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Schwindelige Gefühle

Der Schriftsteller W. G. Sebald ist einer größeren Öffentlichkeit erst durch seinen plötzlichen Unfalltod im Jahr 2001 bekannt geworden. Seither wird er, auch von der Literaturwissenschaft, regelrecht verehrt. Ein besonderes Abenteuer verspricht jetzt die Ausstellung "Wandernde Schatten" über seinen Nachlass, den das Deutsche Literaturarchiv in Marbach aufbereitet hat.

Von Christian Gampert | 25.09.2008
    Auch die Literatur hat einen Körper. Mehrere Text-Corpora liegen am Eingang der Ausstellung, säuberlich und offenbar langsam beschriebene Seiten, sorgfältig geschichtet. W. G. Sebald schrieb mit der Hand, und er schrieb mit Bedacht. Vielleicht kommt der melancholische Rhythmus seiner Sprache auch durch dieses Handschriftliche zustande, das ja einen Primärzustand sich zum Verbündeten macht, ein aus der Kindheit vertrautes Handwerk.

    Mit der Maschine hat er bisweilen auch gearbeitet, allerdings auch da wie ein Lyriker, der sich in die Prosa verirrt hat. Stockte ein Text oder hatte der Autor sich auf einen Irrweg begeben, dann wurde nicht gestrichen, sondern auf einem neuen Blatt der Text an eben derselben Stelle neu begonnen - in diesem altmeisterlichen, präzisen Stil. Der Platz für einzufügende Fotos und Skizzen wurde genau bestimmt - Sebald dachte das Buch, den Umbruch schon mit.

    Man erfährt in dieser Ausstellung viel über Sebalds Arbeitsweise, über den Autor selbst, über sein Leben in England erfährt man wenig. Gewiss, sein Pass liegt da und seine Brille, die Bücher, die er benutzt hat, Recherchematerial - aber er selbst bleibt ungreifbar. Die Ausstellungskuratorin Heike Gfrereis:

    "Sebald ist ein Autor, der mit der Literaturwissenschaft seit den 70er Jahren groß geworden ist. Das sieht man an diesem Nachlas, der sehr wohl die These vom Tod des Autors schon gehört hat und damit gespielt hat. Das war etwas, was ihm sehr wichtig war: wie schafft es der Autor, dass er nur zum Medium für das Werk wird. Sebald sagt sehr oft ‚Ich', aber genauso oft sagt er mit dem Ich: ich bin ein anderer."

    Es ist natürlich kein Zufall, dass Sebalds wahrscheinlich bekanntestes Werk, "Die Ausgewanderten", aus lauter Geschichten vom Verschwinden besteht. Es handelt sich um Heimatvertriebene, alte Juden, von den Nazis verfemt, die an diesem Schmerz noch im hohen Alter zugrunde gehen. Sebald beginnt den Bericht über seinen Volksschullehrer Paul Bereyter mit einem Foto: monströs fährt, vor einem Fichtenwäldchen, die Schiene auf uns zu, auf welcher sich Bereyter vor den Zug legte. Davor ein Jean Paul-Zitat, das gar nicht als solches kenntlich gemacht ist: "manche Nebelflecken löset kein Auge auf".

    Die Spuren, die die Werke anderer Schriftsteller bei ihm hinterlassen haben, Stifter, Hebel, Goethe, Kafka, Nabokov, Handke, werden von der Ausstellung minutiös benannt und oft auch den Textstellen bei Sebald zugeordnet. Wie aus einem Schattenreich zieht Sebald Texte, Postkarten, eigene Fotos, Fahrkarten und anderes hervor, um es in seiner Prosa zu verwenden. Seine Literatur ist ein Weiterschreiben, Schichten und Spiegeln anderer Literatur, die ihn meinte, die ihn erkannt hatte - das wird in Marbach schon durch die Präsentation aufs Schönste klar.

    Sebald hatte eine Schwäche für die absonderlichsten Wissensgebiete, für Darwins Forschungen über auswandernde Schmetterlingsschwärme etwa; aber er benutzte auch scheinbar banale Motive:


    "Der Rucksack in Austerlitz, der ist abgebildet als Rucksack. Er gehört dort dem Haupthelden als festes Attribut; man erkennt Austerlitz schon von hinten an diesem Rucksack. Bei Sebald, einer der wenigen Gegenstände in seinem Nachlas, ist ein Rucksack, kaum benutzt; das ist auch schon wieder charakteristisch. Sebald nutzt nicht ab; man hat, aber er scheint das fast als Rucksack des Helden Austerlitz dazuliegen. Und dieser Rucksack wird von Anfang an, und zwar über den Nachlas sehr viel mehr als über den Text, mit Ludwig Wittgenstein verwoben."
    Denn auch Wittgenstein hatte zeitlebens einen Rucksack. In Sebalds "Austerlitz" wird er zum Kennzeichen des Vertriebenen, Heimatlosen, Exilanten, aber auch eine andere Bedeutungsschicht schwingt mit: der Rucksack ist das Haus auf dem Rücken der Schnecke, das Glück der Unabhängigkeit.

    Solche Vieldeutigkeiten macht diese Ausstellung ganz vortrefflich sichtbar. Sebald gelang die Aufhebung des gesellschaftlichen Wahnsinns in der geglückten Formulierung, im ästhetischen, verdichteten Augenblick. Von dieser Ausstellung darf man sagen: Ihr gelingt es auch.