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Sehhilfe für Bonobos?
Auch Menschenaffen leiden unter Altersweitsichtigkeit

Zu viel am PC gearbeitet, zu viel bei schwachem Licht gelesen und irgendwann lässt die Augenmuskulatur nach. Die Altersweitsichtigkeit gilt als eine typische menschliche Errungenschaft. Das stimmt nicht, berichten japanische Primatenforscher im Fachblatt "Current Biology". Sie haben herausgefunden, dass auch Bonobos im Alter Nahes nur unscharf sehen.

Von Michael Stang | 08.11.2016
    Das schlechte Wetter in ihrem Aussengehege nutzen zwei Bonobo-Affen am Montag (04.04.2011), um sich im Zoo von Frankfurt am Main ausgiebig zu lausen. Die Tiere leben auch in freier Wildbahn in grossen Familienverbänden
    Fellpflege bei den Bonobos (dpa picture alliance / Boris Roessler)
    Bei Schimpansen und Bonobos dient das Grooming, die gegenseitige Fellpflege, als der soziale Kitt innerhalb einer Gruppe. Es stärkt den sozialen Zusammenhalt und beruhigt die Tiere. Er habe schon hunderte Stunden seine Bonobos dabei beobachtet, sagt Heungjin Ryu vom Primatenforschungsinstitut der Kyoto Universität in Japan. Aber erst 2014 sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen:
    "Eines Tages habe ich mit einem Kollegen Bonobos beobachtet. Und wir bemerkten, wie lustig es aussieht, wenn alte Bonobos soziale Fellpflege betreiben. Beim Grooming suchen und entfernen sie ja winzige Ektoparasiten. Zum Entfernen der Schmarotzer mit den Lippen und Zähnen müssen sie ganz nah kommen - um scharf zu sehen, müssen sie sich aber wieder nach hinten lehnen."
    Alte Tiere gehen beim "Grooming" auf Distanz
    Die alten Tiere seien dabei regelrecht nach vorn und hinten geschaukelt. Konnte es also sein, dass Bonobos mit dem Alter, ähnlich wie Menschen, weitsichtig werden? Um das zu überprüfen, wertete der Primatologe Fotos von 14 freilebenden Bonobos im Alter von elf bis 45 Jahren aus und maß den Abstand der Tiere beim Grooming. Dabei sah er, dass der Abstand bei Männchen und Weibchen mit dem Alter zunahm.
    "Dann haben wir den Graph einer Exponentialfunktion erstellt, der die Grooming-Distanz mit zunehmendem Alter darstellt. Danach habe ich nach vergleichbarer Literatur beim Menschen gesucht und bin auf eine Studie von 1922 gestoßen. Und erstaunlicherweise waren die Ergebnisse menschlicher Patienten nahezu identisch mit unseren Bonobo-Daten."
    Heungjin Ryu überlegte, ob er die fortschreitende Altersweitsichtigkeit auch bei einzelnen Tieren nachweisen konnte - und er hatte Glück.
    "Wir fanden eine Videoaufnahme eines alten Bonobos von 2009. Darin konnten wir die Grooming-Distanz dieses alten Männchens messen und mit der von 2015 vergleichen. In diesen sechs Jahren hat die Distanz um fünf Zentimeter zugenommen."
    Altersweitsichtigkeit keine moderne menschliche Errungenschaft
    Damit steht fest, dass es auch bei Bonobos, die zu den nächsten lebenden Verwandten des Menschen gehören, mit dem Sehvermögen im Laufe des Alters bergab geht. Die rapide Abnahme beginne mit etwa 40 Jahren - in einem vergleichbaren Lebensalter wie beim Menschen. Heungjin Ryu ist davon überzeugt, dass die Altersweitsichtigkeit also keine moderne menschliche Errungenschaft ist, die durch das Schreiben und Lesen hervorgerufen oder zumindest beschleunigt wird, sondern tief im Stammbaum der Primaten verwurzelt ist. Damit steht auch die sogenannte Großmutterhypothese zur Diskussion:
    "Eine der Annahmen bei der Großmutterhypothese ist ja, dass der Alterungsprozess beim Menschen im Vergleich zu Schimpansen und Bonobos deutlich verlangsamt ist. Für diese These gibt es aber kaum handfeste Daten. Ich finde die These weiter überzeugend, aber einige Details müssen nun im Zuge der neuen Erkenntnisse korrigiert werden."
    Menschen können ihre Altersweitsichtigkeit mithilfe von Brillen korrigieren - Bonobos nicht. Daher könnte das abnehmende Sehvermögen Auswirkungen auf das Sozialleben haben. Die Altersweitsichtigkeit könnte beeinflussen, weshalb ältere Tiere in der Gruppenhierarchie absteigen und bei der Suche nach einem Partner zur Fellpflege weniger attraktiv sind.