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Sechs Punkte für eine neue Welt

Louis Braille ist erst 16 Jahre alt, als er die Erfindung seines Lebens macht: 1825 entwickelt er eine Schrift, die allein über den Tastsinn der Finger gelesen werden kann. Für blinde Menschen eine kleine Revolution: Die Schrift verschafft ihnen erstmals Zugang zu höherer Bildung, integriert sie in die Gesellschaft und gibt ihnen die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben.

Von Vanessa Loewel | 04.01.2009
    Louis Braille wird am 4. Januar 1809 in Coupvray, nahe Paris, geboren - als Sohn eines Sattlers. Als er drei Jahre alt ist, sticht er sich beim Spielen in der Werkstatt seines Vaters ein Messer ins Auge. Beide Augen entzünden sich. Er erblindet. Eigentlich wäre dem Jungen damit ein trostloses Leben beschieden. Doch seine Eltern wie auch der Dorflehrer erkennen seine außergewöhnliche Intelligenz und Begabung und fördern ihn - so gut es geht. Mit zehn Jahren schicken sie ihn nach Paris in das "Königliche Institut für junge Blinde". Es ist die erste Blindenschule der Welt, 1784 gegründet von dem französischen Gelehrten und Lehrer Valentin Haüy. Braille-Expertin Friederike Beyer:

    "Die Aufklärung hat den Boden bereitet. Denn die Philosophen der Aufklärung interessierten sich für Sinnesbehinderung, Blindheit und auch Gehörlosigkeit, und sie machten daran erkenntnistheoretische Fragen fest. Sie weckten damit das Interesse des europäischen Bürgertums an diesen Menschen und postulierten auch ihre Bildungsfähigkeit. Der nächste Schritt war jetzt die sozusagen nachzuweisen, indem man eben Anstalten und Institute gründet, wo blinde Kinder erzogen werden. Das wäre vorher gar nicht denkbar gewesen."

    Auch an der Blindenschule fällt Louis Braille auf. Er lernt nicht nur schnell, er ist auch handwerklich und musisch sehr begabt. Bereits mit 14 wird er selbst Blindenlehrer, er lernt Klavier spielen und arbeitet bald als Organist.

    Was ihn jedoch am meisten beschäftigt, ist das Fehlen einer eigenen Blindenschrift. Der wissbegierige junge Mann ist es leid, selbst keine Bücher lesen zu können, immer von Sehenden abhängig zu sein, die ihm vorlesen. Es gibt zwar einige Relief-Bücher, deren Buchstaben ertastbar sind, aber das ist zu mühsam und langwierig. Die "Nachtschrift" des Hauptmanns Charles Barbier bringt ihn schließlich auf die Idee. Punkte! Sie sind viel präziser zu erfühlen als Linien! Barbier hatte eine Schrift aus gestanzten Punkten entwickelt, um nachts, im Dunkeln, an seine Soldaten kurze Befehle senden zu können. Louis Braille entwickelt diese Methode weiter zu seinem Sechs-Punkte-System: Sie sind wie bei einem Würfel angeordnet, können mit der Fingerkuppe auf einmal erfasst und auf 64 unterschiedliche Weisen kombiniert werden. Jede Kombinationsmöglichkeit steht dabei für einen bestimmten Buchstaben oder ein Zeichen.

    Friederike Beyer: "Die sechs Punkte sind ja ein mathematischer Code, sie sind eigentlich keine Schriftzeichen, so wie Sehende sich das vorstellen, die irgendein visuelles Muster haben. Außerdem der Sprung in die Computertechnik des 21. Jahrhunderts. Dass das eine 200 Jahre alte Erfindung schafft, das ist schon sehr bemerkenswert."

    Louis Braille übersetzt nicht nur Buchstaben in Punktschrift, sondern auch Noten. 1827 wird seine Grammatik in Paris veröffentlicht.

    Viele Blinde sind von der neuen Schrift begeistert: Sie lässt sich nicht nur unkompliziert lesen, sie kann auch einfach geschrieben werden.

    Es reichen eine Lochtafel, ein Blatt Papier und ein Griffel, um die Punkte ins Papier zu drücken. Kritik und Widerstand gegen die sogenannte Braille-Schrift gibt es vor allem von den sehenden Blindenlehrern.

    Friederike Beyer: "Ein ganz wichtiger Punkt war, dass Sehende gesagt haben: Wir wollen nicht, dass die Blinden so eine Art Geheimschrift haben, die nur sie selber lesen können und von der wir Sehenden erstmal ausgeschlossen sind, man wollte natürlich die Leute auch ganz gerne kontrollieren, das war also auch eine Machtfrage."

    So verbietet der Direkter der Pariser Blindenanstalt die Schrift. Die blinden Schüler benutzen sie trotzdem weiter und beweisen damit tagtäglich ihren Nutzen. 1850 setzt sich die Punktschrift schließlich durch: Die Pädagogische Akademie Frankreichs erkennt sie als offizielle Blindenschrift an. Zwei Jahre später, 1852, stirbt Louis Braille mit nur 41 Jahren an Tuberkulose.