Archiv


Sehnsucht an der Nordsee nach der Südsee

Tonga - ein kleines Inselkönigreich in der Südsee. Dort soll Mitte des 19. Jahrhunderts der schiffbrüchige Seemann Hinrich Meyer gestrandet sein, geheiratet haben und zum König gekrönt worden sein. Das berichtet zumindest die Chronik seines norddeutschen Heimatdorfes. Wahrheit oder Wunschdenken? Die Künstlergruppe "Das Letzte Kleinod" in Cuxhaven hat recherchiert und die Geschichte am Elbestrand vor Cuxhaven aufgeführt.

Von Hartmut Krug |
    Von einer Häuptlingstochter begehrt zu werden oder diese zu erobern, ist seit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus als Sehnsuchtsmotiv und Glücksverheißung verankert in biographischen und literarischen Berichten von Fernreisenden und Kolonisatoren. Ob der Seemann Hinrich Meyer, geboren um 1830 im Alten Land hinterm Elbdeich auf dem Hof Neuenschleuse bei Jork, wirklich als Schiffbrüchiger auf Tonga gelandet ist, wie die Jorker Dorfchronik verzeichnet, ob er eine Häuptlingstochter geheiratet hat und 1845 zum König Georg Tupou I. gekrönt worden ist, bleibt im Stück "King of Tonga" nicht zufällig offen. Regisseur Jens-Erwin Siemssen:

    " In unserer Inszenierung geht es um Sehnsüchte, die Erfüllung von Sehnsüchten, aber auch das Scheitern. Der Mensch ist immer nach der Suche nach dem Idealzustand. Bei meinen Interviews in der Südsee habe ich mehrere Leute gesprochen, die sagten, "oh Germany, Germany is a paradise, because it's so cold." Der Schnee, die Berge, alles ist kalt, das ist für einen Südseeinsulaner das Paradies. Während wir uns nach Palmen, nach Strand, nach Wärme sehnen. Das zeigt im Grunde genommen, dass der Mensch immer strebt, aber nie an sein Ziel gelangt. "

    Jens-Erwin Siemssen hat nicht nur an der Unterelbe in Gemeindearchiven recherchiert und Interviews geführt, sondern auch auf Tonga mit traditionellen Geschichtenerzählern, dem Archivar des Königs und deutschen Auswanderern gesprochen.

    Dabei bietet die Inszenierung keine lineare Geschichte, sondern umkreist ihr Thema "Sehnsucht an der Nordsee nach der Südsee" mit vielfältigem Textmaterial: von Tongalesen, die in Deutschland leben, von Deutschen, die nach Tonga ausgewandert sind, sowie mit Material aus alten Quellen und aktuellen Interviews. Drei Darsteller spielen in wechselnden Rollen 7 bis 8 Figuren, und eine tongalesische Tänzerin verkörpert, indem sie in fremder Sprache singt und aus anderem Bewegungskanon schöpft, ein, unser Bild von der Verheißung einer fremden Kultur:

    Die Inszenierungen der 1991 in Amsterdam gegründeten Theatergruppe "Das letzte Kleinod" stellen eine Form von Dokumentartheater dar, wie es dies in Deutschland wohl kein zweites Mal gibt. In der Tradition der holländischen Bewegung "Theater ob locatie" stehend, entdeckt dieses Theater seine Spielorte nicht vordringlich wegen ihres fremden, theatralischen Reizes, sondern wegen ihrer Geschichte. Die erzählt wird, um mit der Geschichte über die Gegenwart zu reflektieren. So hat die Gruppe ein Stück über den Polarforscher Alfred Wegener in einem Kühlhaus bei minus 24 Grad gezeigt, sie hat den deutsch-isländischen Fischereikonflikt in einem Netzboden und einer Fischmarkthalle in Cuxhaven und Island gespielt, und sie führte ihr Stück über den Kolonisten Carl Peters im Cuxhavener Fort Kugelbake sowie im ehemaligen Sitz der Kolonialregierung in Bagamoyo in Tansania vor. Sogar auf einer Insel in der Wesermündung, im Watt bei Sahlenburg und auf dem historischen Auswanderer-Pier des Steubenhöft in Cuxhaven hat "Das letzte Kleinod" seine historisch-sinnlichen Dokumentarstücke präsentiert.

    Der "King of Tonga" wird am Strand von Cuxhaven vor der "Kulisse" des wohl meistbefahrenen Seeweges der Welt gezeigt. Das Publikum schaut aufs Wasser und die Kugelbake, ein riesiges hölzernes Seezeichen auf einer Buhne an der Mündung der Elbe in die Nordsee, an der auch Hinrich Meyer vorbeigesegelt sein muss. Während der spätabendlichen Vorstellung zieht, während die Sonne untergeht, ein stetiger Strom von riesigen Containerschiffen und kleinen Kuttern vorbei. So spielt sich das Theaterspiel von der schwierigen Kontaktaufnahme zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen vor der realen Kulisse des maritimen Handelsverkehrs ab:

    " Das, was wir erzählen, das erzählen wir über heutige Geschichten von Migration nach Tonga oder nach Deutschland, und eben das Aufeinanderprallen von zwei Kulturen, was diese Geschichte eigentlich auch erzählt. "

    Wenn Hinrich von der fernen Buhne eine Tonne herbeischleppt, dann deshalb, weil er auch in der Fremde die eigene Kultur auf dem Buckel trägt. Regisseur Jens-Erwin Siemssen hat in Amsterdam Objekttheater studiert, ein Fach an der Schnittstelle von bildender und darstellender Kunst. Wie nun in dieser Inszenierung mit blauen Tonnen und ihren Deckeln bildlich, metaphorisch und darstellerisch gearbeitet wird, das ist so einfallsreich wie einfach: mal stecken die Figuren in den Tonnen fest, mal benutzen sie diese zur rollenden Annäherung, dann wieder bauen sie sie zu Kanonen oder Arbeitsmitteln um. Mit den Tonnen wird schauspielerisch das Kommunikations- und Annäherungsproblem zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen auf spielerisch überzeugende Weise versinnlicht. Vor lauter Begeisterung über die Entdeckung dieser so ganz eigenen und überzeugenden Form des Dokumentartheaters vergisst der Zuschauer das zum Theater im Freien, zumal in Norddeutschland leider gehörende, kalt-feuchte Regenwetter.