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Seelenstände der Psychoanalyse

Die Behauptung des Todestriebs ist eine der zentralen spekulativen Annahmen Freuds, die er auch mit dem Destruktions- und Vernichtungstrieb verknüpft. Jacques Derrida schließt hier - vor allem in der Rekonstruktion von Freuds Briefwechsel mit Albert Einstein Warum Krieg? - an und stellt die Frage neu: Lässt sich die "unmögliche Sache" eines "Jenseits der Grausamkeit" denken?

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Derrida ist fasziniert von dem Unmöglichen und Unentscheidbaren in dieser Fragestellung und richtet sie, etwas pathetisch, als "Gruß an die Generalstände der Psychoanalyse". Verständlich wird dieser zuerst obskur erscheinende Gruß durch eine der zentralen Formulierungen dieses Textes:

    In jeder Analysesitzung sollte eine Art Mikro-Revolution stattfinden, der eine Generalstände-Kammermusik vorausgeht...

    "Generalstände" bezeichnete ja, so wissen wir aus der Geschichte, die Versammlung von Vertretern der drei Stände, des Adels, der Geistlichkeit und städtischen Körperschaften im französischen Königreich. Sie war durch das absolutistische Königtum ausgeschaltet worden. Ihre Wiederberufung 1789 rührte zur Französischen Revolution - und eine "Wiederberufung" ereigne sich, so Derrida, auch in den psychoanalytischen Mikro-Revolutionen. Die "Generalstände-Musik", die dem revolutionären Psycho-Akt vorausgehe, verleiht den Instanzen und Ständen des sozialen wie auch psychischen Körpers eine Stimme.

    Dieses Ritual müsste jedes mal, in jeder psychoanalytischen Sitzung, aufs neue beginnen; der Analysand würde immer wieder eine Revolution auslösen und damit virtuell seine eigenen Generalstände eröffnen.

    Hier also ist für Derrida der gleitende Übergang von den historischen Generalständen zu den psychoanalytischen Seelenständen lokalisiert: Die Seelenstände sind die Instanzen des psychischen Körpers, denen der Analysand eine Stimme verleiht und ihn (als einen sozialen, gesellschaftlichen Körper) in seine Freiheit bringt. Dieses psychoanalytische Geschehen ereigne sich ganz ohne Alibi. Das ist Derridas zentrale Formel.

    Und auch der bereits erwähnte Begriff des Unmöglichen gehört für ihn unabdingbar ins Zentrum der Psychoanalyse. Alles, was komme, ereigne sich "in der Form des Unmöglichen, jenseits jeder Konvention und jeder Kontrolle der Szene oder Regieanweisung, jedes Lust- oder Realitätsprinzips, jenseits jedes Bemächtigungstriebs und vielleicht auch Todestriebs".

    Auf dieses Jenseits ist Derridas Blick gerichtet. Es ist aber weniger ein Gerichtetsein als vielmehr ein Gleiten und Schweben, das seinen Diskurs bestimmt. Er selbst sagt einmal:

    Ohne zu wissen - was das Wesentliche angeht -, ohne etwas zu wissen, bewege ich mich voran. Ich habe Ihnen nichts Einfaches, und auch nichts einfach Mögliches zu sagen, und im Grunde weiß ich nichts. Ich weiß nicht einmal, wie ich es gestehen soll, dieses, dass ich nicht nur nichts weiß, sondern dass ich nicht einmal weiß, wohin mit mir, mit mir und meinem Nicht-Wissen, und genauso wenig, wohin mit meinen Fragen nach dem Wissen und dem Können, nach dem Möglichen und dem Jenseits des Möglichen. Ich weiß nicht, wodurch ich mich, um anzufangen, autorisieren soll..."

    Damit siedelt Derrida sein Sprechen dort an, wo auch der psychoanalytische Diskurs stattfindet (oder stattfinden sollte): jenseits des Autoritären und Sich-Autorisierens, jenseits des Wissens und des Bemächtigungstriebs, eben in der Sphäre des Unmöglichen. Eine tausendköpfige Menge lauschte gebannt zweieinhalb Stunden lang der antiautoritären und doch von Derridas Autorität in jedem Augenblick geprägten Seelenarchäologie, dem als "Gruß" sich ausgebenden feinnervigen Diskurs, den er, wohlgemerkt als Philosoph, im Juli 2000 vor den "Generalständen" der Psychoanalyse in Paris hielt. Gehör kann ein solch winkelzügiger, schwebender, vom Nichtwissen und Unmöglichen faszinierter Text wohl nur in Paris vor einem Publikum finden, das sich ein kulturelles Selbstbewusstsein erworben hat, in dem Geschichte, Kunst, Literatur, Philosophie und Psychoanalyse von einzigartiger Präsenz sind.

    Bereits Derridas Einstieg wird getragen von diesem kulturellen Selbstbewusstsein und dem Wissen, dass der Vortragende und die Zuhörerschaft eine Art Bund, ja Geheimbund, bilden:

    Eine erste Abschweifung, vertraulicher Art ... Ja, ich leide grausam...

    Und bereits mit den nächsten Sätzen ist er mitten in der abgrundtiefen Problematik des Leidens; verknüpft mit nur wenigen Strichen das persönliche Leiden an sich selbst und das anderen zugefügte Leid.

    Grausamkeit gibt es, ohne dass jemand gegen einen anderen grausam sein muss. Die psychische Verfassung des Menschen läßt ein grausames Leiden am eigenen Leben zu. Grausamkeit ist nicht unbedingt an Verfehlungen, an Krieg und Blutvergießen und Bluttaten gebunden, sie ist auch ein Seelenzustand. In dieser Dimension verwischt sich der kategoriale Unterschied zwischen dem Mord und dem Selbstmord, zwischen: Schmerzen zufügen, Böses der Neutralität des Unentscheidbaren und muss darin bleiben. Daraus ergibt sich, was ich die 'Seelenstände' der Psychoanalyse nenne."

    Die Psychoanalyse steht also in keinem unmittelbaren und effektiven Bezug zur Ethik und Politik; aber die Ethik, die Rechtsprechung und Politik sollten sich deren Wissen - die psychoanalytische Vernunft, das Unentscheidbare und die "mythologische Trieblehre" - zunutze machen.

    Die Grausamkeit, so Freuds Überzeugung, ist untilgbarer Teil der menschlichen Triebhaftigkeit. Hat man die Illusion einer völligen Auslöschung der Grausamkeits- und Bemächtigungstriebe erkannt, bleibt nur die Kultivierung und die Ökonomie der Umleitung und des Aufschubs.

    "Die illusionslose Fortschrittlichkeit, die Politik der indirekten Zerstreuung stellt einen ernüchterten Rationalismus dar.

    Es gibt nur Unterschiede innerhalb derselben Grausamkeit; man kann nur versuchen, dafür zu sorgen, dass die grausamen Triebe so weitgehend umgelenkt werden, dass sie nicht zu einem Krieg führen.

    Die Psychoanalyse habe sich, so Derrida, der Grausamkeit, dem Prinzip nationalstaatlicher Souveränität und der Todesstrafe noch längst nicht ausreichend zugewandt. Die schier endlos scheinenden Formen der Grausamkeit und ihrer Rechtfertigungen, im Namen einer angemaßten institutionellen Souveränität, und die gleichzeitig entstehenden Gegenbewegungen einer Manifestierung der Menschenrechte fordern die Psychoanalyse zu einer nur von ihr wertungsfrei zu leistenden Deutung heraus.