Kapitel I: Neue Hoffnungen, alte Befürchtungen und der Georgien-Krieg
Für die nie einfache Beziehung zwischen Russland und dem Westen begann das Jahr 2008 gar nicht so schlecht. Als Henry Kissinger, dem niemand Sentimentalität in der Außenpolitik nachsagen kann, kurz nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Medwedew Ende Juni Moskau besuchte, empfand er sich als "Zeuge einer der vielversprechendsten Phasen russischer Geschichte". Der Einfluss moderner offener Gesellschaften auf das Land und umgekehrt seine Interaktion mit ihnen sei heute intensiver als je zuvor - trotz repressiver Maßnahmen. Mit Geduld und Verständnis für Russlands Geschichte, so Kissingers Empfehlung, sei es für den Westen nun möglich, stärker auf die Politik des Landes einzuwirken als mit beleidigter Distanzierung und öffentlichen Vorhaltungen. Dann kommt der Georgien-Krieg. Begonnen wird er durch den Einfall georgischer Truppen in die Enklave Südossetien, auch wenn die törichte Aktion möglicherweise durch russische Provokationen herausgefordert wurde. Aber dann geht Moskau gegen das kleine Land mit aller Brutalität des Mächtigen vor, als habe es nur darauf gewartet, an der aufmüpfigen Tifliser Führung ein Exempel zu statuieren. Carl Bildt, der Außenminister Schwedens, formuliert, was viele im Westen und nicht nur in den Ländern an Russlands Rand empfinden: "Es sieht so aus, als ob wir es mit einem Russland zu tun haben, das ins 19. Jahrhundert zurückfällt, während unser Teil von Europa sich anstrengt, im 21. Jahrhundert anzukommen".
2008 ruft so in westlichen Köpfen das nie ganz verschwundene und geschichtlich nicht abwegige Misstrauen gegen das riesige, fremde Land im Osten wach, das in seiner Geschichte nie richtig Teil von Europa wurde und in Gestalt der Sowjetunion im Kalten Krieg den ganzen Kontinent bedrohte. Heute schwingt sogar, je weiter man nach Westen kommt, ein Gefühl mit von achselzuckender Gleichgültigkeit, solange Russland nur weiterhin, wie schon zu Sowjet-Zeiten, den Energiebedarf der Europäer decken hilft. In Moskauer Köpfen dagegen verfestigt sich 2008 offenbar das vom Kreml geschürte Feindbild vom Westen, allen voran den Vereinigten Staaten, von Gleichgültigkeit keine Rede. Hier ist der Nährboden für antiwestliche Ressentiments nicht der Kalte Krieg, sondern die Zeit seither. Sie brauen sich zusammen aus einem doppelten Gefühl der Kränkung: weil dieser Westen die ersten Schwächejahre des neuen Russland arrogant ausgenutzt habe, um die Nato weiter nach Osten vorzuschieben, und dem nun erstarkten Russlands Respekt und Mitsprache vorenthält. Der Georgien-Konflikt, der im Westen gern als Rückfall in Verhaltensweisen des alten Russlands gedeutet wird, ist für die Moskauer Führung Selbstbehauptung des neuen Russland gegenüber fremder Bevormundung. Von der Einschätzung Kissingers, wir seien Zeuge einer der vielversprechendsten Phasen russischer Geschichte, scheint der heutige Zustand daher meilenweit entfernt. Und dennoch: Könnte er Recht behalten? Wäre es möglich, mit Geduld und Einfühlung in die geschichtlichen Gegebenheiten des Landes die Verhärtung russischen Machtdenkens aufzuweichen und die Basis für eine Zusammenarbeit, zumindest Verträglichkeit, zwischen Russland und dem Westen zu legen, wie sie in der globalisierten Welt unersetzlich wäre?
Für viele im Westen ist am Ende des Jahres 2008 die Versuchung groß, sich nach Georgien dem Spiel der Schuldzuweisung hinzugeben, bei dem das autokratische, auftrumpfende Russland Putins und Medwedews von vornherein verliert. Dieses Spiel wollen wir heute nicht mitspielen, sondern stattdessen prüfen, ob die Entfremdung der zweiten Jahreshälfte 2008 zwischen Russland und dem Westen zur Regel zu werden droht oder uns die Hoffnung auf ein besseres 2009 bleibt.
2008 ruft so in westlichen Köpfen das nie ganz verschwundene und geschichtlich nicht abwegige Misstrauen gegen das riesige, fremde Land im Osten wach, das in seiner Geschichte nie richtig Teil von Europa wurde und in Gestalt der Sowjetunion im Kalten Krieg den ganzen Kontinent bedrohte. Heute schwingt sogar, je weiter man nach Westen kommt, ein Gefühl mit von achselzuckender Gleichgültigkeit, solange Russland nur weiterhin, wie schon zu Sowjet-Zeiten, den Energiebedarf der Europäer decken hilft. In Moskauer Köpfen dagegen verfestigt sich 2008 offenbar das vom Kreml geschürte Feindbild vom Westen, allen voran den Vereinigten Staaten, von Gleichgültigkeit keine Rede. Hier ist der Nährboden für antiwestliche Ressentiments nicht der Kalte Krieg, sondern die Zeit seither. Sie brauen sich zusammen aus einem doppelten Gefühl der Kränkung: weil dieser Westen die ersten Schwächejahre des neuen Russland arrogant ausgenutzt habe, um die Nato weiter nach Osten vorzuschieben, und dem nun erstarkten Russlands Respekt und Mitsprache vorenthält. Der Georgien-Konflikt, der im Westen gern als Rückfall in Verhaltensweisen des alten Russlands gedeutet wird, ist für die Moskauer Führung Selbstbehauptung des neuen Russland gegenüber fremder Bevormundung. Von der Einschätzung Kissingers, wir seien Zeuge einer der vielversprechendsten Phasen russischer Geschichte, scheint der heutige Zustand daher meilenweit entfernt. Und dennoch: Könnte er Recht behalten? Wäre es möglich, mit Geduld und Einfühlung in die geschichtlichen Gegebenheiten des Landes die Verhärtung russischen Machtdenkens aufzuweichen und die Basis für eine Zusammenarbeit, zumindest Verträglichkeit, zwischen Russland und dem Westen zu legen, wie sie in der globalisierten Welt unersetzlich wäre?
Für viele im Westen ist am Ende des Jahres 2008 die Versuchung groß, sich nach Georgien dem Spiel der Schuldzuweisung hinzugeben, bei dem das autokratische, auftrumpfende Russland Putins und Medwedews von vornherein verliert. Dieses Spiel wollen wir heute nicht mitspielen, sondern stattdessen prüfen, ob die Entfremdung der zweiten Jahreshälfte 2008 zwischen Russland und dem Westen zur Regel zu werden droht oder uns die Hoffnung auf ein besseres 2009 bleibt.
Kapitel II: Der neue Mann im Kreml – Wofür steht Dimitri Medwedew?
Was waren die Gründe für die hoffnungsvollen Erwartungen, die nicht nur Henry Kissinger, sondern auch mancher in den europäischen Hauptstädten zu Beginn dieses Jahres hegte? Vermutlich zwei, die beide durch den Wechsel an der russischen Staatsspitze bestimmt waren. Nicht nur hatte Wladimir Putin allem Drängen widerstanden, die russische Verfassung durch eine dritte Wiederwahl zu umgehen; an seine Stelle als Staatspräsident war mit Dimitri Medwedew ein Mann der neuen Generation gewählt worden, der dies zwar allein Putin verdankte und von dessen Rückhalt abhängen würde, der zugleich aber für neue, den Westen ermutigende Vorhaben zu stehen versprach. Sein Programm für das neue Russland skizziert Medwedew vor dem Westen im vergangenen Juni in Berlin: ein modernes, weltoffenes, europäisches Land mit demokratischen Werten, das seine Integration in die globale Wirtschaft akzeptiert und verantwortlich international engagiert ist. Der neue Präsident benennt unumwunden die wachsenden inneren Probleme, die er anzupacken gedenkt: Die Korruption will er besiegen, das Sozial- und Gesundheitssystem erneuern, den Militärapparat reformieren.
Mit dem Kaukasus-Krieg besteigt dann ein ganz anderer Medwedew die Weltbühne: ein Möchtegern-Putin, der sich mit markigen Worten den Anschein von Führungsstärke zu geben versucht. Offenbar geht es ihm darum, zuhause seine Position zu festigen, und draußen der Welt zu zeigen, dass Russland wieder eine Großmacht ist, die Respekt und Anerkennung einfordern kann. Der Krieg, so sagte er später, sei ein Augenblick der Wahrheit gewesen. Kann ein solches Russland ein Partner für den Westen sein? Wohl kaum. Aber das schöne Großmacht-Gefühl währt nur kurz. Wenige Wochen später schlägt die Weltwirtschaftskrise auch in Russland zu. Die Börse stürzt ab, der Preis für Rohöl und damit bald für Gas, im Juni noch bei über 140 Dollar pro Fass, fällt auf 40 Dollar. Die Kapitalflucht aus Russland grassiert. Die großen Unternehmen des Landes, die sich bei westlichen Banken hoch verschuldet haben, bangen um ihre Zukunft. Gewiss, die Krise trifft alle Staaten und Regime. Aber es trifft solche besonders hart, deren politische Stabilität von Rohstoff-Preisen bestimmt wird. Die seit Ende 1998 rasch wachsenden Erlöse schufen die Grundlage nicht nur für das rasante russische Wachstum der letzten zehn Jahre, sondern zugleich für die Legitimität der autoritären Herrschaftsentwicklung unter Putin wie für den Großmachtanspruch des neuen Russland. Diese Grundlage kommt nun bedenklich ins Rutschen. Die Wirtschaftskrise berührt das politische System, das Putin schuf und Medwedew reformieren will, in seinen Grundfesten. Nicht nur das: sie demonstriert auch unübersehbar die Realität der russischen Abhängigkeit von guten Beziehungen zum Westen. Der Westen, Europa zumal, benötigt Energie aus Russland. Aber Russland braucht umgekehrt viel mehr: Neben dem auch auf lange Sicht alternativlosen europäischen Absatzmarkt für Energie - die Pipelines kann man nicht einfach in Richtung anderer Märkte umpflanzen - vor allem westliches Kapital und westliche Technologie. Wer Russland reformieren will, kann das nur durch Zusammenarbeit mit dem Westen. Das weiß auch Medwedew. Anfang November spricht er zum ersten Mal als Präsident vor der russischen Föderalversammlung. Die Rede erregt Aufsehen im Westen, weil er darin, tollpatschig genug am Tag nach der Wahl Barack Obamas in den USA, die Aufstellung von Raketen ankündigt, die von Königsberg aus notfalls die Raketenabwehranlage in Polen "neutralisieren" sollen. In Wahrheit ist dies nur ein kleiner Appendix zu einem umfassenden, ehrgeizigen Reformfahrplan zuhause: für mehr Transparenz der Verwaltung, für mehr Rechtsstaat. Der Präsident, der durch diese Prioritäten einst Kissinger Hoffnung einflößte, ist trotz Kaukasus davon nicht abgerückt. Auch wenn die Repressionen gegen politische Gegner andauern, wie die Fernsehbilder der Tage vor Weihnachten erneut ins Bewusstsein des Westen rufen – sie bezeugen, wie nervös das Regime ist.
Mit dem Kaukasus-Krieg besteigt dann ein ganz anderer Medwedew die Weltbühne: ein Möchtegern-Putin, der sich mit markigen Worten den Anschein von Führungsstärke zu geben versucht. Offenbar geht es ihm darum, zuhause seine Position zu festigen, und draußen der Welt zu zeigen, dass Russland wieder eine Großmacht ist, die Respekt und Anerkennung einfordern kann. Der Krieg, so sagte er später, sei ein Augenblick der Wahrheit gewesen. Kann ein solches Russland ein Partner für den Westen sein? Wohl kaum. Aber das schöne Großmacht-Gefühl währt nur kurz. Wenige Wochen später schlägt die Weltwirtschaftskrise auch in Russland zu. Die Börse stürzt ab, der Preis für Rohöl und damit bald für Gas, im Juni noch bei über 140 Dollar pro Fass, fällt auf 40 Dollar. Die Kapitalflucht aus Russland grassiert. Die großen Unternehmen des Landes, die sich bei westlichen Banken hoch verschuldet haben, bangen um ihre Zukunft. Gewiss, die Krise trifft alle Staaten und Regime. Aber es trifft solche besonders hart, deren politische Stabilität von Rohstoff-Preisen bestimmt wird. Die seit Ende 1998 rasch wachsenden Erlöse schufen die Grundlage nicht nur für das rasante russische Wachstum der letzten zehn Jahre, sondern zugleich für die Legitimität der autoritären Herrschaftsentwicklung unter Putin wie für den Großmachtanspruch des neuen Russland. Diese Grundlage kommt nun bedenklich ins Rutschen. Die Wirtschaftskrise berührt das politische System, das Putin schuf und Medwedew reformieren will, in seinen Grundfesten. Nicht nur das: sie demonstriert auch unübersehbar die Realität der russischen Abhängigkeit von guten Beziehungen zum Westen. Der Westen, Europa zumal, benötigt Energie aus Russland. Aber Russland braucht umgekehrt viel mehr: Neben dem auch auf lange Sicht alternativlosen europäischen Absatzmarkt für Energie - die Pipelines kann man nicht einfach in Richtung anderer Märkte umpflanzen - vor allem westliches Kapital und westliche Technologie. Wer Russland reformieren will, kann das nur durch Zusammenarbeit mit dem Westen. Das weiß auch Medwedew. Anfang November spricht er zum ersten Mal als Präsident vor der russischen Föderalversammlung. Die Rede erregt Aufsehen im Westen, weil er darin, tollpatschig genug am Tag nach der Wahl Barack Obamas in den USA, die Aufstellung von Raketen ankündigt, die von Königsberg aus notfalls die Raketenabwehranlage in Polen "neutralisieren" sollen. In Wahrheit ist dies nur ein kleiner Appendix zu einem umfassenden, ehrgeizigen Reformfahrplan zuhause: für mehr Transparenz der Verwaltung, für mehr Rechtsstaat. Der Präsident, der durch diese Prioritäten einst Kissinger Hoffnung einflößte, ist trotz Kaukasus davon nicht abgerückt. Auch wenn die Repressionen gegen politische Gegner andauern, wie die Fernsehbilder der Tage vor Weihnachten erneut ins Bewusstsein des Westen rufen – sie bezeugen, wie nervös das Regime ist.
Kapitel III: Von der Ausgrenzung Russlands zu gemeinsamen Interessen?
Medwedew steht mit seinen Vorhaben nicht allein, er kann - das macht dieser kurz darauf deutlich - auf die Rückendeckung Putins zählen, des starken Mannes und jetzigen Regierungschefs. Und während die besten Pläne an den russischen Realitäten scheitern können, so auch die beste Erkenntnis von der Notwendigkeit enger Zusammenarbeit mit westlichen Gegenübern an deren fehlendem Verständnis. Moskau ist schnell bei der Hand mit dem Vorwurf, daran habe es vor allem den USA unter Bush, aber nicht nur denen, gemangelt. Und so ungerechtfertigt ist der Vorwurf nicht, vor allem, wenn es um Entwicklungen innerhalb Russlands und in seinem unmittelbaren Nachbarschaftsbereich geht. Die heftige westliche Kritik an der autoritären Machtpraxis des Kreml wird als arrogante Einmischung, gar als Versuch der Destabilisierung des Regimes verübelt. Und im ständigen Vordringen der Nato in die russische Peripherie sieht das Moskauer Establishment nicht nur eine Gefährdung, sondern mehr noch eine Geringschätzung.
In der Tat hat der Westen in dieser Region allenfalls atmosphärisch auf russische Forderungen nach Rücksichtnahme reagiert, nie in der Substanz. Dabei fehlte es an Warnungen des Kreml nicht, insbesondere was Nato-Ausweitung und Raketenabwehr anbelangt. Doch sie wurden in den Wind geschlagen, Georgien und Ukraine noch im April dieses Jahres die Aufnahme in die Nato grundsätzlich zugesagt. So verwunderlich ist es dann nicht, wenn die russische Führung den Kaukasus-Krieg als Beweis sehen will, dass Moskau sich endlich zu wehren weiß. Aber hätte es wirklich dieses Beweises bedurft, um endlich im Westen die Erkenntnis zu mehren, dass eine Strategie der Ausgrenzung Russlands jede Moskauer Bereitschaft verschüttet, nach gemeinsamen oder wenigstens vereinbaren Interessen zu suchen? Es wäre doch gar nicht so schwer, solche Interessen auszumachen. Nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, wo sie offenkundig sind, und nicht nur in globalen Fragen wie der Verhinderung nuklearer Proliferation in Nord-Korea oder Iran. Selbst in der sensiblen Region, die zwischen der Ostgrenze der EU und der Westgrenze Russlands liegt, streben beide Seiten zwar Einfluss an, aber keine hat ein Interesse an Destabilisierung, gar militärischen Abenteuern. Und beide können mit dem Status quo leben, solange der andere ihn nicht grundsätzlich infrage stellt. Mit anderen Worten: Es gibt sehr viel mehr übereinstimmende als entgegengesetzte Interessen zwischen Russland und dem Westen. Nichts wäre deshalb falscher, als vorschnell Unvereinbarkeit zu unterstellen. Ob und wo es Gegensätze gibt, zeigt sich das nicht durch automatische Reflexe, nur durch gründliche Prüfung. Wenn diese Prüfung dann zu dem Ergebnis der Unvereinbarkeit gelangt, kommt es umso mehr darauf an, dass die Gegensätze ohne unnötige Provokation ausgetragen werden. Da könnte die EU, die von Russland nicht als bedrohlich empfunden wird, leisten, was die Nato nicht kann. Beispiel Ukraine: Natürlich muss dem Westen daran liegen, Eigenständigkeit und Demokratie dort zu stützen. Eine Nato-Mitgliedschaft des Landes wäre dafür nicht einmal theoretisch optimal; denn die in ihren Loyalitäten gespaltene Ukraine würde durch einen Beitritt beim empörten Russland Gegenmaßnahmen auslösen, gegen welche die Nato sie kaum absichern könnte.
Mit Geduld und Verständnis für seine Geschichte, so Kissingers Empfehlung zu Beginn des Jahres, sei es für den Westen möglich, stärker auf Russland einzuwirken als mit beleidigter Distanzierung und öffentlichen Vorhaltungen. Man muss hinzufügen: oder mit Ausgrenzung und Nichtbeachtung. Dies waren die Kapitalfehler der Regierung von Präsident Bush, der noch von der Erfahrung des Kalten Krieges und dem Gefühl amerikanischer Übermacht danach geprägt war. Auch insofern erhöht die Wahl von Barack Obama zum neuen Präsidenten der USA die Chancen eines neuen Anfangs. Als der Kalte Krieg zu Ende ging, war der gerade 29, und von amerikanischer Übermacht ist keine Rede mehr. Obama hat bereits deutlich gemacht, dass er Russland stärker einbeziehen will.
In der Tat hat der Westen in dieser Region allenfalls atmosphärisch auf russische Forderungen nach Rücksichtnahme reagiert, nie in der Substanz. Dabei fehlte es an Warnungen des Kreml nicht, insbesondere was Nato-Ausweitung und Raketenabwehr anbelangt. Doch sie wurden in den Wind geschlagen, Georgien und Ukraine noch im April dieses Jahres die Aufnahme in die Nato grundsätzlich zugesagt. So verwunderlich ist es dann nicht, wenn die russische Führung den Kaukasus-Krieg als Beweis sehen will, dass Moskau sich endlich zu wehren weiß. Aber hätte es wirklich dieses Beweises bedurft, um endlich im Westen die Erkenntnis zu mehren, dass eine Strategie der Ausgrenzung Russlands jede Moskauer Bereitschaft verschüttet, nach gemeinsamen oder wenigstens vereinbaren Interessen zu suchen? Es wäre doch gar nicht so schwer, solche Interessen auszumachen. Nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, wo sie offenkundig sind, und nicht nur in globalen Fragen wie der Verhinderung nuklearer Proliferation in Nord-Korea oder Iran. Selbst in der sensiblen Region, die zwischen der Ostgrenze der EU und der Westgrenze Russlands liegt, streben beide Seiten zwar Einfluss an, aber keine hat ein Interesse an Destabilisierung, gar militärischen Abenteuern. Und beide können mit dem Status quo leben, solange der andere ihn nicht grundsätzlich infrage stellt. Mit anderen Worten: Es gibt sehr viel mehr übereinstimmende als entgegengesetzte Interessen zwischen Russland und dem Westen. Nichts wäre deshalb falscher, als vorschnell Unvereinbarkeit zu unterstellen. Ob und wo es Gegensätze gibt, zeigt sich das nicht durch automatische Reflexe, nur durch gründliche Prüfung. Wenn diese Prüfung dann zu dem Ergebnis der Unvereinbarkeit gelangt, kommt es umso mehr darauf an, dass die Gegensätze ohne unnötige Provokation ausgetragen werden. Da könnte die EU, die von Russland nicht als bedrohlich empfunden wird, leisten, was die Nato nicht kann. Beispiel Ukraine: Natürlich muss dem Westen daran liegen, Eigenständigkeit und Demokratie dort zu stützen. Eine Nato-Mitgliedschaft des Landes wäre dafür nicht einmal theoretisch optimal; denn die in ihren Loyalitäten gespaltene Ukraine würde durch einen Beitritt beim empörten Russland Gegenmaßnahmen auslösen, gegen welche die Nato sie kaum absichern könnte.
Mit Geduld und Verständnis für seine Geschichte, so Kissingers Empfehlung zu Beginn des Jahres, sei es für den Westen möglich, stärker auf Russland einzuwirken als mit beleidigter Distanzierung und öffentlichen Vorhaltungen. Man muss hinzufügen: oder mit Ausgrenzung und Nichtbeachtung. Dies waren die Kapitalfehler der Regierung von Präsident Bush, der noch von der Erfahrung des Kalten Krieges und dem Gefühl amerikanischer Übermacht danach geprägt war. Auch insofern erhöht die Wahl von Barack Obama zum neuen Präsidenten der USA die Chancen eines neuen Anfangs. Als der Kalte Krieg zu Ende ging, war der gerade 29, und von amerikanischer Übermacht ist keine Rede mehr. Obama hat bereits deutlich gemacht, dass er Russland stärker einbeziehen will.
Kapitel IV: Mit neuen Strukturen zu neuen Ufern?
Vielleicht also trotz allem die "vielversprechendste Phase russischer Entwicklung". Die Chance, die sie für bessere Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bietet, tritt jedoch nicht automatisch deshalb ein, weil Russland und der Westen erkennen, dass sie einander brauchen, und ein neuer Mann im Weißen Haus dem immer noch neuen Mann im Kreml anders als sein Vorgänger begegnet. Zwei zusätzliche Bedingungen müssen erfüllt sein: ein institutioneller Rahmen, in dem dieses Verhältnis sich entfalten kann, und ein geeinter Westen. Noch immer fehlt es – im überraschenden Kontrast zu den vielen Dialog-Verstrebungen im späten Kalten Krieg - an einem solchen institutionellen Rahmen. Bis heute gibt es für Fragen der europäischen Sicherheit eine einzige multilaterale Einrichtung, in der Russland nicht auf Einladung einer westlichen Gruppe dieser allein gegenüber sitzt, sondern aus eigenem Recht teilnimmt: die aus der alten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hervorgegangene, vornehmlich auf innere Entwicklungen im nach-sowjetischen Raum konzentrierte OSZE. Heute schlägt der neue russische Präsident einen rechtsverbindlichen Vertrag zur europäischen Sicherheit vor, der neben allen europäischen Staaten auch die nordamerikanischen einschließen soll. Im kommenden Jahr, das hat Nicolas Sarkozy als EU-Präsident kürzlich zugesagt, wird ein OSZE-Gipfel den russischen Vorschlag beraten. Ob bis dahin die Moskauer Idee klarer geworden sein wird, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich wäre eine Art ständige Diplomaten-Konferenz wie die frühere KSZE mit ihren Körben Sicherheit, Wirtschaft, Gesellschaft besser als ein einmaliger Vertrag. In jedem Fall aber hat das gemeinsame Nachdenken über einen institutionellen Rahmen für die künftigen Beziehungen endlich begonnen. Bedenken bleiben. Soll der Plan aus Moskauer Sicht nicht vornehmlich dazu dienen, den Westen zu spalten? Mag sein, aber gelingen könnte das nur, wenn der Westen sich spalten lässt. Westlicher Zusammenhalt ist nämlich die zweite, notwendige Bedingung dafür, dass Russland im künftigen Verhältnis westliche Vorstellungen ernst nimmt und nicht wie bisher versucht, den einen gegen den anderen auszuspielen: Europäer gegen Amerikaner, Ost-Europäer gegen West-Europäer, gewichtige Energiekunden gegen marginale. Bisher ist diese Einheit ungewiss. Nur mühsam gelingt es der Europäischen Union, einen Kompromiss zwischen den Skeptikern und Befürwortern enger Russlandbeziehungen unter ihren 27 Mitgliedern zu Wege zu bringen. Anstatt sich zu einem einheitlichen EU-Energiemarkt bereitzufinden – für eine Solidargemeinschaft wie die Union ist dies keine abwegige Forderung – setzen Frankreich, Deutschland und Italien lieber auf eigenständige bilaterale Abkommen mit Moskau. Für die notwendige Einbeziehung aller, auch der empfindlichen baltischen Staaten, in eine gemeinsame Russlandstrategie der EU fehlt den Großen oft die Erkenntnis, dass europäische Russlandpolitik nur gemeinsam gelingen kann, und den anderen oft die Einsicht, dass sie ohne Kompromissbereitschaft Gefahr laufen, von den Großen links liegen gelassen zu werden. Schließlich: Ohne die USA sind die Europäer gegenüber Russland schwach. Die östlichen EU-Staaten legen wegen ihres hohen Sicherheitsbedürfnisses besonderen Wert auf amerikanische Unterstützung; Washington kann deshalb den EU-Konsens leicht torpedieren. So verlangt ein besseres Verhältnis zwischen Russland und dem Westen Fortschritt in Moskau, Verständnis im Westen, einen funktionierenden Dialograhmen und europäischen wie atlantischen Zusammenhalt. Wenn das im Neuen Jahr zusammentrifft, könnte die von Kissinger beschworene "vielversprechendste Phase russischer Geschichte" auch zu einer solchen im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen werden. Allerdings gilt auch hier: Versprechen sind noch keine Garantie!