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Schwindende Lust Deutscher zu werden

Immer weniger Zuwanderer erhalten einen deutschen Pass. Entweder weil sie keinen wollen oder weil sie von den Behörden abgewiesen werden. So hat sich seit dem Jahr 2000 die Zahl der Eingebürgerten bundesweit halbiert – auf 96.000 im Jahr 2009. Ein Trend, der zunehmend Sorge bereitet. Sogar in der Multikulti-Stadt Berlin.

Von Jens Rosbach | 23.06.2011
    Güldane Can lebt seit schon seit drei Jahrzehnten in Deutschland. Aber einbürgern lassen will sich die 39-jährige Berlinerin immer noch nicht.

    "Ich bin eine Türkin. Wenn ich auch einen deutschen Pass habe, spielt keine Rolle, ich bin sowieso nur Ausländer, ne. Meine Kinder sind Deutsche. Sie sind hier geboren. Ich nicht, mein Mann auch nicht. Ich möchte erstmal so bleiben, ich möchte Türkin bleiben."

    Ähnlich sieht es bei dem Russen Vitali aus. Der 35-jährige Zuwanderer verzichtet auf eine deutsche Staatsbürgerschaft, weil er dafür seine russische aufgeben müsste.

    "Für mich wäre es wichtig, die russische Staatsbürgerschaft zu behalten, weil halbes Herz ist Deutschland und halbes Herz ist Russland. Und das würde Ihnen fast jeder Ausländer, egal wo der herkommt, der sagt Ihnen das Gleiche."

    Vakuf Minkara ist politischer Flüchtling und möchte sich ebenfalls nicht eindeutschen lassen. Der 38-Jährige will nämlich möglichst bald zurück ins türkische Kurdistan.
    "Da ist meine Heimat. Meine Eltern, Familie, mein Dorf, meine Berge. Ich vermisse sie. Sehnsucht."

    Ob Türken, Kurden, Russen oder andere Migranten - in Berlin werden immer weniger Zuwanderer deutsche Staatsbürger. Wurden im Jahr 2000 noch fast 6900 Ausländer eingebürgert, sind es heute rund 20 Prozent weniger. Berlins Integrationsbeauftragter Günter Piening schlägt Alarm: Denn wer keinen deutschen Pass besitzt, kann nicht politisch mitbestimmen.

    "Wenn wir uns Berlin anschauen: In den Einwandererbezirken Kreuzberg, Neukölln, Moabit, Tiergarten hat jeder Vierte kein Wahlrecht, 25 Prozent der Bevölkerung haben kein Wahlrecht. Deswegen gibt es eine Schieflage auch in demokratischen Entscheidungsprozessen, immer wenn es um das Thema Einwanderung und Ausländer geht."

    Der Integrationsbeauftragte beobachtet mit Sorge, dass sich viele Migranten einfach nicht mehr einbürgern lassen wollen. Besonders die türkische Community ziehe sich in den letzten Jahren immer mehr zurück.

    "Gerade das Jahr 2010 mit der Debatte - Stichwort Sarrazin - hat ja dazu geführt, dass nicht ein Wir gestärkt worden ist, sondern dass die Spaltung eigentlich zwischen Wir und bestimmten Einwanderergruppen größer geworden ist. Das hat dann auch dazu geführt, dass bestimmte Menschen sagen, ich lass' mich nicht einbürgern, ich werde von Euch sowieso nicht akzeptiert."

    Die Experten gehen davon aus, dass nicht nur die fehlende Motivation der Migranten Schuld am Einbürgerungs-Rückgang ist. So klagt der Türkische Bund Berlin-Brandenburg über zahlreiche Hürden für Neu-Deutsche. Vorstandssprecherin Cicek Bacik verweist etwa auf die vorgeschriebenen Sprach- und Einbürgerungstests. Und auf das Problem, dass viele Zuwanderer wegen ihrer Arbeitslosigkeit scheitern.

    "Aufgrund des fehlenden Einkommens haben sie natürlich auch keine Chance mehr, einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen. Und sind dann halt schon als Bürger zweiter Klasse degradiert."

    Weiteres Hindernis: Es gibt keine doppelte Staatsbürgerschaft mehr. Wer Deutscher werden will, muss seinen alten Pass abgeben. Allerdings gibt es zahlreiche Ausnahmen. Bestimmte Länder - wie Iran, Afghanistan oder Libanon - entlassen ihre Bürger nicht aus ihrer alten Staatsbürgerschaft. Entweder aus politischen Gründen oder weil die dortige Verwaltung nicht funktioniert. Einbürgerungswillige aus diesen Ländern können somit ihren alten Pass behalten. Genauso wie Bürger der Europäischen Union. Alle anderen Antragsteller dürften jedoch keine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, kritisiert der Türkische Bund.

    "Migranten fühlen sich benachteiligt, dass sie sich für eine Staatsbürgerschaft - sei es für die türkische Staatsbürgerschaft oder sei es für die deutsche Staatsbürgerschaft - entscheiden müssen, da halt andere Einwanderer aus den EU-Ländern diesen Anspruch haben auf Mehrstaatlichkeit. Sie können Franzosen sein, sie können Engländer sein, aber auch deutsche Staatsbürgerschaft haben. Und daher ist da eine sichtliche Benachteiligung dieser Zielgruppe."

    Die offiziellen Einbürgerungsfeiern werden immer kleiner. Neben den rechtlichen Hürden und der empfundenen Diskriminierung gibt es dafür einen weiteren Grund: Die Zahl der potenziellen Antragsteller sinkt. So werden seit dem Jahr 2000 hier geborene Migranten automatisch Staatsbürger, wenn ihre Eltern lang genug und mit einem sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland leben. Früher haben sich viele Zuwanderer-Eltern nur einbürgern lassen, damit ihre Kinder später einen deutschen Pass bekommen. Diese Antragsteller fallen nun weg. Genauso wie die betreffenden Migranten-Kinder, wenn sie erwachsen sind. Eine zusätzliche - und teilweise positive - Ursache für den Rückgang der Einbürgerungen.

    "Aber das ist kein Grund, um Entwarnung zu geben."

    So die Bilanz von Günter Piening. Der Berliner Integrationsbeauftragte will den großen Abwärtstrend durch eine Kampagne bekämpfen, die er bereits vor sechs Jahren ins Leben rief: eine Kampagne in Berliner Migranten-Medien, Volkshochschulen und Kiez-Einrichtungen, die die Bedeutung des deutschen Passes beschwört.

    "Integration heißt ja, dass Menschen, die hierher kommen, gleichberechtigte Bürger mit allen Rechten und Pflichten sein sollen. Deswegen ist Integration ohne Staatsbürgerschaft überhaupt nicht vorstellbar."