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Seebad Étretat
Orpheus in der Normandie

Das französische Seebad Étretat war im 19. Jahrhundert Anziehungspunkt für die feine Pariser Gesellschaft. So ließ Jacques Offenbach hier seine Operette "Orpheus in der Unterwelt" aufführen und Claude Monet malte die Steilküste. Heute ist vom Prunk vergangener Tage nicht mehr viel zu sehen. Ein Architekt will das ändern.

Von Manfred E. Schuchmann | 28.12.2014
    Blick auf Étretat mit der berühmten "Alabaster"-Steilküste
    Idylle am Meer: Blick auf Étretat mit der berühmten "Alabaster"-Steilküste (Manfred E. Schuchmann/Deutschlandradio)
    Der Blick aus meinem Fenster ist hinreißend: Er schweift über das graue Mosaik der Schieferdächer und die grünen Flecken der Parks hin zur strahlend weißen Steilküste und einem wunderbar blauen Meer. Das Fenster gehört zur chambre jaune, dem gelben Zimmer der Villa Les Charmettes in Étretat, Normandie, Département Seine Maritime. Die Villa ist ein charmanter Kasten aus der Belle Époque, jener guten, alten Zeit des 19. Jahrhunderts, als Étretat einen rasanten Aufstieg vom abgelegenen Fischernest am Ende der französischen Welt zum florierenden Seebad erlebte, in dem sich alsbald tout Paris versammelte - jedenfalls das Paris des Geldes und des Geistes.
    Monsieur Raphaél Renard ist der Hausherr der Villa Les Charmettes - Gastgeber eines gelben, eines roten und eines blauen Zimmers, außerdem Architekt, entschiedener Lokalpatriot, und von seiner saarländischen Großmutter hat er noch etwas Deutsch in Erinnerung. Monsieur Renard hat mir angeboten, mich durch Étretat führen - seinen Heimatort, den er liebt, an dem er hier und da aber auch leidet, wie sich zeigen wird. Ein sehr ästhetisches Leiden! Monsieur Renard führt mich zuerst dorthin, wo von Anfang an das Herz des Seebades schlug:
    "Die Leute haben sich im Casino und am Strand getroffen. Am Anfang kamen natürlich die Maler, Claude Monet, Courbet, und dann sind die Leute von dem grande bourgeoisie hier gekommen. Ganz berühmt war auch hier Maurice Leblanc, Guy de Maupassant, und in dem Casino hat Offenbach sich seine erste Revue machen können. Jacques Offenbach hat hier "Orphée aux enfers" zum ersten Mal präsentiert für die ganze société von Paris - Étretat war Paris' Strand. Wir sind an einem Platz hier, das heißt noch Paris plage."
    Étretat also war der Strand von Paris, jedenfalls zu Zeiten von Jacques Offenbachs umwerfendem Operetten-Erfolg "Orpheus in der Unterwelt", im Casino ließ er die Revue inszenieren und die Pariser Gesellschaft war begeistert. Ich höre geradezu die Melodie des "Cancan" im Geiste - und natürlich auch ungezählte Champagnerkorken knallen. Jacques Offenbach, der Pariser Komponist, hatte sich damals eine großzügige Villa in Étretat bauen lassen, die Schriftsteller Maurice Leblanc und Guy de Maupassant ebenfalls, Maler Gustave Courbet und Claude Monet, beides längst bekannte Maler, haben die Steilküste von Étretat mit ihren Felsentoren und -nadeln viele Male auf die Leinwand gebannt - und in den Pariser Galerien ausgestellt. Eine bessere Reklame konnte man sich damals gar nicht wünschen. So wurde Étretat zum dernier cri und très, très chic. Bald wollten wollten alle ein paar Tage, ein paar Wochen an der normannischen Küste verbringen - in Étretat!
    "Avec le train! Der Zug hat viel auch geholfen: Die Leute kamen von Paris mit dem Zug, vier Stunden um am Meer zu sein, das war möglich. Vorher war das zu lang, mit den Pferden hierher zu kommen."
    "Es ist als Seebad der französischen Geisteswelt verschrieen"
    Den Zug, die Dampfeisenbahn, kann man heute noch bewundern, obwohl die Nebenstrecke nach Étretat längst stillgelegt ist und im Sommer nur dann und wann von Ausflüglern mit einer Draisine befahren wird. In den 1850er-Jahren wurde die Linie Paris-Le Havre eröffnet, Abfahrt vom Gare Saint Lazare - Claude Monet, der den Zug oft benutzte, hat den Bahnhof gemalt: Offene Halle, Gleise, schwarze Dampfrösser fauchen, schnaufen, pfeifen, alles in Dampf und Rauch gehüllt, Menschen als schwarze Silhouetten unter Gaslaternen auf dem Bahnsteig, bereit zum Einsteigen. Vielleicht hatten sie einen der gängigen Reise- und Bäderführer als Lektüre im Gepäck, zur Einstimmung auf kommende Tage an der Küste.
    Raphaèl Renard, Architekt und Gastgeber in Étretat
    Raphaèl Renard, Architekt und Gastgeber in Étretat (Manfred E. Schuchmann/Deutschlandradio)
    Dem österreichischen Diplomaten, Weltreisenden und Reiseschriftsteller Ernst von Hesse-Wartegg - bei dessen Nordamerika-Schilderungen, ganz nebenbei bemerkt, Karl May sich gerne bediente - Ernst von Hesse-Wartegg also verdanken wir eine Momentaufnahme des Seebades Étretat aus dem Jahre 1878:
    "Étretat ist in neuester Zeit sehr in Mode gekommen. Es ist als Seebad der französischen Geisteswelt verschrieen, und jeder Franzose, der sich von diesem "französischen Geiste" besessen glaubt, baut sich eine Villa oder ein Schlösschen hier (...)Unzählige, verschiedene Spiele sind [im Casino] zum Zeitvertreib und zum Geldverlieren aufgestellt, und die Müßiggänger jagen da dem Glücke nach, gerade so wie junge Hunde, die im Kreislauf um sich selbst ihrem eigenen Schwanze nachjagen, ohne ihn jemals zu erwischen."
    In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blühten die Seebäder entlang der normannischen Küste auf, von Dieppe bis Deauville. Auch Étretat erlebte bald einen regelrechten Bauboom, besonders entlang seiner halbmondförmigen Bucht zwischen den hoch aufragenden Mauern der weißen Felsen wuchsen die Hotels empor - ganz im Geschmack der Zeit, mit spitzen Dächern, Erkern, Giebeln und Balkonen, auch neu-normannisches Fachwerk war gefragt. Die Pariserinnen und Pariser sehnten sich in wachsender Zahl nach Meerblick und Seeluft. Nur auf alten Postkarten ist dieses Panorama noch erhalten - mit dem Hôtel Roches Blanches zur Linken und dem Hôtel Blanquet zur Rechten (in ihm nahm der Maler Claude Monet regelmäßig Quartier). Das heutige Panorama erzählt vom Wandel der Zeiten. Von dem ist Monsieur Renard nicht restlos begeistert:
    "Das Casino war dann vor dem Ersten Weltkrieg ein großes Holzcasino. Und nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie das Casino kaputtgemacht, es war schon halb kaputt, und jetzt haben wir das Casino von - wie sagt man das - 50er-Jahre. Aber das war noch schön, aber jetzt haben sie auf das 50er-Jahre-Casino die neue japanisch-chinesische Fassade gebaut, das ist ziemlich hässlich."
    Ich muss Monsieur Renard beipflichten: Bon 50er-Jahre-Moderne ist nichts mehr geblieben, Étretats Casino sieht irgendwie aus wie eine chinesische McDonald's-Filiale. Und damit ist Étretat trotzdem noch besser bedient als sein Nachbarort Yport: Dort hat man einen Bau wie einen vollverspiegelten Schuhkarton vor die wunderbare Steilküste geknallt - grauslich! Man sollte aber (der historischen Gerechtigkeit halber) hinzufügen, dass Étretat und seine Nachbarn Teil des berühmt-berüchtigten Atlantikwalls waren - die Deutsche Wehrmacht baute ihre Stellungen und Bunker ohne große stadtplanerische Delikatesse mitten in die alte Bäderherrlichkeit. Nach dem Krieg waren die einstigen Grand Hotels und Casinos reichlich ramponiert. So kamen die heutigen Neubauten an ihrer Stelle: modern, praktisch, waagrecht, senkrecht, langweilig. Wo ehedem Claude Monet abzusteigen pflegte, gähnt eine Riesenlücke: Étretats größter Parkplatz, benannt nach Général de Gaulle.
    "Villa Henriette" mit Garten - nach der Restaurierung durch Raphaèl Renard
    "Villa Henriette" mit Garten - nach der Restaurierung durch Raphaèl Renard (Manfred E. Schuchmann/Deutschlandradio)
    Als die Pariser Intelligentia und dann die Pariser Bourgeoisie im 19. Jahrhundert Étretat für sich entdeckten, löste sich die angestammte Bevölkerung des Fischerdorfes nicht einfach in Luft auf: Sie lebte weiterhin in ihren angestammten Quartieren, allerdings mehr und mehr umzingelt von Villen und Schlösschen. Monsieur Renard steuert eines der alten, inzwischen leicht versteckten Fischerquartiere an, eine kleine Welt für sich:
    "Kleine Höfe mit kleinen Häuschen von Fischerleuten. Jeder hat seinen Garten noch. Das heißt hier La cour de Perkins. Das sind ungefähr vier oder sechs kleine Häuschen, in jedem Häuschen haben normal sieben oder sechs Personen gewohnt. Jetzt wohnen hier nur zwei Personen oder drei."
    Offenbachs Haus: "Ein trauriger Anblick"
    Ohne Monsieur Renard hätte ich mich nie und nimmer in diese versteckten Höfe verirrt - beziehungsweise mich hinein getraut. Und zwar nicht wegen des kläffenden Spitz, sondern weil das ein Raum ist, der einfach nicht der Touristenwelt zugehört: Ich habe hier nichts verloren! Arbeiterhäuschen, je drei und drei aneinander gebaut aus Ziegelstein und Feuersteinen vom Strand. Das ist eine Besonderheit der Architektur von Étretat: Der Strand besteht aus großen, grauen Kieseln, Silex, Feuerstein, die als billiges Baumaterial benutzt wurden. 60 Quadratmeter mag jedes der Häuschen haben - und die zwei oder drei Personen, die heute darin wohnen: Nun ja, vielleicht gibt es auch noch einen Fischer unter ihnen. Die anderen sind glückliche Ferienhausbesitzer mit winzigen, gepflegten Gärtchen, in denen die berühmten Hortensien der Normandie in zartem, müdem Blau erblühen.
    Ein paar Schritte nur, und wir betreten die Welt der Schönen und Reichen. Hier haben die Häuser Namen: Villa Henriette, La Sapinière, Le Brimborion - ihre Besitzer sind damals wie heute Pariser der besseren Stände. In der Rue Jacques Offenbach steht die Villa Orphée. Man entdeckt sie ungefähr auf den zweiten oder dritten Blick und mitten in einem gar nicht romantisch verwilderten Garten. Das Haus, in dem der Komponist Jacques Offenbach mit Frau, beträchtlicher Kinderschar und noch beträchtlicherem Personal die beste Zeit des Jahres durchfeierte, dieses Haus ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Monsieur Renard versagt bei diesem Anblick sogar sein Deutsch:
    "Das Haus von Jacques Offenbach ist ein trauriger Anblick", sagt Raphaél Renard, "all seine hübschen dekorativen Elemente sind verschwunden, die großen, überdachten Balkons völlig hin - früher war die Villa Orphée ein architektonisches Schmuckstück. Das zu restaurieren wird eine riesige Arbeit, bis es wieder daran erinnert, wie es zu Jacques Offenbachs Zeiten einmal aussah."
    Die "Villa Orphée" des Komponisten Jacques Offenbach - seit Jahren Leerstand und Verfall
    Die "Villa Orphée" des Komponisten Jacques Offenbach steht seit Jahren leer und verfällt (Manfred E. Schuchmann/Deutschlandradio)
    Natürlich wäre Raphaél Renard genau der Mann, der diese Aufgabe schultern könnte. Nebenan steht ein Haus im besten Zustand, dem es bis vor ein paar Jahren noch ähnlich schlecht erging wie Jacques Offenbachs Villa Orphée. Monsieur Renard hat das Nachbarhaus restauriert - detailverliebt, detailversessen wie ein Denkmalpfleger - und er hat es von allen Verschlimmbesserungen der Moderne befreit. Der ganze Stolz des Architekten Raphaél Renard liegt jetzt darin, dass heute keiner mehr sieht, was er hier geleistet hat:
    "Das ist 19. Jahrhundert, und meine Arbeit ist bauen, dass man nicht sieht, was ich baue. Wenn jemand kommt auf meine Bauplätze, Sie können nicht sehen, was neu ist oder was ich gemacht habe, es ist unmöglich. Étretat war schon soviel zerstört nach dem Krieg, ich muss wieder das pflegen, ich bin wie ein Arzt: Ich pflege das, was noch übrig bleibt."
    Das ist mal eine ganz neue Berufsbeschreibung: der Architekt als Arzt am Krankenbett der verbauten Geschichte! Ein Baumeister, der sich freiwillig der Leistung seiner Vorgänger unterordnet: wie wunderbar unzeitgemäß!
    Zuhause, in seiner Villa Les Charmettes von 185o folgende, erzählt mir Raphaél Renard, dass es immer schwieriger wird, geeignete Handwerker zu finden, die ihr Metier noch wirklich meistern und die mehr können, als genormte Ersatzteile vom Baumarkt in die alten Häuser flicken:
    "Wirkliche Könner sind sehr rar", sagt er. "Aber mit viel, viel Energie kommt man von den schlechten heutigen Gewohnheiten zurück zum wirklichen Kunst-Handwerk. Das hat nichts mit heutiger Industrie zu tun, all diese Arbeiten brauchen echte Handwerkskunst!"
    Die Franzosen nennen die Kreidefelsen Alabasterküste
    Ein Glück nur, dass Monsieur Renards Bauherren nicht auf den Franc, pardon: den Euro achten müssen: Gutes gibt es selten billig. Manchmal reist Raphaél Renard durch das halbe Land, um das passende Accessoire für seine Patienten zu finden:
    "Dieses projet von ein kleines "grange" ist in dem pur style normand traditonel. Und in Paris gibt es noch quincailliers, die noch alte serrures, alte poignets haben - alte Türschlösser, alte Türgriffe - können uns verkaufen, mit bisschen Rost immer, sieht man das nicht mehr: Das ist vom Mittelalter bald!
    Monsieur Renard restauriert gerade eine alte normannische Scheune, und für ein passendes Türschloss kennt er ein paar Eisenwarenhändler in Paris, die genau das haben, was zu dieser Scheune passt. Es ist ja immer so: Der Teufel steckt im Detail, der liebe Gott manchmal auch.
    Am Abend tue ich genau das, was Étretat-Besucher seit 15o Jahren tun: Ich vertrete mir die Beine auf der Promenade an der Halbmondbucht, immer von der rechten steilen Klippe hin zur linken und gemächlich wieder zurück. Wie wunderbar, sich die Lungen nach einem solchen Tag noch einmal mit frischer Seeluft zu blähen, hinauf zum Abendhimmel und hinaus auf's Meer zu schauen, und dabei dem ewigen Spiel der Wellen zu lauschen! Erst rollen sie die dicken Feuerstein-Kiesel den Strand ein Stück hinauf, dann holen sie sie wieder zurück. Côte d'Albâtre, Alabasterküste, haben die Franzosen ihre weißen Kreidefelsen in der Normandie getauft. Vielleicht hätte das simple Wort Kreideküste sie ja doch zu sehr an Dorfschule und Schiefertafel erinnert - an eine Schiefertafel und heftig kratzende Kreide. Vive la France, vive la difference!