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Sehnsucht nach Erfolg
Chinas Weg zur Fußball-Großmacht

Chinas Fußballgeschichte ist geprägt von Niederlagen und Demütigungen: Ein einziges Mal war das Land bei einer WM dabei, für den Pokal des Asienmeisters hat es noch nie gereicht. Das soll sich jetzt ändern. Chinas Führung hat landesweit ein ehrgeiziges Fußballprogramm verordnet und peilt den WM-Titel 2050 an.

Von Axel Dorloff | 05.03.2017
    Chinesiche Fußballfans schwenken ein Fahne beim Gree China Cup International Football Championschip in Nanning, China.
    Chinesiche Fußballfans schwenken ein Fahne beim Gree China Cup International Football Championschip in Nanning, China. (dpa/ picture alliance/ Hu Yan)
    Plötzlich, laut und unsanft geht die Nacht zu Ende. Weckruf an der Evergrande Fußball-Akademie in Qingyuan im Süden Chinas. Um Punkt 6 Uhr 30 tönt Musik aus den vielen Lautsprechern auf dem Campus. Ein neuer Tag beginnt, an der größten Fußball-Schule der Welt. Mit einem Guten Morgen in fünf Sprachen.
    Zhang Le ist einer von rund 2500 Kindern und Jugendlichen an der Evergrande Fußball-Akademie. Sein Schlafanzug ist ein gelbes Trikot der Fußballschule. Die Akademie gehört zum Klub Guangzhou Evergrande. Serienmeister in China, in den vergangenen sechs Jahren gingen alle Meistertitel nach Guangzhou. Zhang Le sitzt an diesem Morgen noch etwas verstört auf seiner Bettkante und reibt sich die Schlafkörner aus den Augen. "Ich heiße Zhang Le und bin 12 Jahre alt. Ich komme aus der Provinz Sichuan und gehe seit 2012 auf die Fußball-Schule. Früher habe ich immer nur mit Freunden auf dem Schulhof gespielt. Dann haben wir eine Werbung dieser Fußball-Schule im Fernsehen gesehen. Seitdem wollte ich hier hin – und habe es geschafft."
    Im Fußball-Internat teilt sich Zhang Le ein kleines Zimmer mit fünf anderen Jungs. Sie legen ihre grüne Fußball-Bettwäsche ordentlich zusammen, stopfen die Schlafsachen in die Schubladen und schlüpfen in ihre Trainingsanzüge. Danach stehen alle am Waschbecken und putzen Zähne. Die 40-jährige Huang Jinmao ist eine Art Herbergsmutter der Fußball-Akademie. Sie geht von Tür zu Tür und weckt diejenigen, die immer noch schlafen. "Jeden Morgen mache ich den Weck-Service. Achte darauf, dass die Kinder sich das Gesicht waschen, Zähne putzen und ihre Betten machen. Dann schicke ich sie zum Frühstück. Und danach in den Unterricht und zum Training. Manche vermissen ihr Zuhause, wenn sie zu uns kommen, sitzen in der Ecke und weinen. Aber die meisten gewöhnen sich schnell an die neue Umgebung."
    Größte Fußballschule der Welt liegt in Qingyuan
    Die Fußball-Akademie liegt knappe zwei Autostunden von Chinas Millionen-Metropole Guangzhou entfernt. Hier, in der grünen, hügligen Landschaft von Qingyuan, hat der Immobilienmilliardär und Chef der Evergrande-Gruppe Xu Jiayin 2011 die größte Fußball-Schule der Welt bauen lassen. Von seinem Büro blickt der Direktor der Fußball-Akademie, Liu Jiangnan, auf das gewaltige Eingangstor. Es wird bestrahlt von riesigen Lampen, die wie Fußbälle aussehen. "Unser Investor Xu Jiayin möchte mit dieser Akademie etwas für den Aufstieg des chinesischen Fußballs tun. Die Schule ist Ausdruck seiner Hoffnung. Es ist fraglich, ob sich das mal rechnen wird. Aber er will zunächst etwas zur Entwicklung des Fußballs in China beitragen. Also hat er in diese Schule investiert. Natürlich hoffen wir, dass eines Tages viele Stars von unserer Akademie kommen und wir mit ihnen Geld verdienen. Aber ursprünglich war das weniger eine Geschäftsidee."
    Es ist ein gigantisches Anwesen: 50 Fußballplätze, ein Stadion, ein herrschaftlicher Park, ein weitläufiger Campus. Schul- und Wohngebäude sind im neogotischen Stil errichtet, mit Türmchen und Erkern.
    Die Schuluniform an der Evergrande Fußball-Akademie ist ein dunkelroter Trainingsanzug. Zhang Le und seine Klassenkameraden stellen sich ordentlich der Reihe nach auf, bevor sie gemeinsam zum Klassenraum gehen. Vor dem Fußballtraining am Vormittag steht auch an der Fußball-Akademie ganz normaler Schulunterricht auf dem Programm. Zhang Le hat in den ersten beiden Stunden Englisch. "Ich mag es hier. Die Lehrer und auch die Trainer behandeln uns sehr gut. Außerdem bekommen wir weniger Hausaufgaben, verglichen mit normalen Schulen. Und das Essen ist auch sehr gut. Am Anfang hatte ich Heimweh, jetzt nicht mehr. Am Wochenende treffe ich meine Eltern, die haben hier in der Nähe ein Apartment gemietet."
    Mit Strategie zum Erfolg
    Am späten Vormittag haben Zhang Le und seine Klasse Fußball-Training. Mit bloßem Auge kann man die 50 Fußballplätze kaum überblicken. Überall laufen Kinder in roten oder gelben Trikots umher. Für jede Klasse sind drei Fußballtrainer gleichzeitig verantwortlich. Alles ist durchorganisiert. Die Evergrande Fußball-Akademie hat einen genauen Plan für die Zukunft, erzählt Direktor Liu Jiangnan. "Diese Schule ist im ganzen Land einzigartig. Wir haben sehr viele Schüler. Aber wir wissen: nur wenige davon sind im Fußball hoch begabt. Also fördern wir beides, die allgemeine Schulbildung und das spezielle Fußball-Talent. Langfristig wollen wir erreichen, dass es 5 von 100 schaffen. Soll heißen: von 100 Schülern sollen 5 mal irgendwo professionell Fußball spielen können."
    Die Evergrande Fußball-Akademie als große Talentschmiede des chinesischen Fußballs. Davon träumen sie hier. Und es passt zur politischen Zielsetzung. Chinas Präsident Xi Jinping hat dem ganzen Land vor zwei Jahren ein ehrgeiziges Fußballprogramm verordnet. Auch wenn es die Akademie schon vorher gab, Direktor Liu nimmt den politischen Auftrag ernst. "Wir sind die zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt, aber im Fußball sind wir eine schwache Nation. Das passt nicht zusammen. Wir sollten alle zusammen daran arbeiten, dass sich das ändert. Wir müssen die Ausbildung der jungen Spieler ändern, bevor wir an das höchste Niveau denken. Dafür gibt es unsere Schule! Wir suchen nach einem Weg, die fußballerischen Fähigkeiten der Schüler zu verbessern. Unsere Schule ist der Schlüssel zum Traum unseres Präsidenten Xi Jinping, Chinas Fußball wiederzubeleben!"
    50-Punkte-Aktionsplan der Regierung
    Im Mittelpunkt der Fußball-Offensive steht der 50-Punkte-Aktionsplan der chinesischen Regierung: 50.000 Fußballschulen bis zum Jahr 2025. Amateurligen und Vereinsmannschaften sollen gegründet, neue Fußballplätze gebaut, neue Trainer ausgebildet werden. Kurzum: China will eine Fußball-Infrastruktur an der Basis schaffen, die es bislang in der Volksrepublik nicht gibt. Das sei zunächst mal der richtige Ansatz, sagt Rowan Simons. Der Engländer lebt seit mehr als 30 Jahren in China und arbeitet fürs chinesische Fernsehen als Fußball-Kommentator. "Dieser Fußball-Plan ist der vernünftigste Plan, den ich je von einer chinesischen Regierung gesehen habe. Er ist im Detail sehr durchdacht und versucht zum ersten Mal, eine langfristige Perspektive für den Fußball in China zu schaffen. Wir hatten in den letzten 30 Jahren eine Reihe von kurzfristigen Plänen. Auch weil der Fußballverband bis vor kurzem immer Teil der Regierung war. Ich kann mich an mehrere Fünf-Jahrespläne für den Fußball erinnern, die alle krachend gescheitert sind. Jetzt haben wir endlich mal einen langfristigen Plan."
    Simons ist Präsident des Fußballvereins China ClubFootball FC. Bereits im Jahr 2001 hat er als einer der ersten in China versucht, einen ganz normalen Amateurverein nach englischem Vorbild zu gründen. Trotz viel Widerstand hat er es geschafft. Immer wieder hat Rowan Simons Reformen im chinesischen Fußball gefordert und die fehlenden Strukturen an der Basis bemängelt. Jetzt gibt es zwar einen Fußball-Aktionsplans Plan im großen Stil. Aber: die Umsetzung auf lokaler Ebene in den Provinzen sei nicht ansatzweise so gut wie der Plan selbst, kritisiert Fußball-Experte Simons. "Die Umsetzung geht bislang völlig in die falsche Richtung. Wir erleben verrückte und unkoordinierte Investitionen in die Fußball-Industrie. Oft von Leuten, die überhaupt keine Ahnung von Fußball haben. Es sind bereits Milliarden Dollar verschwendet worden. Erstens, weil man zu viel Geld für Beteiligungen an ausländischen Klubs ausgeben hat. Atletico Madrid oder Manchester City zum Beispiel. Zweitens werden zu hohe Summen für ausländische Stars bezahlt. Und: wir sehen Städte in China, die gleich hundert Fußballplätze auf einmal bauen. Wir haben Städte, die Volleyball und Basketball verboten haben, um den Fußball zu fördern. Dann sind alles Beispiele für verrückte, unkoordinierte Maßnahmen und Investitionen, die nur einem politischen Gebot folgen."
    Chinesische Super League rüstet weiter auf
    Im Rahmen der allgemeinen Fußball-Aufbruchsstimmung rüstet auch die Chinesische Super League weiter auf. Noch nie haben chinesische Vereine so viel Geld für Stars aus dem Ausland ausgeben. Laut Parteiblatt Volkszeitung waren es allein im Jahr 2016 umgerechnet 540 Millionen Euro für 95 ausländische Spieler. Die Transferstatistiker der FIFA haben zwar "nur" 450 Millionen Euro errechnet, aber auch danach hat China seine Transferausgaben im Vergleich zum Vorjahr fast verdreifacht. Rekordtransfer für die Saison 2017 ist der Brasilianer Oscar vom FC Chelsea. Der Klub Port Shanghai FC hat für den 25-jährigen rund 60 Millionen Euro überwiesen.
    Auch für die Fans vom anderen Shanghai Klub Shenhua gab es eine besondere Neuverpflichtung: der Argentinier Carlos Tevez. Hier bei seiner Ankunft am Flughafen in Shanghai Ende Januar. Tevez erledigt diesen Auftritt gelassen und souverän: ein Lächeln, ein Blumenstrauß zur Begrüßung. Und die Fans von Shanghai Shenhua überreichen ein blauen Schal seines neuen Vereins mit seinem Vornamen Carlos drauf.
    Shanghai Shenhua soll dem Argentinier rund 40 Millionen Euro Jahresgehalt überweisen. Damit gilt Tevez als Spitzenverdiener in der chinesischen Super League. Argentinische Zeitungen schreiben bereits, dass er sich nach den ersten Wochen nicht wohl fühle und offenbar wieder nach Hause möchte. Aber der Club-Chef von Shanghai Shenhua, Wu Xiaohui, glaubt an Tevez: für den letztjährigen Tabellenvierten eine gute Investition für die neue Saison. "Wir hoffen, dass wir mit einem Stürmer wie Tevez in der kommenden Saison deutlich stärker auftreten. Wir zahlen einen hohen Preis, ja. Aber den höchsten Preis haben wir in den letzten drei Jahren für Demba Ba bezahlt. Das können sie alles nachlesen. Das Gehalt für Tevez ist in der Tat sehr hoch. Aber nicht so hoch wie öffentlich vermutet wird."
    Ausländische Fußballer werden finanziell geködert
    Aber nicht nur die beiden Klubs aus Shanghai haben aufgerüstet. Der belgische Nationalspieler Axel Witsel und der Brasilianer Alexandre Pato sind in die ostchinesische Hafenstadt Tianjin gewechselt. Der spanische Angreifer Jonathan Soriano von Red Bull Salzburg hat kurz vor Transferschluss beim Hauptstadtklub Peking Sinobo Guoan unterschrieben.
    Beim Training von Peking Guoan steht der ehemalige chinesische Nationalspieler Shao Jiayi in einem Trainingsanzug unauffällig an der Seitenlinie. Shao hat zwischen 2002 und 2011 in der Zweiten Bundesliga gespielt, für 1860 München, Energie Cottbus und den MSV Duisburg. Jetzt ist er Sportdirektor bei Peking Guoan. Und betont, dass sich sein Verein vergleichsweise bescheiden auf dem Transfermarkt betätigt hat. "Ich glaube nicht, dass wir mit absurden Summen für Superstars den Fußball in China verbessern. Das schafft zwar Aufmerksamkeit, aber erhöht nicht wirklich die Qualität unseres Fußballs. Aber: ausländische Spieler können uns generell schon helfen. Wenn sie wirklich gut sind, können sich unsere einheimischen Spieler an ihnen orientieren, sich etwas abgucken. Sie sehen dann, wie sich ein wirklicher Profi im Training und auch außerhalb des Platzes verhält. Das kann eine große Hilfe für unsere Spieler sein."
    Aus deutscher Sicht wäre Shao Jiayi fast ein Coup gelungen. Mitte Januar war Lukas Podolski dem Vernehmen nach nahe dran, einen Vertrag bei Peking Guoan zu unterschreiben. Podolski hat sich dann aber für einen Wechsel nach Japan entschieden, und somit spielt auch kommende Saison kein Deutscher in Chinas Hauptstadt. China hat unter Bundesliga-Profis kein besonders gutes Image. Die Vereine in Deutschland haben die Millionenangebote aus China reihenweise abgeblockt, ob für Sandro Wagner, Mario Gomez oder andere. In Peking bleibt Sportdirektor Shao also weiter der einzige, der bei der Aufnahme der Vereinshymne die Strophen auf Deutsch mitsingen kann.
    Pekings Sportdirektor Shao Jiayi ist Realist. Einer, der nicht den kurzfristigen Erfolg beschreit. Und der erkennt: noch ist der chinesische Fußball im internationalen Vergleich kaum konkurrenzfähig. Aber: auch Shao wurde durch den rasanten Aufstieg Chinas der vergangenen dreißig Jahre geprägt. Eine Entwicklung vom unterentwickelten Agrarland bis hin zur Industrienation mit der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Das prägt ein Land. Das prägt das Selbstverständnis der Menschen. Und weil junge Chinesen von heute mit dieser Erfahrung aufgewachsen sind, fragen viele: warum sollte ein Aufstieg in die Weltspitze nicht auch im Fußball möglich sein? Auch der ehemalige Bundesliga-Profi und chinesische Nationalspieler Shao. "Wir können uns diesen Traum definitiv erfüllen. Wir suchen gerade nach dem richtigen Weg. Und so lange wir das mit Nachdruck tun, werden wir ohne Zweifel den Tag erleben, an dem auch der Erfolg kommt. Aber Fußball ist anders als andere Sportarten, das braucht Zeit und Anstrengung. Wir sollten geduldig sein und unsere Arbeit an der Basis gut machen. Im Moment haben wir nicht mal ansatzweise genug Fußballspieler. In Deutschland sind mehr als sieben Millionen Fußballer registriert. Wir haben nur zehntausend Spieler, vielleicht ein paar mehr. Wir haben nicht einmal die Quantität. Und auch die Quantität entscheidet über die Qualität."
    China war noch nie Asien-Meister
    Egal, wie kämpferisch die chinesische Nationalhymne daher kommt – die Geschichte des chinesischen Fußballs ist vor allem eine Geschichte von Niederlagen. Einmal hat es China geschafft, bei einer Weltmeisterschaft dabei zu sein. Bei der WM 2002 in Südkorea und Japan. Nach drei Niederlagen und 0:9 Toren musste das Team als Gruppenletzter nach Hause fliegen. Eine Demütigung, die chinesische Fußballfans aber gewohnt sind. Bei den letzten drei Asienmeisterschaften war zweimal bereits in der Vorrunde Schluss. Als starker Mann Asiens war China noch nie Asien-Meister. Auch in der Qualifikation für die WM 2018 in Russland besteht kaum noch Hoffnung. Sogar gegen Syrien hat China verloren. Und der neue Nationaltrainer aus Italien, Marcello Lippi, hat bislang auch keine Wunder vollbracht. Wie also gelingt der Aufstieg Chinas zur globalen Fußballmacht? Die Debatte wird unter chinesischen Fußball-Experten lebhaft geführt.
    Jeden Donnerstag läuft im chinesischen Internetfernsehen Tencent qq die Fußball-Talk-Show Chao Ji Yan Lun. Was so viel heißt wie Super-Gespräch. Gastgeber ist Yan Qiang, ein bekannter chinesischer Sport-Journalist und Fußball-Kommentator.
    Moderator Yan Qiang hat viele Jahre aus London fürs chinesische Fernsehen über die Fußball-Ligen in Europa berichtet. Jetzt ist er zurück in Peking und hat seine eigene Fußball-Talk-Show. Thema heute: die Entwicklungen in der Chinesischen Super League. Die hohen Millionen-Ausgaben vieler Vereine für Ablösesummen und Gehälter ausländischer Stars. "Das ist kurzfristig gedacht eine tolle Sache. Es gibt der Liga einen riesigen Schub für die neue Saison. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die Chinesische Super League, national aber auch international. Aber langfristig und mittelfristig gesehen: ist das nachhaltig? Ich habe da meine Zweifel. Und ich habe nicht nur meine Zweifel, ich glaube schlicht nicht daran, dass das nachhaltig ist. Ich bin besorgt darüber, was hinter den verschiedenen Investitionen steckt."
    Neue Ausländerregel in der Super League
    Auch einigen Fußball-Funktionären in China ist die Entwicklung bereits ein Dorn im Auge. Der Chinesische Fußballverband hat Anfang des Jahres reagiert: in der Super League sollen künftig nur noch drei statt bislang fünf Ausländer pro Verein auf dem Platz stehen dürfen. Bei jedem Team sollen pro Spiel außerdem mindestens zwei chinesische U23-Spieler im Kader stehen. Die ersten Regeländerungen, die auch gegen hohe Ablösesummen und Gehälter für Spieler aus dem Ausland gerichtet ist. Aus dem Fußballverband kamen außerdem Stimmen, die hohen Spielergehälter durch Obergrenzen zu beschränken. Auch der chinesische Sportjournalist Yan Qiang sieht viele der Investitionen skeptisch. "Der Markt wird mit Geld und Investitionen überschwemmt, das ist besorgniserregend für China. Und diese Investitionen haben ganz unterschiedliche Gründe. Manchmal geht es für die Investoren darum, ihre Beziehungen zur chinesischen Regierung zu verbessern. Manche glauben und hoffen, damit dem Willen der politischen Führer zu folgen. Das ist ganz typisch für China. Zweitens geht es darum, den Fußball als Vermarktungsinstrument für die eigenen Produkte zu nutzen. Drittens könnte es in einigen Fällen auch darum gehen, mit dem Fußball Geld zu waschen."
    Geldwäsche und Kapitalflucht – beides große Probleme in China. Die Regierung geht immer härter dagegen vor. Chinesische Staatsmedien haben die großen Fußballklubs im Land wiederholt davor gewarnt, Geld zu verbrennen. Auch wenn Fußball in China als Staatsziel ausgegeben wurde, gibt es bis in die höchste Politik große Zweifel, ob die Kaufwut der Vereine dabei hilft, China zu einer Fußballmacht zu entwickeln. Die Herausforderungen liegen tiefer, sagt auch Sportjournalist Yan Qiang. "Riesige Blase, riesige Blase – das ist das, was ich momentan sehe. Natürlich sind Blasen ein Stück weit normal, wenn ein bestimmter Markt wirtschaftlich rasant wächst. Aber Fußball ist halt mehr als nur ein ökonomisches Phänomen. Fußball ist eine Art Kultur. Es braucht eine langfristige, strategische Entwicklung, vor allem an der Basis. Es braucht soziale Wurzeln. Und das ist das, was in China bislang nicht existiert. Und ich habe da auch nicht viel Entwicklung gesehen zuletzt."
    Bolzplätze sieht man in China nicht
    China hat ein grundlegendes Problem: der Fußball ist kulturell im Land nicht verwurzelt. Man sieht auf Chinas Straßen keine Kinder, die in ihrer Freizeit Fußball spielen. Es gibt auf den Dörfern und in den Städten keine Amateurvereine, keine Fußballplätze, keine Jugendligen. Derzeit gibt es geschätzte 10.000 aktive Fußballer in China. Geht es nach der chinesischen Führung, soll diese Zahl explodieren. Langfristig sollen 50 Millionen Fußballer in den neuen Amateurligen spielen. Obwohl der Fußball-Plan der chinesischen Regierung viele gute Details enthält, glaubt der Fußball-Experte Rowan Simons aus Peking nicht daran, dass sich China den Traum vom WM-Titel eines Tages erfüllt. "China wird nie Weltmeister werden, jedenfalls nicht so lange ich lebe. Es gibt so viele Länder auf der Welt, die seit über 100 Jahren passionierte Fußball-Nationen sind, und trotzdem noch nie einen WM-Titel gewonnen haben. Wir müssen nur nach Holland gucken. Oder nach Russland. Es gibt viele mit einer großen Fußball-Kultur, die noch nicht Weltmeister waren."
    Bei der Entwicklung des Fußballs in China sollen auch ausländische Trainer helfen. Luiz Felipe Scolari trainert den Serienmeister Guangzhou Evergrande, Fabio Cannavaro arbeitet als Trainer bei Tianjin, Felix Magath ist Trainer von Shandong Luneng. Und der Wissenstransfer findet nicht nur auf der Profiebene statt. Marco Pazzaiuoli, ehemaliger Trainer der TSG Hoffenheim, ist Ausbildungsleiter bei Guangzhou Evergrande. Dem Verein, dem die größte Fußball-Schule der Welt in Qingyuan gehört.
    An der Evergrande Fußball-Akademie gibt es für 2500 Kinder über 160 Fußball-Trainer. Mehr als 20 davon kommen aus dem Ausland. Die meisten aus Spanien, von der Real Madrid Stiftung. Jose Artieda ist einer von ihnen. Er ist der Trainer des zwölfjährigen Fußballschülers Zhang Le und leitet heute das Vormittagstraining. "Es gibt drei, vier herausragende Spieler hier. Zhang Le ist ein sehr guter Spieler. Aber er ist erst zwölf Jahre alt, wir müssen abwarten. Wenn unsere Jungs 15, 16 sind, können wir besser einschätzen, wo es mal hingehen könnte. Ob es reicht zum Profi in China oder in Europa. Um das Alter herum wissen wir mehr."
    Jose Artieda ist 41 Jahre alt und kommt aus Pamplona in Nordspanien. Vor drei Jahren kam er an die Evergrande Fußball-Akademie nach China, um hier als Fußballlehrer zu arbeiten. Die Trainer sollen ihre Methoden, Ideen und Vorstellungen aus Spanien mitbringen und auf dem Fußballplatz in China umsetzen – so der ausdrückliche Wunsch chinesischer Seite. Aufgrund der anderen Lernkultur sei das nicht immer ganz einfach, sagt Artieda. "Die größten Unterschiede liegen in Taktik und Methode. Die Schüler in China lernen anders. Und nicht nur im Fußball, überall. Es ist mehr Konkurrenz, mehr Kontrolle, mehr Lernen durch stures Wiederholen. Das ist tief verwurzelt in der chinesischen Kultur. Aber das ist keine gute Sache, wenn man Fußball spielen will. Beim Fußball geht es um Freiheit, Kreativität und Technik. Es geht nicht darum, stur zu passen und zu gucken, was der Trainer sagt. Wir wollen über den Spaß und das Spiel kommen. Wir versuchen jeden Tag, die Kreativität der Kinder zu erhöhen. Sie sollen selbst denken und entscheiden und nicht stur irgendwelchen Anweisungen folgen. Selbst denken und Spaß haben."
    Zhang Le (12) gilt als großes Talent
    Es sind die kleinen Fußballer wie Zhang Le, die Chinas politische Führung im Blick hat. Bei der WM 2030 wäre Zhang Le 25 Jahre alt, ein gutes Fußballer-Alter. Die zwei Weltmeisterschaften, an die er sich erinnern kann, haben ohne sein Land China stattgefunden. Geguckt hat er die Spiele trotzdem. "Ich mag die deutsche Nationalmannschaft am liebsten. Ihre Taktik ist vergleichbar mit dem, was wir hier an der Evergrande-Akademie lernen. Außerdem mag ich viele der deutschen Spieler."
    Der 12-jährige Zhang Le gilt als einer, der es mal in den Profibereich schaffen könnte. Für den spanischen Trainer Artieda ist trotzdem klar: der Weg für Zhang Le und für Chinas Fußball insgesamt ist noch sehr weit. "Das Problem ist, dass wir nicht 2000 Spieler von der Sorte Zhang Le haben. Wir haben drei oder vier davon. Es gibt hier längst nicht so viele hochtalentierte Spieler wie in Spanien. Wenn wir im Jahrgang von Zhang Le insgesamt 25 ordentliche Spieler haben, gibt es in Deutschland, England oder Spanien tausende vom gleichen Niveau. Also müssen wir auch auf Quantität achten. Wir müssen in China deutlich mehr Fußball-Spieler entwickeln."
    Die Ziele sind trotzdem groß. Nach Trainingsende sitzt Zhang Le zufrieden auf der Bank am Spielfeldrand. "Ich möchte Fußball-Nationalspieler werden und für China bei einer Weltmeisterschaft spielen. Und dann auch den WM-Titel gewinnen."
    Am Mittag geht es für Zhang Le und seine Klassenkameraden zum Essen in die Mensa. An den Wänden hängen riesige Poster des Meisters Guangzhou Evergrande. Alles passt zum Thema Fußball. An der Fußball-Akademie sind Schüler aus insgesamt 31 chinesischen Provinzen, dazu auch ein paar Ausländer. Viele leben hier ihren Kinder-Fußballtraum. Zhang Le möchte jedenfalls bis zum Schulabschluss bleiben. Er fühlt sich wohl. "Am besten ist das Schülerhaus. Dort gibt es Billard, Computer, Tischtennis und andere Spiele. Wenn wir nach unseren Spielen am Samstag nicht nach Hause zu unseren Eltern fahren, treffen wir uns dort alle."
    Traumfabrik des chinesischen Fußballs
    Die Evergrande Fußball-Akademie war schon da, als Präsident Xi Jinping noch gar nicht im Amt war. Aber seitdem der Fußball in China Staatssport und Staatsziel ist, passt die Schule perfekt in die politische Landschaft: als Traumfabrik des chinesischen Fußballs. Schulleiter Liu Jiangnan wird beim Thema Zukunft des chinesischen Fußballs schnell pathetisch. "China ist eine große Nation. China kann alles erreichen, die Partei kann alles erreichen. Aber es braucht Zeit. Wenn wir weiter hart arbeiten, ist China schon bald bei einer Weltmeisterschaft dabei. Wir werden nicht gleich den Titel gewinnen, aber zumindest qualifizieren sollten wir uns. England, Deutschland, Spanien – die sind heute so gut im Fußball, weil dort seit über 100 Jahren hart gearbeitet wird. Wir sind noch in den Startlöchern. Aber als Direktor dieser Schule bin ich zuversichtlich. Wir werden unseren Weg beharrlich weiter gehen. Dann habe ich keine Zweifel, dass wir schon bald bei einer WM dabei sind."
    China hat für die angepeilte Erfolgsgeschichte im Fußball einen genauen Zeitplan aufgestellt. Bis 2030 möchte die Volksrepublik in Asien die dominante Fußballmacht sein. 2030 oder 2034 soll die Weltmeisterschaft möglichst schon mal in China stattfinden. Bis 2050 soll der WM-Titel her. China hat mit groß angelegten Plänen schon viel erreicht – und ist mindestens genauso oft krachend gescheitert. Aber so lange Xi Jinping Staats- und Parteichef ist, bleibt der Fußball ein Teil des chinesischen Traums.
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