Die Darstellung der Pubertät, der Zeitspanne zwischen nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen sein, gehört zu den schwierigsten Aufgaben in der Literatur. Robert Musils "Törless", Hermann Hesses "Unterm Rad" oder Bernhard Schlinks "Der Vorleser" zählen zu den bekanntesten Romanen, die sich auf das Motiv des Erwachsenwerdens eingelassen haben. Nun setzt sich auch Antonio Muñoz Molina, einer der herausragenden spanischen Gegenwartsautoren, in seinem neuesten Roman "Mondwind" mit dieser Problematik auseinander.
Seine Erzählstimme leiht er einem 13-jährigen Jungen, der von allen nur möglichen Einsamkeitsgefühlen, Ängsten, Wunschträumen, Peinlichkeiten und sexuellen Fantasien und Erlebnissen verfolgt wird, wie es wohl nur einem Pubertierenden widerfahren kann. Der Junge lebt in einem abgelegenen Ort Andalusiens. Seine Eltern sind Gemüsebauern, und die Tage werden bestimmt von der Feldarbeit, vom gemeinsamen Essen, von Besuchen beim kränklichen Nachbarn und Geschichten und Gerüchten. Der Junge, Schüler in einem streng katholischen Solesianerkolleg, verbringt seine Ferientage in seinem Dachzimmer und spinnt sich dort ein in die Welt der Bücher von Jules Verne, Daniel Defoe oder Charles Darwin. In seiner Fantasie befindet er sich auf weit entfernten und exotischen Reisen, um der Enge seiner dörflichen Herkunft wie auch der eigenen, ihm fremd werdenden Kindheit oder, wie er es nennt, dem "Stand der Gnade" zu entkommen.
"Hat man den Stand der Gnade erst einmal verloren, bekommt man ihn nicht zurück, ebenso wenig wie die helle Kinderstimme und das glatte Gesicht ohne Pickel und dunklen Flaum, die haarlosen Beine und das Recht des Nichtstuns, während sich alle Welt dem bitteren Muss zur Arbeit unterwirft. Vor wenigen Jahren noch hätte Großvater mich in die Luft gehoben und lachend auf den Rücken der Eselin gesetzt (...). Jetzt aber schaut er mich an, als erkenne er mich nicht wieder, bemerkt entmutigende oder gar beängstigende Anzeichen in fast allem, was ich tue, in meinem schlaksigen Körper, der von einem Jahr aufs andere Großvaters Höhe erreicht hat."
Um die Erfahrung plötzlich auftauchender Unterschiede zwischen dem Jungen und seiner Umgebung noch deutlicher zu machen, lässt Muñoz Molina das Romangeschehen an einem Tag beginnen, an dem etwas bisher nie da Gewesenes geschah: Es ist der 16. Juli 1969, das Raumschiff Apollo 11 startet zu seinem Flug zum Mond mit drei Astronauten an Bord. Wann immer es ihm möglich ist, verfolgt der Junge dieses Unternehmen, ob in der Zeitung, am Radio oder im gerade erst angeschafften Schwarz-Weiß-Fernseher. Je mehr sich Armstrong, Aldrin und Collins dem Trabanten nähern, desto entfernter und rückständiger erscheint dem Dreizehnjährigen das Leben bei seinen Eltern. Während es auf dem Hof nicht einmal fließend Wasser gibt, geschweige denn eine Dusche, schweben die Astronauten mit modernsten technischen Mitteln computergesteuert durch das All. Drei Tage dauert ihr Flug, bis Armstrong als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond setzt, während in dem kleinen Ort Mágina die Zeit seit Jahrhunderten stehen geblieben zu sein scheint. Muñoz Molina nutzt diese Diskrepanz, um auf bisweilen endlos lang erscheinenden Buchseiten das ländliche Leben seiner Heimatregion zu schildern. Bis ins Detail werden Arbeitsvorgänge wie bei der Olivenernte beschrieben, die frühmorgendliche Kälte, oder es wird die Geschichte einzelner Nachbarn verfolgt. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Laut- und Schwerelosigkeit in der Raumkapsel und ihr unvorstellbar weit entferntes Ziel, auch wenn der Großvater den Nutzen dieser Reise anzweifelt.
"Wenn auf dem Mond nichts ist", sagt er, "warum wollen sie dann unbedingt hin?" und stößt mit einem solchen Kommentar auf das völlige Unverständnis seines Enkels. Der stellt ganz andere Vergleiche an, zum Beispiel wenn er seine Verwandten beim Essen beobachtet.
"Sie saugen und schlürfen geräuschvoll an den Knochen, knabbern daran herum, bis die letzte Fleischfaser abgenagt ist, brechen ein Kaninchenbein im Gelenk auseinander, damit auch da nichts unbenagt bleibt, alles mit höchster Konzentration, beinahe fanatisch (...). Im Raumschiff von Apollo 11 nehmen die Astronauten konzentrierte Nährlösungen zu sich, die mühelos geschluckt werden können, und trinken belebende Flüssigkeiten aus weißen Plastikfläschchen, die hinterher leer und sauber durch die Raumkapsel schweben. (...) Wir reißen mit den Händen Stücke von einem riesigen runden Brotlaib mit mehlbestäubter grober dunkler Kruste, tunken sie in Bratenfett und stopfen sie uns in aufgerissene Münder (...)."
Die ungeteilte Sympathie des Jungen haben eindeutig die waghalsigen Astronauten. Sie sind die Helden seiner Fantasie, die in den Fernsehbildern und Berichten Wirklichkeit werden. Sie befreien ihn von seinen durch die katholische Erziehung schuldbeladenen ersten sexuellen Erlebnissen und verhelfen ihm dazu, für ein paar Tage seiner engen Welt zu entfliehen.
"Mit geschlossenen Augen stelle ich mir vor, dass ich dieser Astronaut bin. Ich sehe keine Sterne, nur ein Dunkel, in dem nichts existiert (...). Ich sehe die immense Wölbung der Erde, die blau und weiß leuchtet und sich ganz langsam bewegt, die Wolkenspiralen, die Schattengrenze zwischen der Nacht und dem Tag."
In der "Schattengrenze zwischen Nacht und Tag" bewegt sich – auch stilistisch – Muñoz Molinas gesamter Roman. Die Handlung ist im Präsens geschrieben und wirkt dadurch eigenartig artifiziell. Denn in Wahrheit befasst sie sich mit einer lange zurückliegenden und doch am eigenen Leibe erfahrenen Zeit. Das Präsens erlaubt wegen des ständigen Fortschreitens in der Zeit nur das momentane Erlebnis oder eine Art Nachdenken, eine Reflexion, aber keine Erinnerung, keine empfundene Tiefe. Antonio Muñoz Molina muss dieses Manko gespürt haben. Am Schluss seines Buches wechselt er plötzlich die Perspektive und tritt als alternder Mensch seinem pubertierenden Ich von damals gegenüber als wäre er sich in dieser frappierenden Ehrlichkeit selbst nicht im Klaren darüber, wer da wen erblickt: der Halbwüchsige den Erwachsenen oder der Ergraute den jungen Spund.
"Vor wenigen Minuten noch war ich dreizehn Jahre alt und kam mit einem Buch über Astronomie unter dem Arm aus der Stadtbücherei zurück, und jetzt, im Badezimmerspiegel, bin ich ein Mann mit grauem Haar, verirrt mit einem Mal in einer ferneren Zukunft als die der meisten Zukunftsromane, die ich damals las [und] (...) so gründlich von meinen früheren Lebensaltern abgeschnitten (bin) wie einer, der nach einem Verkehrsunfall ohne Gedächtnis erwacht und nicht einmal den Klang seines Namens erkennt."
Es wäre vorstellbar, dass Antonio Muñoz Molina mit dieser verstörenden Selbstwahrnehmung seinen elegant geschriebenen und von Willi Zurbrüggen perfekt übersetzten Roman "Mondwind" hätte beginnen lassen können. Dann wäre er – in der Perspektive der Erinnerung bleibend – möglicherweise weniger kunstvoll, vielleicht aber auch noch eindringlicher menschlich geworden.
Antonio Muñoz Molina: Mondwind. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010. 335 Seiten. 19, 95, Euro.
Seine Erzählstimme leiht er einem 13-jährigen Jungen, der von allen nur möglichen Einsamkeitsgefühlen, Ängsten, Wunschträumen, Peinlichkeiten und sexuellen Fantasien und Erlebnissen verfolgt wird, wie es wohl nur einem Pubertierenden widerfahren kann. Der Junge lebt in einem abgelegenen Ort Andalusiens. Seine Eltern sind Gemüsebauern, und die Tage werden bestimmt von der Feldarbeit, vom gemeinsamen Essen, von Besuchen beim kränklichen Nachbarn und Geschichten und Gerüchten. Der Junge, Schüler in einem streng katholischen Solesianerkolleg, verbringt seine Ferientage in seinem Dachzimmer und spinnt sich dort ein in die Welt der Bücher von Jules Verne, Daniel Defoe oder Charles Darwin. In seiner Fantasie befindet er sich auf weit entfernten und exotischen Reisen, um der Enge seiner dörflichen Herkunft wie auch der eigenen, ihm fremd werdenden Kindheit oder, wie er es nennt, dem "Stand der Gnade" zu entkommen.
"Hat man den Stand der Gnade erst einmal verloren, bekommt man ihn nicht zurück, ebenso wenig wie die helle Kinderstimme und das glatte Gesicht ohne Pickel und dunklen Flaum, die haarlosen Beine und das Recht des Nichtstuns, während sich alle Welt dem bitteren Muss zur Arbeit unterwirft. Vor wenigen Jahren noch hätte Großvater mich in die Luft gehoben und lachend auf den Rücken der Eselin gesetzt (...). Jetzt aber schaut er mich an, als erkenne er mich nicht wieder, bemerkt entmutigende oder gar beängstigende Anzeichen in fast allem, was ich tue, in meinem schlaksigen Körper, der von einem Jahr aufs andere Großvaters Höhe erreicht hat."
Um die Erfahrung plötzlich auftauchender Unterschiede zwischen dem Jungen und seiner Umgebung noch deutlicher zu machen, lässt Muñoz Molina das Romangeschehen an einem Tag beginnen, an dem etwas bisher nie da Gewesenes geschah: Es ist der 16. Juli 1969, das Raumschiff Apollo 11 startet zu seinem Flug zum Mond mit drei Astronauten an Bord. Wann immer es ihm möglich ist, verfolgt der Junge dieses Unternehmen, ob in der Zeitung, am Radio oder im gerade erst angeschafften Schwarz-Weiß-Fernseher. Je mehr sich Armstrong, Aldrin und Collins dem Trabanten nähern, desto entfernter und rückständiger erscheint dem Dreizehnjährigen das Leben bei seinen Eltern. Während es auf dem Hof nicht einmal fließend Wasser gibt, geschweige denn eine Dusche, schweben die Astronauten mit modernsten technischen Mitteln computergesteuert durch das All. Drei Tage dauert ihr Flug, bis Armstrong als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond setzt, während in dem kleinen Ort Mágina die Zeit seit Jahrhunderten stehen geblieben zu sein scheint. Muñoz Molina nutzt diese Diskrepanz, um auf bisweilen endlos lang erscheinenden Buchseiten das ländliche Leben seiner Heimatregion zu schildern. Bis ins Detail werden Arbeitsvorgänge wie bei der Olivenernte beschrieben, die frühmorgendliche Kälte, oder es wird die Geschichte einzelner Nachbarn verfolgt. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Laut- und Schwerelosigkeit in der Raumkapsel und ihr unvorstellbar weit entferntes Ziel, auch wenn der Großvater den Nutzen dieser Reise anzweifelt.
"Wenn auf dem Mond nichts ist", sagt er, "warum wollen sie dann unbedingt hin?" und stößt mit einem solchen Kommentar auf das völlige Unverständnis seines Enkels. Der stellt ganz andere Vergleiche an, zum Beispiel wenn er seine Verwandten beim Essen beobachtet.
"Sie saugen und schlürfen geräuschvoll an den Knochen, knabbern daran herum, bis die letzte Fleischfaser abgenagt ist, brechen ein Kaninchenbein im Gelenk auseinander, damit auch da nichts unbenagt bleibt, alles mit höchster Konzentration, beinahe fanatisch (...). Im Raumschiff von Apollo 11 nehmen die Astronauten konzentrierte Nährlösungen zu sich, die mühelos geschluckt werden können, und trinken belebende Flüssigkeiten aus weißen Plastikfläschchen, die hinterher leer und sauber durch die Raumkapsel schweben. (...) Wir reißen mit den Händen Stücke von einem riesigen runden Brotlaib mit mehlbestäubter grober dunkler Kruste, tunken sie in Bratenfett und stopfen sie uns in aufgerissene Münder (...)."
Die ungeteilte Sympathie des Jungen haben eindeutig die waghalsigen Astronauten. Sie sind die Helden seiner Fantasie, die in den Fernsehbildern und Berichten Wirklichkeit werden. Sie befreien ihn von seinen durch die katholische Erziehung schuldbeladenen ersten sexuellen Erlebnissen und verhelfen ihm dazu, für ein paar Tage seiner engen Welt zu entfliehen.
"Mit geschlossenen Augen stelle ich mir vor, dass ich dieser Astronaut bin. Ich sehe keine Sterne, nur ein Dunkel, in dem nichts existiert (...). Ich sehe die immense Wölbung der Erde, die blau und weiß leuchtet und sich ganz langsam bewegt, die Wolkenspiralen, die Schattengrenze zwischen der Nacht und dem Tag."
In der "Schattengrenze zwischen Nacht und Tag" bewegt sich – auch stilistisch – Muñoz Molinas gesamter Roman. Die Handlung ist im Präsens geschrieben und wirkt dadurch eigenartig artifiziell. Denn in Wahrheit befasst sie sich mit einer lange zurückliegenden und doch am eigenen Leibe erfahrenen Zeit. Das Präsens erlaubt wegen des ständigen Fortschreitens in der Zeit nur das momentane Erlebnis oder eine Art Nachdenken, eine Reflexion, aber keine Erinnerung, keine empfundene Tiefe. Antonio Muñoz Molina muss dieses Manko gespürt haben. Am Schluss seines Buches wechselt er plötzlich die Perspektive und tritt als alternder Mensch seinem pubertierenden Ich von damals gegenüber als wäre er sich in dieser frappierenden Ehrlichkeit selbst nicht im Klaren darüber, wer da wen erblickt: der Halbwüchsige den Erwachsenen oder der Ergraute den jungen Spund.
"Vor wenigen Minuten noch war ich dreizehn Jahre alt und kam mit einem Buch über Astronomie unter dem Arm aus der Stadtbücherei zurück, und jetzt, im Badezimmerspiegel, bin ich ein Mann mit grauem Haar, verirrt mit einem Mal in einer ferneren Zukunft als die der meisten Zukunftsromane, die ich damals las [und] (...) so gründlich von meinen früheren Lebensaltern abgeschnitten (bin) wie einer, der nach einem Verkehrsunfall ohne Gedächtnis erwacht und nicht einmal den Klang seines Namens erkennt."
Es wäre vorstellbar, dass Antonio Muñoz Molina mit dieser verstörenden Selbstwahrnehmung seinen elegant geschriebenen und von Willi Zurbrüggen perfekt übersetzten Roman "Mondwind" hätte beginnen lassen können. Dann wäre er – in der Perspektive der Erinnerung bleibend – möglicherweise weniger kunstvoll, vielleicht aber auch noch eindringlicher menschlich geworden.
Antonio Muñoz Molina: Mondwind. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010. 335 Seiten. 19, 95, Euro.