungen der Handwerker ans Licht kamen:
"Ich rede von einer sogenannten Sumpfgrube etwa, einer Grube, in der man Ton oder Lehm gesumpft hat, um ihn später weiterverarbeiten zu können etwa zum Hausbau, und diese Grube hatte ein Holzgerüst, das wir datieren konnten um 1203, also wirklich in die Frühzeit von Cölln zurückreichend, und wir haben auch sowohl Keller als auch Häuser gefunden."
Und dort fanden sich, direkt auf dem märkischen Sand, verkohlte Fußboden-Bohlen, die man sogar in das Jahr 1198 datieren konnte: Ein erster Beweis, dass Berlin deutlich älter ist als das Dokument von 1237 besagt, und noch nicht der letzte.
Die Städte Cölln und Berlin prosperierten dank des Fernhandels: Kaufleute verschifften Getreide von den großen Ackerflächen des märkischen Umlands nordwärts zur Küste und verkauften im Gegenzug Tuche aus Flandern nach Osten. Bei Ausgrabungen vor dem heutigen, dem "Roten Rathaus" kamen die riesigen Gewölbe des alten Rathauses zutage, in denen die Händler ihre Waren lagerten. Der Doppel-Ort entwickelte sich zum führenden Geschäftszentrum der Region und wurde Mitglied der Hanse, der mächtigen Vereinigung unabhängiger Kaufmannsstädte. Warum war diese erfolgreiche, frühe Geschichte der Stadt so lange vergessen?
"Das hat vor allem den Grund, dass Berlin eine im 19. Jahrhundert massiv gewachsene Metropole ist, in der viele Leute zugezogen sind. Und der Wandel und der Wechsel der Bevölkerung ist eine Konstante in Berlin. Da ist es dann nicht möglich, ein Heimatbewusstsein zu entwickeln, das sich auch darin äußert, dass man alte Bauten hat, an denen sich diese Erinnerung an die Geschichte materialisieren kann. Wir haben kaum noch mittelalterliche Bauten in Berlin, die aufrecht stehen."
So setzte sich der irreführende Eindruck fest, Berlins Aufstieg habe erst mit den Herrschern aus dem Haus Hohenzollern begonnen: Weil praktisch nur die repräsentativen Bauten an der Prachtstraße Unter den Linden, wie der deutsche und der französischen Dom, die Universität und das Schloss, das bis zur Sprengung 1950 erhalten blieb, an die Vergangenheit erinnerten. Doch tatsächlich hatten die Hohenzollern es schwer, als sie im 15. Jahrhundert als Landesherren in der selbstbewussten Handelsstadt erstmals ein Schloss errichten wollten. Der Landesarchäologe Matthias Wemhoff erklärt, was man nicht mehr sieht:
"Natürlich sind die Strukturen der Bürgerstadt ganz ganz lange prägend und es sind eigentlich die mittelalterlichen Gebäude und Straßenzüge, in die sich dann die Residenz einfügen muss."
Die massive Beseitigung historischer Bauten setzte im 19. Jahrhundert ein: Gegen die unaufhaltsame, zerstörerische Dynamik der Industrialisierung konnten die bürgerlichen Geschichtsvereine, die Zeugnisse der Vergangenheit bewahren wollten, nichts ausrichten. Die Entwicklung verschärfte sich dann durch die Bombenschäden des Zweiten Weltkriegs und die ideologischen Vorgaben beim Wiederaufbau.
"Nach dem Krieg war die Beschäftigung mit Geschichte hier ein absolutes Tabu. Da hat sich der Westen nicht groß anders verhalten als der Osten. Aber hier haben wir natürlich diese dramatische Umgestaltung zur sozialistischen Staatsmitte gehabt. Da ging es wirklich darum, eine andere Vorstellung von Stadt zu realisieren und wer dagegen opponierte und wenn er nur Altes dokumentierte, hatte es sehr sehr schwer, bis sich das in den 80er-Jahren langsam etwas gebessert hat. Man sieht's vielleicht mit dem Nikolaiviertel, was dann entstanden ist."
Da oberirdisch fast alles abgeräumt wurde, können nur Archäologen noch Spuren der Vergangenheit sichtbar machen. Unter dem Pflaster der endlosen Plätze und der überbreiten Verkehrsachsen legen sie seit einigen Jahren immer neue Fußbodenplatten, Tonscherben und Ofenkacheln aus früheren Jahrhunderten frei – und finden immer ältere Zeugnisse der Besiedlung. Die erste schriftliche Erwähnung Berlins mag 775 Jahre zurückliegen, doch nach der neuesten Datierung entstanden erste Bauten schon ein gutes halbes Jahrhundert früher, berichtet Professor Wemhoff: Ein Holzbalken, in einer Ausgrabung freigelegt, wurde kürzlich auf das Jahr 1174 datiert. Bei den Berlinern, die so geschichtsvergessen schienen, stoßen die Archäologen jetzt auf überwältigendes Interesse:
"Wenn ich bedenke, dass weit über 10.000 Menschen die Führungen auf dem Petriplatz besucht haben, wenn ich sehe, was für einen Anklang das Rathaus gefunden hat und wie breit die Bevölkerung ist, die sich für den Erhalt der Reste einsetzt, dann merkt man, es findet eigentlich ein Umdenken statt, das - wenn man ehrlich ist – nach diesen historischen Brüchen auch gerade erst jetzt los gehen kann."
Faschismus und Kalter Krieg, Mauerbau und "Deutsche Demokratische Republik": Bis sich auch in den Köpfen die Zwänge auflösten, die von 1933 bis 1989 das Leben in Berlin vielfach bestimmten, hat es eben 20 Jahre gebraucht, meint Wemhoff.
Die neuen Erkenntnisse zur Geschichte der Handelsmetropolen Cölln und Berlin sollen künftig für Einwohner und Besucher an Originalorten erfahrbar werden: Unter dem wiederaufgebauten Schloss wird ein Gang des originalen Schlosskellers zur Besichtigung hergerichtet werden. Unter dem heutigen "Roten Rathaus", werden die Kellergewölbe wieder zugänglich sein, in denen im Mittelalter Tuche gelagert und verkauft wurden. Und der lange vernachlässigte Kern des alten Cölln wird durch einen Neubau aus der Vergessenheit geholt.
"Dann bin ich sehr froh, dass die Entscheidung gefallen ist zum Bau des Archäologischen Zentrums am Petriplatz. Das wird ganz entscheidend sein. Wir werden dort über der alten Lateinschule ein Gebäude errichten, das Archäologie vermittelt. Ich sage, es ist eine Archäologieschule."
Der Petriplatz ist schließlich nur allzu typisch für die jüngere Berliner Baugeschichte: Lange Zeit ein kahler Parkplatz am Rand einer vielspurigen Verkehrsachse mit gesichtslosen Hochhäusern, wurde seine historische Dimension erst in den Ausgrabungen von Claudia Melisch wieder erfahrbar:
"Das ist das Zentrum der mittelalterlichen Stadt Cölln gewesen, mit der Petrikirche, dem Rathaus und der Lateinschule. "
Die Reste des Cöllner Rathauses und der Petri-Kirche sind leider nicht mehr zugänglich. Die Grundmauern der Lateinschule jedoch, die im 13. Jahrhundert zur Ausbildung der Priester gegründet wurde, sollen im Keller des Archäologischen Zentrums erhalten werden. In den Stockwerken darüber werden Werkstätten eingerichtet und Funde ausgestellt, damit die Besucher sehen, wie Archäologie funktioniert. Von hier können sie dann zu einem Rundweg aufbrechen, der die wiederentdeckten Geschichtsorte in Cölln und Berlin erschließt.
Die deutsche Hauptstadt spielte schon im Mittelalter eine bedeutende Rolle, erzählt Berlins Stadtarchäologe Matthias Wemhoff, aber bis vor Kurzem wusste das kaum jemand. Die Ursprünge der Stadt waren praktisch vergessen, weil so wenige Bauten aus früheren Jahrhunderten erhalten sind.
"Das ist die älteste erhaltene Kirche. Die Nikolaikirche war das Zentrum der Stadt Berlin und auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses war die Stadt Cölln, die die Sankt Petrikirche als Mittelpunkt hatte und der letzte Bau der Sankt Petrikirche ist 1965 gesprengt worden. Sodass heute nicht mehr im Stadtbild sichtbar ist, dass Berlin eigentlich aus zwei mittelalterlichen Städten rechts und links der Spree entstanden ist."
Den Ort Cölln an der Spree haben wahrscheinlich Rheinländer gegründet, erläutert Claudia Maria Mehlisch, Archäologin beim Landesdenkmalamt Berlin. Die ersten Siedler gaben der Stadt den Namen ihrer Heimat. Sie benannten wohl auch die Petrikirche nach Sankt Peter, dem Patron ihres Doms in Köln am Rhein.
Der bekannteste Bau der mittelalterlichen Doppelstadt ist heute jedoch die Nikolaikirche, zwischen dem modernen Roten Rathaus und der Spree auf Berliner Seite gelegen. Vor 25 Jahren, anlässlich des 750. Berliner Stadtjubliäums, wurde sie rekonstruiert und mit einem historisierenden Ensemble von Giebelhäusern umgeben. Claudia Mehlisch arbeitet nun daran, auch andere Orte der frühen Stadtgeschichte wieder ins Bewusstsein zu heben.
"Wir stehen hier auf der Brücke über dem Fluss Spree und befinden uns an der Grenze zwischen dem alten Berlin und dem alten Cölln. Und wir laufen jetzt von Alt-Berlin nach Alt-Cölln."
Geblieben ist nur der Straßenname: Mühlendamm. Um 1220 bauten die Bürger der beiden Städte hier einen Damm durch die Spree, um darauf Kornmühlen zu betreiben. Die Folge: Alle Händler, die auf dem Fluss unterwegs waren, mussten erst einmal ihre Schiffe entladen und die Waren zum Verkauf anbieten. Dieses "Vorkaufsrecht" förderte entscheidend die Entwicklung von Cölln und Berlin zum führenden Handelszentrum der Region.
Heute rauscht nur vielspurig der Verkehr zwischen unwirtlichen Hochhäusern über den Mühlendamm. Berlin ist, so wirkt es, immer in Bewegung, immer im Wandel, hat aber keine lange Geschichte. Das beobachtete schon 1804 die französische Schriftstellerin Madame de Stael.
Unter den modernen Gebäuden erheben sich keine gotischen Monumente. Berlin, diese ganz moderne Stadt, bringt keine feierliche, ernste Wirkung hervor. Sie trägt weder das Gepräge der Geschichte des Landes noch des Charakters der Einwohner.
Und 1929, in Berlins größter, urbaner Epoche, hielt ein "Gedenkbuch" bedauernd fest, dass die Stadt...
Überaus arm ist an charakteristischen und zugleich wertvollen Dokumenten ihrer Historie.
Nun scheint die seltsame Tradition vor ihrem Ende zu stehen. Die Vergangenheit Berlins wird wiederentdeckt, weil Archäologen an vielen Stellen des Zentrums Reste von Alt-Cölln und Alt-Berlin freilegen. Auch das genaue Alter der Stadt steht auf einmal infrage: Bei den Stadtjubliäen feiert man traditionell die erste schriftliche Erwähnung der Stadt: Danach galt das Jahr 1237 als Gründungsdatum, Berlin wäre jetzt 775 Jahre alt. Doch die Ausgräber wissen, dass Deutschlands Hauptstadt älter ist . Sie können nur noch nicht sagen, wie alt.
"Wir befinden uns hier am Schlossplatz, diese Hinweistafel, die verloren jetzt in dieser Riesenbaustelle steht, deutet daraufhin, dass noch vor Kurzem hier großflächige Ausgrabungen stattgefunden haben unter Leitung von Michael Malliaris, der hat mit einem großen Team hier drei Jahre lang die Überreste des Berliner Stadtschlosses ausgegraben – und eigentlich muss man sagen: Berliner Stadtschloss ist ja gar nicht richtig. Das Berliner Stadtschloss steht auf der Spreeinsel, das Berliner Stadtschloss steht in Alt-Cölln."
In dem Boden, auf dem rund 500 Jahre lang das Schloss stand, machte Claudia Mehlischs Kollege eine Fülle überraschender Funde. Michael Malliaris ging Schicht für Schicht in die Tiefe und stieß jedes Mal auf repräsentative Zeugnisse der unterschiedlichen Epochen. In der obersten Schicht zum Beispiel auf Scherben eines feinen weißen Porzellans:
"Und zwar meine ich, dass wir hier königliches Geschirr vor uns haben, es sind alles Scherben von kleinen Gefäßen, in denen man vielleicht Zucker aufbewahrt hat. Man sieht hier sehr schön ein kleines dreibeiniges Gefäß mit geschwungenen Beinen, wo eine Frauenfigur den Rand ziert. Wir haben hier den Deckel, der in Blütenform ausgebildet ist, wo die Blätter auch noch mit verschiedenen Farben handbemalt worden sind."
Etwas tiefer haben sich Reste des Dominikaner-Klosters erhalten, das auf der Spreeinsel stand, bevor das Schloss gebaut wurde.
"Ein sehr schönes Stück ist dieser Klosterformatziegel, das ist ein Ziegel, der viel größer ist, als die heutigen modernen Ziegel und der mit der Hand aus der Form geholt wurde. Und hier sieht man noch sehr schön Fingerabdrücke an den Seiten. Also da, wo das herausgeholt wurde und an diesem Stück ist das Besondere, dass jemand beim Trocknen dieses Ziegels da drauf getreten ist, dass wir einen Schuhabdruck noch darauf erkennen können."
Sodass der Ausgräber nun ein originelles Stück aus dem Alltag des 14. Jahrhunderts in der Hand hält.
Über die Klosterkirche wussten die Forscher schon vorher recht gut Bescheid, kaum bekannt waren jedoch Kreuzgang, Wirtschaftsbauten und vor allem die Gräber im Klosterbezirk: An den Knochen der Toten erkannten Anthropologen, dass auch Frauen im mittelalterlichen Dominikanerkloster arbeiteten. Vielleicht können sie bald sogar sagen, aus welchen Regionen die Leute stammten, die zu den Dominikanern in das aufstrebende Städtchen Cölln kamen. Die Mönche waren aber nicht die ersten Siedler auf der Spreeinsel. Noch unter dem Kloster fanden sich weitere Zeugnisse der Stadtgeschichte:
"Wir haben hier einen sogenannten Kugeltopf vor uns, das ist ein Gefäß aus grauem Ton, ziemlich unscheinbar, manch einer würde sogar sagen, hässlich, weil es ein Topf ist mit einem abgerundeten Boden, der in das Feuer gestellt wurde. In diesem Topf hat man gekocht und diese Form ist eben typisch für das 13. Jahrhundert hier in dieser Region. Das ist ein Leitfossil der Mittelalterarchäologie, der Kugeltopf."
In dieser Erdschicht konnten die Wissenschaftler schließlich Baustrukturen des alten Cölln rekonstruieren, die man bisher nicht kannte. Michael Malliaris war begeistert.-
"Dass wir die Stadtbefestigung mit einer Mauer und einem großen Graben und den innerhalb der Stadtmauern befindlichen Resten von Häusern, Brunnen, Gruben und so weiter freigelegt haben und das war für uns die größte Genugtuung, dass wir da sehr viel für die Anfänge der Stadt herausgefunden haben, die dann im wahrsten Sinne des Wortes vom Hohenzollernschloss überlagert worden sind."
Die Funde deuten daraufhin, dass hier Handwerker lebten, Gerber vielleicht, Schmiede oder Färber, die sich am Rand der kleinen Stadt ansiedeln mussten, weil ihre Arbeit viel Lärm, Rauch und Gestank verbreitete. Selbst der zurückhaltende Malliaris findet sensationell, welche Einzelheiten aus den Arbeitsstätten und Wohnungen der Handwerker ans Licht kamen:
"Ich rede von einer sogenannten Sumpfgrube etwa, einer Grube, in der man Ton oder Lehm gesumpft hat, um ihn später weiterverarbeiten zu können etwa zum Hausbau, und diese Grube hatte ein Holzgerüst, das wir datieren konnten um 1203, also wirklich in die Frühzeit von Cölln zurückreichend, und wir haben auch sowohl Keller als auch Häuser gefunden."
Und dort fanden sich, direkt auf dem märkischen Sand, verkohlte Fußboden-Bohlen, die man sogar in das Jahr 1198 datieren konnte: Ein erster Beweis, dass Berlin deutlich älter ist als das Dokument von 1237 besagt, und noch nicht der letzte.
Die Städte Cölln und Berlin prosperierten dank des Fernhandels: Kaufleute verschifften Getreide von den großen Ackerflächen des märkischen Umlands nordwärts zur Küste und verkauften im Gegenzug Tuche aus Flandern nach Osten. Bei Ausgrabungen vor dem heutigen, dem "Roten Rathaus" kamen die riesigen Gewölbe des alten Rathauses zutage, in denen die Händler ihre Waren lagerten. Der Doppel-Ort entwickelte sich zum führenden Geschäftszentrum der Region und wurde Mitglied der Hanse, der mächtigen Vereinigung unabhängiger Kaufmannsstädte. Warum war diese erfolgreiche, frühe Geschichte der Stadt so lange vergessen?
"Das hat vor allem den Grund, dass Berlin eine im 19. Jahrhundert massiv gewachsene Metropole ist, in der viele Leute zugezogen sind. Und der Wandel und der Wechsel der Bevölkerung ist eine Konstante in Berlin. Da ist es dann nicht möglich, ein Heimatbewusstsein zu entwickeln, das sich auch darin äußert, dass man alte Bauten hat, an denen sich diese Erinnerung an die Geschichte materialisieren kann. Wir haben kaum noch mittelalterliche Bauten in Berlin, die aufrecht stehen."
So setzte sich der irreführende Eindruck fest, Berlins Aufstieg habe erst mit den Herrschern aus dem Haus Hohenzollern begonnen: Weil praktisch nur die repräsentativen Bauten an der Prachtstraße Unter den Linden, wie der deutsche und der französischen Dom, die Universität und das Schloss, das bis zur Sprengung 1950 erhalten blieb, an die Vergangenheit erinnerten. Doch tatsächlich hatten die Hohenzollern es schwer, als sie im 15. Jahrhundert als Landesherren in der selbstbewussten Handelsstadt erstmals ein Schloss errichten wollten. Der Landesarchäologe Matthias Wemhoff erklärt, was man nicht mehr sieht:
"Natürlich sind die Strukturen der Bürgerstadt ganz ganz lange prägend und es sind eigentlich die mittelalterlichen Gebäude und Straßenzüge, in die sich dann die Residenz einfügen muss."
Die massive Beseitigung historischer Bauten setzte im 19. Jahrhundert ein: Gegen die unaufhaltsame, zerstörerische Dynamik der Industrialisierung konnten die bürgerlichen Geschichtsvereine, die Zeugnisse der Vergangenheit bewahren wollten, nichts ausrichten. Die Entwicklung verschärfte sich dann durch die Bombenschäden des Zweiten Weltkriegs und die ideologischen Vorgaben beim Wiederaufbau.
"Nach dem Krieg war die Beschäftigung mit Geschichte hier ein absolutes Tabu. Da hat sich der Westen nicht groß anders verhalten als der Osten. Aber hier haben wir natürlich diese dramatische Umgestaltung zur sozialistischen Staatsmitte gehabt. Da ging es wirklich darum, eine andere Vorstellung von Stadt zu realisieren und wer dagegen opponierte und wenn er nur Altes dokumentierte, hatte es sehr sehr schwer, bis sich das in den 80er-Jahren langsam etwas gebessert hat. Man sieht's vielleicht mit dem Nikolaiviertel, was dann entstanden ist."
Da oberirdisch fast alles abgeräumt wurde, können nur Archäologen noch Spuren der Vergangenheit sichtbar machen. Unter dem Pflaster der endlosen Plätze und der überbreiten Verkehrsachsen legen sie seit einigen Jahren immer neue Fußbodenplatten, Tonscherben und Ofenkacheln aus früheren Jahrhunderten frei – und finden immer ältere Zeugnisse der Besiedlung. Die erste schriftliche Erwähnung Berlins mag 775 Jahre zurückliegen, doch nach der neuesten Datierung entstanden erste Bauten schon ein gutes halbes Jahrhundert früher, berichtet Professor Wemhoff: Ein Holzbalken, in einer Ausgrabung freigelegt, wurde kürzlich auf das Jahr 1174 datiert. Bei den Berlinern, die so geschichtsvergessen schienen, stoßen die Archäologen jetzt auf überwältigendes Interesse:
"Wenn ich bedenke, dass weit über 10.000 Menschen die Führungen auf dem Petriplatz besucht haben, wenn ich sehe, was für einen Anklang das Rathaus gefunden hat und wie breit die Bevölkerung ist, die sich für den Erhalt der Reste einsetzt, dann merkt man, es findet eigentlich ein Umdenken statt, das - wenn man ehrlich ist – nach diesen historischen Brüchen auch gerade erst jetzt los gehen kann."
Faschismus und Kalter Krieg, Mauerbau und "Deutsche Demokratische Republik": Bis sich auch in den Köpfen die Zwänge auflösten, die von 1933 bis 1989 das Leben in Berlin vielfach bestimmten, hat es eben 20 Jahre gebraucht, meint Wemhoff.
Die neuen Erkenntnisse zur Geschichte der Handelsmetropolen Cölln und Berlin sollen künftig für Einwohner und Besucher an Originalorten erfahrbar werden: Unter dem wiederaufgebauten Schloss wird ein Gang des originalen Schlosskellers zur Besichtigung hergerichtet werden. Unter dem heutigen "Roten Rathaus", werden die Kellergewölbe wieder zugänglich sein, in denen im Mittelalter Tuche gelagert und verkauft wurden. Und der lange vernachlässigte Kern des alten Cölln wird durch einen Neubau aus der Vergessenheit geholt.
"Dann bin ich sehr froh, dass die Entscheidung gefallen ist zum Bau des Archäologischen Zentrums am Petriplatz. Das wird ganz entscheidend sein. Wir werden dort über der alten Lateinschule ein Gebäude errichten, das Archäologie vermittelt. Ich sage, es ist eine Archäologieschule."
Der Petriplatz ist schließlich nur allzu typisch für die jüngere Berliner Baugeschichte: Lange Zeit ein kahler Parkplatz am Rand einer vielspurigen Verkehrsachse mit gesichtslosen Hochhäusern, wurde seine historische Dimension erst in den Ausgrabungen von Claudia Melisch wieder erfahrbar:
"Das ist das Zentrum der mittelalterlichen Stadt Cölln gewesen, mit der Petrikirche, dem Rathaus und der Lateinschule. "
Die Reste des Cöllner Rathauses und der Petri-Kirche sind leider nicht mehr zugänglich. Die Grundmauern der Lateinschule jedoch, die im 13. Jahrhundert zur Ausbildung der Priester gegründet wurde, sollen im Keller des Archäologischen Zentrums erhalten werden. In den Stockwerken darüber werden Werkstätten eingerichtet und Funde ausgestellt, damit die Besucher sehen, wie Archäologie funktioniert. Von hier können sie dann zu einem Rundweg aufbrechen, der die wiederentdeckten Geschichtsorte in Cölln und Berlin erschließt.