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Schwieriger Prozess der Wahrheitsfindung

Osteuropa-Kenner Mirko Schwanitz sieht drei Gruppen serbischer Autoren: Während die einen noch den nationalen Mythen anhängen, erwachen die anderen aus der inneren Emigration. Und unter den Jungen gibt es die, die sehr direkt mit der jüngsten Vergangenheit brechen.

Mirko Schwanitz im Gespräch mit Karin Fischer | 17.03.2011
    Karin Fischer: Wir schauen natürlich nach Osteuropa. Das ist schon aus alten Tagen immer auch das Ziel der Leipziger Buchmesse. Aber wenn wir ehrlich sind, wissen wir nichts über serbische Literatur, und wenn wir ganz ehrlich sind, dann wissen wir noch nicht mal etwas über Serbien, außer vielleicht, dass es unter Milosevic ein Protagonist der schlimmsten nationalistischen Exzesse war, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gesehen hat.

    Diese Buchmesse soll uns helfen und wird uns helfen, serbische Autorinnen und Autoren kennenzulernen. Rund 60 von ihnen sind vor Ort, 30 zum ersten Mal überhaupt ins Deutsche übersetzt worden. Wir lernen zum Beispiel, Serbien hat einen unbekannten Klassiker der Moderne, der sogar mit Proust verglichen wird, Milos Crnjanski, der jetzt bei Suhrkamp zu entdecken ist, und wir lernen, Serbien hat seit dem Krieg auf dem Balkan ein Problem, das man vielleicht den Israel-Effekt nennen könnte. Je kritischer es von außen angeguckt wird, desto nationalistischer guckt es zurück.

    Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Frage, die wir hier klären wollen mit dem Osteuropa-Kenner Mirko Schwanitz, nämlich ob und wie sich die serbische Literatur mit dieser jüngeren Vergangenheit auseinandersetzt.

    Mirko Schwanitz: Ja. Man kann eigentlich die serbischen Autoren in grob drei Gruppen einteilen. Das ist die eine, die sich immer noch ein wenig diesen nationalistischen und nationalen Mythen hingezogen fühlt und auch diese Heldensagen weiter pflegt in den Romanen. Dann gibt es eine Gruppe, die sich in die innere Emigration zurückgezogen hat und jetzt langsam beginnt, aus dieser inneren Emigration wieder herauszukommen. Da sind sehr gute Autoren dabei, aber es sind auch einige dabei, wo man das Gefühl hat, na, sie schleichen noch ein wenig wie die Katze um den heißen Brei herum. Und dann gibt es eine, allerdings, muss man sagen, sehr kleine Gruppe noch auch jüngerer Autoren, Autoren, die in den 70er-Jahren geboren sind, einige wenige, die auch in den 60er-Jahren geboren sind, die schon sehr, sehr direkt mit der jüngsten Vergangenheit abrechnen in ihren Büchern.

    Fischer: Geben Sie uns Beispiele.

    Schwanitz: Ja. Keine dieser Autoren, die ich jetzt erwähne, sind mit einem eigenen Titel vertreten. Das muss ich erst mal sagen. Es gibt ja eine wunderbare Anthologie, "Der Engel und der rote Hund", herausgegeben von Angela Richter, wo man eine jüngere Riege von Autoren, wirklich Prosa-Autoren erleben kann.

    Ich würde gerne eine Autorin hervorheben, die sich wirklich lohnt zu entdecken. Das ist Dragana Mladenovic. Sie hat sechs Gedichtbände geschrieben, davon ist kein einziger ins Deutsche übersetzt. Aber der letzte Gedichtband ist, sowohl was seine Form betrifft, als auch seinen Inhalt, außergewöhnlich, und zwar erzählt sie in Gedichten die Geschichte eines Kriegsverbrechers. Und zwar war der Auslöser, dass sie selber Zeugin wurde, wie ein Kriegsverbrecher in ihrer Nachbarschaft bei einer Familie versteckt wurde, und das war für sie der Auslöser zu sagen, ich muss mich mit der jüngsten Geschichte meines Landes befassen, und das ist meine Art, mich zu entschuldigen. Und wie sie das macht, das ist wirklich großartig, dass sie also fiktive Polizeiprotokolle in Lyrik umsetzt. Fantastisch!

    Fischer: Es sind nun Dinge neu übersetzt worden. Vielleicht geben Sie uns einen kleinen Einblick sozusagen über die Bandbreite des Tableaus. Wenn das, was Sie jetzt sagen, die jüngeren sind noch nicht hier zu entdecken, wen findet man dann?

    Schwanitz: Sie sind schon da, man kann sie hören, man kann sie hier erleben, aber sie haben keine eigenen Titel.

    Fischer: Wen können wir lesen, wen müssen wir lesen?

    Schwanitz: Von den Anthologien würde ich auf jeden Fall sagen, achten Sie auf den Namen Zvonko Karanovic, achten Sie auf den Namen Igor Marojevic. Mit den eigenen Titeln ein ganz, ganz tolles Buch, bei DTV erschienen, Goran Petrovic, "Die Villa am Rande der Zeit", also ein außergewöhnliches Buch, inspiriert vom magischen Realismus, ein Buch über das Lesen, aber auch ein Buch über die Geschichte Jugoslawiens und natürlich auch über die 90er-Jahre, also auch über die Milosevic-Zeit, auch über den Bosnien-Krieg. All das findet sich in dem Buch. Also den sollte man wirklich gelesen haben.

    Fischer: Sie erwähnen den Bosnienkrieg. Es gibt die Daheimgebliebenen, die jetzt ein bisschen für sich das innere Exil reklamieren. Das kommt uns Deutschen bekannt vor. Haben die wieder zu einer eigenen Stimme gefunden?

    Schwanitz: Ja! Ich glaube, es gibt ein Buch, "Hamam Balkanija", was jetzt im Dittrich Verlag erschienen ist, der ja sehr lobenswerterweise eine Edition Balkan herausbringt und allein drei serbische Autoren verlegt hat. Und "Hamam Balkanija", das ist so eine Sache, wo ich glaube, da kommt jemand aus dieser inneren Emigration heraus, befasst sich mit Geschichte, macht Entdeckungen, die auch für die Wissenschaft von großer Wichtigkeit sind, für die Geschichtswissenschaft. Also er stellt wirklich fest, dass einer der wichtigsten Sultane sozusagen Serbe war.

    Aber die andere Frage stellt sich natürlich: Was fängt man mit so einem Wissen an? Und das ist eben genau das Problem dieser Bücher, dieses Schwankens. Dieses Buch kann sowohl von nationaler Seite verwendet werden, als natürlich auch von den Seiten, die den nationalen Mythen abschwören wollen, und das ist genau so ein Kippbuch, aber ein sehr gutes Buch, sehr interessant.

    Fischer: Herzlichen Dank an Mirko Schwanitz für diesen Überblick über die serbische Literatur hier auf der Buchmesse und auch, was noch nicht auf der Buchmesse oder bei Ihrem Buchhändler ist.

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