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"Second Nature"

Ein zeitgenössischer Künstler hat von Haus aus eine enge Beziehung zum Naturwissenschaftlichen. Er heißt Tony Cragg, wurde 1949 in Liverpool geboren und arbeitete zunächst einmal als Labortechniker in der Chemieindustrie, bis es ihn in den 70er Jahren an die Kunsthochschule trieb. Craggs Werk ist ein Dialog mit den Erkenntnissen der Chemie, Physik, Biologie und auch der Evolutionsbiologie. "Second Nature" heißt nun eine Ausstellung mit Plastiken und Zeichnungen von Tony Cragg in der Kunsthalle Karlsruhe.

Von Carmela Thiele |
    Entzauberung ist angesagt. Was ist der Mensch anderes als ein Gefäß, in dessen Zellplasma noch ein Teil der salzigen Lösung des Urozeans fließt? Was ist er anderes als eine sich ständig in Bewegung befindliche, hochflexible Säule? Das bildhauerische Werk von Tony Cragg reflektiert solche Fragen. Die sich scheinbar in rasanter Bewegung gen Himmel schraubenden Plastiken des Briten, "Wirbelsäulen" genannt, gehören zu den Klassikern der Gegenwartskunst. Weniger bekannt sind seine Zeichnungen, die erstmals in dieser Vielfalt und im Dialog mit den Skulpturen von der Kunsthalle Karlsruhe unter dem Titel "Second Nature" gezeigt werden. Wie so oft bei Bildhauern, spielt die Zeichnung eine zentrale Rolle. Tony Cragg:

    "Ich habe immer sehr gern gezeichnet. Ich bin überhaupt in eine Kunstakademie gegangen, weil ich gezeichnet habe. Das war meine erste Liebe sozusagen. Ich wusste nicht, was Bildhauerei war und was es sein könnte. Und während meiner ganzen Praxis ist es wichtig für mich und meine Assistenten, dass ich alles skizziere, wie das und das so aussehen müsse, was ich damit meine, mit meinen Worten.""

    Mit dem Bleistift lassen sich aber auch vage Ideen formulieren. Von 1992 stammt eine kleine Skizze, ein Interieur mit Tisch, Kommode und einem umgekippten Stuhl. Darüber hat der Künstler eine Wetterkarte gezeichnet. Die Ausläufer-Ringe wirken wie kartographische Höhenangaben oder das Sediment eines abgetragenen Felsens. Das Prinzip der Schichtung ist Teil vieler Skulpturen geworden, eben auch der "Wirbelsäulen". Solche Zeichnungen sind so etwas wie die Zeugen der experimentellen Momente eines motivisch überaus klar umrissenen Werks. Denn Cragg orientiert sich an drei für die Kunst fundamentalen Kategorien, an der Figur, an der Landschaft und am Stillleben.
    " Irgendwann ab die späten achtziger Jahre hab ich in San Francisco eine große Gruppe von Radierungen gemacht. Und im Zuge dieser Radierungen habe ich angefangen, viel mehr zu zeichnen. Und ich habe die Eigenständigkeit der Zeichnung wieder für mich zurückgewonnen. Und in den letzten Jahren. Es hat vielleicht etwas mit meinem Alter zu tun. Früher sind wir den ganzen Tag im Atelier gestanden und haben Skulpturen gemacht. Heute ist das etwas zu viel für mich. Ich ziehe mich gerne zurück am Spätnachmittag und zeichne. Das ist gut für mich.""
    Losgelöst von der Plastik sind zum Beispiel auch die aquarellierten Landschaften, auf die Zeichen für den binären Code, die Null und die Eins, projiziert sind. Und dann gibt es da noch die Familienbilder, die gar keine sind. Zu erkennen sind Figuren, die um einen Tisch gruppiert sind. Vergeblich sucht man nach beschreibenden Linien. Die Darstellung lebt allein von Verdichtungen seiner Linienknäuel, die für die Atmosphäre, den Austausch der Menschen mit ihrem Umraum stehen. Craggs furiose Linienführung füllt mit Leben, was bisweilen im bildhauerischen Werk trotz gewagter Formkaskaden merkwürdig starr wirkt.

    "In dem Moment, wo der Bleistift auf das Papier geht, das ist so ein fantastische Reise, die Fantasien werden angeregt. Das ist zwar nur Graphit in so faserige Zellulose gefangen, im Grunde genommen, aber man sieht, man liest da herein, man kann durch das Universum reisen, man kann in Orte reingehen, das ist schon ein fantastisches Erlebnis."

    Der 60-jährige Bildhauer, der sich normalerweise lieber auf handfeste Dinge wie das Material beruft, gerät ins Schwärmen. Und blickt man in die Karlsruher Ausstellung, so drängt sich der Gedanke auf, dass die intensive Zeichenpraxis der letzten Jahre sich auf das skulpturale Werk äußerst belebend ausgewirkt hat. Denn das drohte in technischer Perfektion zu ersticken. Seine aus dem vergangenen Jahr stammende Plastik "Companions" aus Fiberglas dagegen tentakelt wild in die Rotunde der Orangerie. Die vom Motivschatz des Interieurs, der Stühle und Gefäße, ausgehende Plastik ist verwandelt in einen vitalen Organismus, der vom Raum Besitz ergreift.
    Sie tentakelt sogar unsichtbar herüber ins Hauptgebäude, wo in den Grafikkabinetten die Zeichnungen gezeigt werden. Dieser Dialog über die räumliche Distanz hinweg ist für die Kunsthalle eine Premiere; und sie ist tatsächlich gelungen. Zu gut hat man es dagegen mit der Präsentation der Skulpturen in unmittelbarer Nähe der Zeichnungen gemeint. So verstellen die vielen "Early Forms" im grünen Saal buchstäblich den Zugang zu den Zeichnungen. Und um die sollte es doch eigentlich gehen. Sie sind der Schlüssel zur "Zweiten Natur", wie Cragg sie versteht, der Schlüssel auch zu den monumentalen Plastiken in ihrer glatten Vollkommenheit.


    Info:
    Der Katalog "Second Nature" ist im Dumont-Verlag erschienen; 253Seiten, mit Texten von Kirsten Claudia Voigt und Jon Wood. Preis in der Ausstellung: 29 Euro. Das Museum der Moderne in Salzburg übernimmt die Ausstellung vom 27. Juni bis zum4. Oktober 2009.)