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Schwerpunktthema: Menschenrechte für Massenmörder

Kann ein Mehrfachmörder oder -vergewaltiger je wieder ein "normaler" Mensch werden? Oder würde er nach seiner Haftentlassung rückfällig und muss in der Sicherungsverwahrung bleiben? Gutachter und Gerichte entscheiden darüber. Sie wägen ab zwischen den Menschenrechten des Häftlings - und dem Recht der Bevölkerung auf Schutz vor solchen Straftaten.

Von Ingeborg Breuer | 29.11.2012
    Mitte November dieses Jahres fällte die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Augsburg das Urteil: Michael W., der - als Tod verkleidet - im Jahr 2002 in das Zimmer der zwölfjährigen Vanessa eingebrochen war und sie dort mit 21 Messerstichen ermordete, kommt auch nach dem Verbüßen seiner zehnjährigen Haftstrafe nicht frei. Da bei dem Täter weiterhin eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, schwerste Gewalt- und Sexualdelikte zu begehen, muss er in nachträgliche Sicherungsverwahrung.

    "Jeder Richter, der darüber entscheidet, entscheidet das nicht aus eigenem Fachwissen heraus, sondern beauftragt in diesem Zusammenhang forensische Gutachter, Psychiater oder Psychologen."

    Michael Skirl, Leiter der Justizvollzugsanstalt Werl.

    "Die Frage konkret, die gestellt wird, lautet immer so: Liegt bei diesen konkreten Angeklagten ein Hang zur Begehung schwerer Straftaten oder einschlägigen Art vor? Im Wesentlichen sind das Gewalt- und Sexualstraftaten, durch die Opfer schwer traumatisiert werden können."

    Im Fall von Michael W. waren die Gutachter zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Während einer von ihnen die Rückfallwahrscheinlichkeit auf etwa über 50 Prozent einstufte, hielt ein zweiter dessen Freilassung – unter strengen Auflagen - für möglich. Und ein dritter war wegen mangelnder Qualität seiner Gutachten von seiner Aufgabe entbunden worden. Für Peter Asprion, Bewährungshelfer in Freiburg, zeigt sich darin die Problematik der Sicherungsverwahrung überhaupt:

    "Ich denke, dass da ein grundsätzliches Problem dabei ist. Die Männer, die Sicherungsverwahrung bekommen, das ist eine Zufallsauswahl aus meiner Sicht. Je nachdem, bei welchem Gericht und bei welchem Gutachter ich beurteilt werde, bekomme ich die SV oder eben nicht."

    Peter Asprion hält die Sicherungsverwahrung für ein willkürliches, ja inhumanes Instrument. Statt Gewaltverbrecher aus der Gemeinschaft zu verstoßen, müsse die Gesellschaft sich auf diese Menschen einlassen und sie unterstützen. Dass die Gesellschaft dazu aber nicht bereit ist, zeigte sich sinnfällig in Insel, einem 450-Seelen-Dorf in Sachsen-Anhalt. Seitdem sich dort zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter niedergelassen haben, kommt es immer wieder zu Protesten. Proteste, unter die sich auch Stimmen von Rechtsradikalen mischen, die nach der Todesstrafe rufen.

    "Raus aus Insel raus aus Insel … Wir kommen wieder, Tag und Nacht ..."
    Statistisch ist die Sicherungsverwahrung eher ein Randproblem des Strafvollzugs. Etwas mehr als 500 Sicherungsverwahrte sitzen in deutschen Gefängnissen, fast ausschließlich übrigens Männer. Im Vergleich dazu: Die Zahl der Strafgefangenen betrug im Jahr 2011 ungefähr 60.000. Und dennoch zählt die Sicherungsverwahrung zu den umstrittensten Maßnahmen im deutschen Strafrecht. Denn zur Frage steht, wie weit ein Rechtsstaat die Freiheitsrechte eines Straftäters einschränken darf, um die Gesellschaft zu schützen. Wie zuverlässig die Gutachten sind. Und wie man mit 'unverbesserlichen' Gewaltverbrechern überhaupt umgehen soll. Damit steht das Thema "Sicherungsverwahrung" im Schnittpunkt juristischer, aber auch ethischer und sogar psychiatrisch–neurowissenschaftlicher Erwägungen und Erkenntnisse.

    "Sicherungsverwahrung ist eine Herausforderung für den Rechtsstaat, ja. Weil, durch die Sicherungsverwahrung wird berührt die grundsätzliche Frage Individualrechte des Einzelnen, auch des Straftäters, der ja seine Grundrechte nicht an der Garderobe abgegeben hat und andererseits dem Schutzanspruch der Bevölkerung vor weiteren Straftaten, die ja eine der vornehmsten Aufgaben des modernen Rechtsstaates ist."

    Für den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder war es 2001 klar: "Wegsperren – und zwar für immer" war seine griffige Parole für Kinderschänder und Sexualstraftäter. Er wusste sich einig mit Volkes Stimme. Die Anforderungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung wurden zunehmend gesenkt. Doch bereits Ende 2009 erhob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Einspruch: Einige der Gesetze verstießen gegen die europäische Menschenrechtskonvention. Und im Frühjahr 2011 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die bisherige Regelung der Sicherungsverwahrung grundgesetzwidrig sei und bis Ende Mai 2013 neu geregelt werden müsse. Der Bundestag hat deshalb am 8. November ein neues Gesetz zur Sicherungsverwahrung beschlossen. Und trotz der Bedenken einiger Länder konnte dieses Gesetz am vergangenen Freitag auch den Bundesrat passieren.

    "Die SV ist für mich ne Todesstrafe. Die Strafzeit, das seh' ich ein. Aber dass sie danach so lange vollstreckt wird, wo sich niemand um uns kümmert, und wenn das nicht gekommen wäre vom Europäischen Gerichtshof, dann hätt' ich ja hier gesessen bis zum Tode."

    So ein Sicherungsverwahrter in der JVA Berlin Tegel. Die Sicherungsverwahrung ist sozusagen Strafe plus X. Sie wird verhängt, wenn ein Täter auch nach Absitzen seiner Strafe noch als gefährlich gilt. Nun hat aber ein Täter, der seine Strafe abgesessen hat, seine Schuld "abgebüßt". Und in Deutschland gilt der Rechtsgrundsatz: "Keine Strafe ohne Schuld". Der Straftäter wäre also freizulassen. Allerdings hat auch die Öffentlichkeit das Recht, vor Menschen geschützt zu werden, deren "Hang" zu weiteren Gewaltdelikten auch in der Haft möglicherweise nicht vergangen ist. Prof. Dr. Peter Falkai, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München:

    "Das Entscheidende ist, dass wenn man sich in die Biografie eines Menschen hineindenkt, dass man durchaus in der Lage ist, dass man abschätzt, ist der Hang so groß, dass der Mann in die Sicherungsverwahrung muss oder nicht. Das kann ein Fachmann."

    Doch auch "Fachmänner" geben zu, dass sie sich irren. Statistiken über entlassene Sicherungsverwahrte zeigten nur eine niedrige Rückfallquote. Die Zahl der irrtümlich für gefährlich Gehaltenen, so auch Fachleute, dürfte deutlich höher sein als die Zahl der irrtümlich als 'gebessert' Begutachteten. Nicht zuletzt deshalb, weil ein Gutachter natürlich in die Kritik gerät, wenn ein von ihm positiv Begutachteter in Freiheit eine neue Straftat begeht. Prof. Gerhard Roth, Neurobiologe an der Universität Bremen:

    "Sicherungsverwahrung ist äußerst problematisch, weil man dann etwas aussagt, was man gar nicht sagen kann: Der wird sich in 25 Jahren nicht verbessert haben und deshalb wird er weiter weggesperrt. Woher wissen die das? Das kann sein, muss aber nicht sein. Wenn man sieht, wie diese Untersuchungen gemacht werden, es sträuben sich einem die Nackenhaare. Es wird absolut dilettantisch gemacht, ohne jedes wissenschaftliche Rüstzeug."

    Michael Skirl, Leiter der JVA Werl, bestätigt die Unsicherheit der Prognosen. Als aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs in Werl einsitzende Sicherungsverwahrte entlassen werden mussten, stellte er fest:

    "Wir hatten zum Beispiel ganz konkret im zweiten Halbjahr 2010 eine Anzahl von 14 oder 15 Entlassungen. Die haben wir nicht alle für brandgefährlich gehalten, diese Leute, aber doch vier oder fünf von denen, da wären wir nicht im Traum auf die Idee gekommen, die zur Entlassung vorzuschlagen. Die haben mit uns über jahrelang nicht kooperiert und auch nicht mehr kommuniziert, von therapeutischen Aufarbeitungen ganz zu schweigen. Und von denen sind zwei bisher, der eine ist schon rechtkräftig verurteilt, der andre sitzt mit Vorwurf einer Sexualstraftat in Untersuchungshaft."

    Peter Asprion, Bewährungshelfer in Freiburg, schrieb ein Buch mit dem Titel "Gefährliche Freiheit?". Für ihn unterhöhlt die Sicherungsverwahrung den Rechtsstaat. "Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren", zitiert Asprion Benjamin Franklin. Und das heißt für ihn: Wir müssen die Freiheit der möglicherweise Gefährlichen ertragen, um unsere eigene Freiheit zu erhalten. Fazit:
    "Keine Sicherungsverwahrung. Auch wie das Verfassungsgericht sagt, schon während der Strafhaft therapeutische Bemühungen und ihn dann ordentlich vorbereitet entlassen."

    Nicht alle Länder kennen die Regelung der Sicherungsverwahrung. Allerdings wird dort der Schutz der Öffentlichkeit vor künftigen Straftaten oft durch eine deutlich längere Strafdauer als in Deutschland gewährleistet. Für Prof. Hans Ludwig Kröber, Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin, gibt es deshalb auch keinen Grund, von der Haft nach der Haft Abstand zu nehmen.

    "Sie werden nicht zu Unrecht in dem Gefängnis gehalten, sondern weil sie durch ihr bisheriges Leben und ihre bisherigen Straftaten verdeutlicht haben, dass bei ihnen ein weit überdurchschnittliches Sicherheitsrisiko da ist. Wenn Sie in ein Flugzeug steigen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent abstürzt, würden Sie wahrscheinlich keinen Fuß da reinsetzen."

    Auch das Bundesverfassungsgericht forderte in seiner Rechtsprechung nicht die Abschaffung der Sicherungsverwahrung. Es erklärte im Mai 2011 das bis dahin geltende Gesetz für "verfassungswidrig", weil das sogenannte "Abstandsgebot" nicht ausreichend umgesetzt sei. Da der Sicherungsverwahrte ja keine Schuld mehr verbüße, müsse er anders – sprich privilegierter – behandelt werden als der Strafgefangene. Er habe Anspruch auf einen "freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug".

    "Ja et geht, et is angenehm, man freut sich aufn Besuch, wenn er kommt. Meine Mutter sacht immer, solang ich dat kann, komm ich ... sie wird 83."

    Werner J. sitzt seit 2005 in der Justizvollzugsanstalt Werl. Im August 2012 wechselte er dort in die Sicherungsverwahrung. Die JVA Werl soll künftig Sicherungsverwahrte aus ganz NRW aufnehmen – 150 Plätze sind geplant. Da diese Verwahrten nach der neuen Gesetzgebung getrennt von "normalen" Häftlingen untergebracht werden müssen, wird die Anstalt jetzt mit hohem Aufwand erweitert. Geschätzte Gesamtkosten: 80 Millionen Euro. Werner J. empfindet schon jetzt den Unterschied zur Strafhaft.

    "Is ein Unterschied im Gegensatz zum Strafvollzug, allein schon die Türen den ganzen Tag auf, tragen von Privatkleidern, größere Geräte oder auch Anlage is möglich."

    "Ja, die Strafgefangenen haben zwei Stunden Besuch pro Monat und die Sicherungsverwahrten das Doppelte, also vier Stunden. Dazu kommt noch dieser sogenannte unüberwachte Langzeitbesuch, den dieser Sicherungsverwahrte mit seiner Mutter verbringt, je zweimal im Monat drei Stunden oder einmal sieben Stunden."

    Therapie- und Sporteinrichtungen müssen bis Mai nächsten Jahres geschaffen, Arbeitsplätze angeboten werden. Und natürlich muss sich auch die Unterbringung deutlich von der der Strafgefangenen unterscheiden. 7,5 qm misst die Zelle in der Haftanstalt. Die der Sicherungsverwahrten muss größer sein.

    "Sie sehen, das ist eine solche von 11,5 qm mit Farbgebung nach eigener Wahl, man kann sich aussuchen es gibt die größeren Fenster, es gibt die Möglichkeit Gardinen vorzumachen, das gibt's da drüben nicht. Die Einrichtung ist eine umfänglichere, das Fernsehgerät darf größer sein, die Musikanlage."

    Auch die sogenannte "nachträgliche Sicherungsverwahrung" wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für menschenrechtswidrig erklärt und kommt in dem gerade reformierten Gesetz nicht mehr vor. Bis dahin durfte die Sicherungsverwahrung auch nach der Verurteilung, ja sogar noch gegen Ende der Haft verhängt werden, wenn die hochgradige Gefährlichkeit und eine "psychische Störung" des Täters erst dann erkennbar wurden. Was aber ist eine "psychische Störung"? Insbesondere Psychiater verwiesen auf die Unschärfe des Begriffs. Ein psychisch Kranker ist ja nach dem Gesetz schuldunfähig. Eine "psychische Störung" muss also unterhalb der Krankheitsschwelle liegen, ist aber eben weniger als psychisch gesund. Heißt das dann auch – vermindert schuldfähig? Doch die Gesundheit des Täters war ja schon bei der Verurteilung festgestellt worden, anderenfalls wäre er ein Fall für die Psychiatrie geworden.

    "Die ganzen Jahre, wo ich verurteilt wurde, war ich auch gesund. Auf einmal wird das von heute auf morgen festgelegt, der Mann ist psychisch krank. Das kann's nicht sein."

    Prof. Peter Falkai, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München:

    "Als Psychiater bin ich Arzt, das heißt, ich werde mich bemühen festzustellen, ist jemand krank und wie nenn ich die Krankheit, um da eine Therapie vorzuschlagen. Da ist meines Erachtens das Hauptproblem bei den Sicherungsverwahrten, denn wenn man die Definition so fasst, wie sie häufig gefasst wird, dass man quasi diese Menschen, die ein hohes Gewaltpotenzial in sich bergen, in den Topf einer psychischen Erkrankung hineingibt. Viel mehr gefällt mir, den Begriff des Hangs zu nehmen. Also, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine erneute Straftat verübt wird. Und da muss man nicht unbedingt eine Prognose oder eine psychische Krankheit bemühen."

    Von einer anderen Seite wird aber die Frage nach Schuld und Strafe, nach Krankheit und Therapie in einer grundsätzlichen Weise neu gestellt. Für die Neurobiologie kommt nämlich das Schuldprinzip insgesamt ins Wanken, insofern sich gerade bei der Gruppe der Intensivstraftäter schwere hirnphysiologische Auffälligkeiten aufweisen lassen. Prof. Gerhard Roth, Neurobiologe an der Universität Bremen:

    "Die sind die Unverbesserlichen, bei denen sind genetische Gründe ganz stark, die haben eine katastrophale Bindungserfahrung. Und sie haben als Konsequenz keinerlei Empathie, die sind reuelos, gewissenlos, und sie haben eine Unfähigkeit, aus negativen Dingen zu lernen. Die kann man einsperren, wie man will, die haben ein Gehirndefizit im Lernen aus negativen Konsequenzen. Und das ist die kleine, aber spektakuläre Gruppe der Psychopathen, also der Schwerstverbrecher, die man bis jetzt auch nicht therapieren kann."

    Es sind jene Menschen, bei denen auch Abschreckung – durch Strafe – nicht hilft. Doch nicht, weil sie sozusagen frei "das Böse" wählen. Sondern "das Böse" hat letztlich "krankhafte" Ursachen. Der Straftäter – und Gerhard Roth meint damit letztlich jeden Straftäter – ist also eher krank, aber nicht im herkömmlichen Sinn schuldig.

    "Ein normaler Mensch, egal wie seine Triebe und Gene sind, kann sich gegen das Unrecht und für das Recht entscheiden, so ist die klassische Definition. Die Interpretation geht auf Kant zurück, wir alle können, wenn wir uns zusammenreißen, aus reinem Rechtsgewissen gegen unsere Motive handeln. Die moderne Psychologie und Neurobiologie sagt, das ist ein Widerspruch in sich selber, man kann sich nicht von seinen Motiven trennen und dagegen handeln, das ist völlig unmöglich. Viele und die wichtigsten Motive gehen auf unsere Gene zurück, auf unser vorgeburtliches Schicksal, unser frühkindliches Bindungsverhalten, und nachher ist nur noch wenig Spielmasse da. Also Schuld in dem klassischen Sinn ist kein richtiger Begriff; Schuld gibt es nicht, ist ja auch eigentlich ein theologischer Begriff, der von Augustinus kommt."

    Der forensische Psychiater Hans Ludwig Kröber erschrickt angesichts solcher Thesen. Für Neurobiologen, meint Kröber, sei der Straftäter eine Art "hirngesteuerter Rückfallautomat". Und ihn zu einem Kranken zu machen, der keine Verantwortung mehr für sich übernehmen kann, heiße zugleich, ihn aus der Gesellschaft auszuschließen – und schaffe zudem ein enormes Machtgefälle.

    "Mir graust bei der Vorstellung, dass mit dieser Selbstverständlichkeit den Menschen abgesprochen wird, Verantwortung für sich selbst übernehmen zu können und für ihre Handlungen, dass dann solche paternalistischen Versorgungs- und Besserungssysteme errichten werden. Und das Expertentum von irgendwelchen Neurowissenschaftlern, die erklären, sie haben zu wenig Frontallappen, dann dazu führt, dass man einem Interventionsregime unterworfen wird, auf das ich gar keine Einflussmöglichkeiten mehr habe."

    Gerhard Roth weist allerdings den Vorwurf eines neurowissenschaftlichen Zwangsregimes weit von sich. Zwangstherapien lehnt er ebenso ab wie eine unbefristete lebenslange Sicherungsverwahrung. Vielmehr plädiert er für eine Verbesserung therapeutischer Angebote. Dies übrigens auch schon für Gewalttäter, die in Strafhaft sitzen, sozusagen als Präventionsmaßnahme vor der Sicherungsverwahrung. Oder sollte man - aus präventiven Gründen - gar schon die Hirne gefährdeter Kinder und Jugendlicher scannen – um rechtzeitig mit einer Therapie zu beginnen? Kritiker warnen vor einer sogenannten "Neuroherrschaft". Irgendwann, so fürchten sie, würden nicht mehr Richter, sondern der Kernspin darüber entscheiden, wie mit einem Straftäter umzugehen ist.

    "Wenn ich bestimmte Tests mache, kann ich sagen, der hat in bestimmten Teilen des Gehirns, Amygdala oder präfrontaler Cortex, hat der deutliche Schäden so wie andere psychisch Kranke, dann ist der Kern seines Defizits mangelnde Impulshemmung oder fehlende Empathie. Und da muss ich ansetzen, dann guckt der Psychologe und fragt den Hirnforscher und beide sagen im Idealfall, das ist das Kernsymptom. Oder man sieht, einer ist reuelos und kann aus seinen Fehlern nicht lernen, da guckt man auch ins Gehirn und sagt, das ist ein Psychopath im klinischen Sinne und da müssen wir uns andere Dinge überlegen. Und das macht man als Psychiater, Neurobiologe und daraufhin versucht man eine Therapie zu entwickeln."

    Auch das neu beschlossene Gesetz betont das Recht des Sicherungsverwahrten auf einen "therapiegerichteten Vollzug" sowie auf besondere Betreuung. Allerdings kann dieser eine solche Therapie auch ablehnen. Zum Beispiel, weil er Angst davor hat, was dort noch alles über seine Persönlichkeit zutage kommt.

    "Darum mach ich hier auch keine Gespräche, weil, ich wurde schon psychisch krank geredet, und dann mach ich hier noch Gespräche und dann wer ich auch noch psychisch krankgeschrieben, ne mach ick nich."

    "Dafür gibt es Grenzen in der Persönlichkeit, aber auch bestimmte Zeitfenster. Und wir müssen uns immer wieder klar machen, dass wenn jemand in der SV angekommen ist, dann hat er in aller Regel eine 20-, 30-jährige strafrechtliche Karriere hinter sich, mit entsprechenden vielfachen Strafverbüßungen, in denen immer auch durch ne schulische oder ne berufliche Förderung oder durch Therapieversuche oder andere Maßnahmen versucht worden ist, ihn sozusagen auf den rechten Weg zu bringen. Diese Versuche sind fehlgeschlagen, sonst wäre er ja nicht in der Sicherungsverwahrung."

    Doch – bei allem Realismus – will der Leiter der JVA Werl, Michael Skirl, die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht auch deshalb, weil alles andere der Menschenwürde, wie sie im Grundgesetz verankert ist, widerspräche. Natürlich trägt der Rechtsstaat Verantwortung für die Sicherheit der Bevölkerung. Doch auch Straftäter haben Rechte – und ihnen darf die Chance nicht verwehrt werden, wieder ein Teil der Gesellschaft zu werden.
    "Prinzipiell ist die Sicherungsverwahrung unbefristet und das ist nicht angefochten. Auf der anderen Seite gibt uns die Verfassung vor, keinen einzigen Menschen aufzugeben, auch den, bei dem es schwierig ist, auch derjenige, für dessen Störungsbild es im Moment vielleicht noch überhaupt keine Therapie gibt. Auch der soll prinzipiell nicht ohne Hoffnung sein. Und selbst wenn man einem Verwahrten sagen muss, du hast schon viele Therapien erfolglos versucht, im Moment wissen wir für dein Störungsbild keine Therapie. Aber das kann sich auch ändern."