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Seelenstriptease in Paris

Die französische Schauspielerin Isabelle Huppert, bekannt aus Filmen wie "Die Klavierspielerin", ist zum ersten Mal in einer Inszenierung des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski zu sehen. Dieser bearbeitete Tennessee Williams "Endstation Sehnsucht" neu und brachte es am Théâtre de l'Odeon in Paris auf die Bühne.

Von Eberhard Spreng |
    Isabelle Huppert spricht mit breiiger Stimme, apathisch und mit kurzen konvulsivischen Ausbrüchen. Sie ist, gleich zu Beginn der Aufführung ein klinischer Fall, eine Irre jenseits aller normalen Realitätsbezüge. Sie sitzt auf einem Drehhocker unmittelbar vor einer Leinwand, die ihr flaues Schwarz-Weiß-Videodouble zeigt, inmitten einer verglasten Gangway, in der einzelne sanitäre Geräte angebracht sind. Und diese Gangway quer über die Bühne fährt gelegentlich über darunter liegende Kegelbahnen, vor der ein paar spärliche Möbel einen Innenraum andeuten.

    Wann immer Blanche in dieser Gangway erscheint, ist sie völlig in den verblassenden Trugbildern und Traumata ihres gescheiterten Lebens gefangen, und in diese Gangway schaut der Zuschauer hinein wie in eine Psycho-Peepshow im Breitwandformat. Wer ganz am Anfang schon so ganz am Ende seiner Krankheit angekommen ist, kann keine dramatischen Prozesse mehr erleben. Zu sehen ist also nicht, wie Blanche von ihrer schwangeren Schwester Stella und deren pragmatischem Macker Stanley allmählich aus den Träumen und Trugbildern ihres Lebens gerissen wird. Wo bei Tennessee Williams ganz langsam in Blanche die alte Südstaatengesellschaft stirbt, sind hier grelle Bruchstücke ausgebreitet, Shownummern in einem Seelenpanoptikum, zu dem, wie oft in Warlikowskis Inszenierungen Pop, Kitsch und Varieté gehören. "All by myself" singt also Renate Jett als musikalisches Alter Ego der Protagonistin, nachdem die Huppert ihre Spottrede auf Stanley beendet hat, diesen Mann, zu dem sie eine erotisch heikle Hassbeziehung hat.

    Warlikowski und sein Williams-Bearbeiter, der in Frankreich weit bekannte Regisseur und Autor Wajdi Mouawad haben in Blanches Reise ins Elend zahlreiche literarische und dramatische Anspielungen eingebaut, von Oscar Wildes "Salomé" bis zu Sophokles "Oedipus in Kolonos". Alte Mythen werden in die Neurosenlandschaften eingestreut. Und so wie Tennessee Williams sich einst von Freuds Psychoanalyse inspirieren ließ zu einer psychologischen Tragödie ohne Tote, so holen Mouawad und Warlikowski hier wieder aus dem Mythos all das in den Vordergrund, was einst Freud in der europäischen Psyche versteckt sah.

    Das Ergebnis ist natürlich eine Aufführung ohne jede Immanenz und mit größter Äußerlichkeit. Fast alle Figuren fallen dieser Illustrationsstrategie zum Opfer, außer einem cool-machistischen und wie beiläufig brutalen Stanley in der Verkörperung des Andrzej Chyra und einer immer wieder atemberaubenden Isabelle Huppert. Mit unglaublicher Sicherheit verwandelt sie sich von der anfänglichen klinischen Apathie in die frech-zickige Schwester, vom spielerisch kokettierenden Vamp zur geschundenen Kreatur. So reich auch an sprachlichen Registern, so vielfältig und kompromisslos im Ausloten des Elends hat man Isabelle Huppert noch nicht auf einer Bühne erlebt. Während die anderen gelangweilt auf der Kegelbahn nach ihren Kugeln greifen, tanzt sie mit den langen blonden Haaren ihrer Perücke in kindlicher Ausgelassenheit, überrumpelt mit vitaler Unberechenbarkeit die tumben Jungs in ihrer Umgebung um dann doch wieder in eben jener Agonie zu enden, die im Anfang schon drohte.

    Die neue Arbeit von Krzysztof Warlikowski ist auf geradezu fahrlässige Art und Weise auf einen Star zugeschnitten, den man für jede Szene in ein neues Kostüm steckt und auf einen Hochleistungsparcours des seelischen Exhibitionismus schickt. Wäre da keine Isabelle Huppert, "Un Tramway" wäre nicht mehr als noch eine mittelmäßige Text- und Mythensammlung.